Raum in der kunst

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Inhalt

Sammeln ist Unvernunft Hans F. Bellstedt — Seite 6

Raumkunst / Kunstraum Stefan Rasche — Seite 9

Die Sammlung Französische Straße — Seite 23

Künstler- und Autorenverzeichnis — Seite 62

Bildnachweis — Seite 64


Sammeln ist Unvernunft Hans F. Bellstedt —

Kunst zu sammeln, hat nichts mit Vernunft zu tun. Wer Kunst sammelt, der folgt seiner Eingebung, seiner Leidenschaft, der Freude an Farbe und Form. Oft entstehen Kunstkäufe aus einer puren Laune, einem spontanen Impuls heraus: Man schlendert durch die Galerien, zieht an ungezählten Arbeiten entschlusslos vorüber und tritt fast schon den Heimweg an – da meldet sich, auf der letzten Station, plötzlich und unaufdringlich ein Werk zu Wort und fordert den Suchenden zum Innehalten auf. Ein vorsichtiges Sich-Annähern, ein kritisch-prüfender Blick – und plötzlich entsteht etwas: ein Dialog, eine Phantasie, ein stilles Einvernehmen. Alsdann tritt der Galerist hinzu, beantwor­tet Fragen, hellt Hintergründe auf und erläutert künstlerische Intentionen. So wird der Boden bereitet für das Ja oder Nein des Flaneurs. Etwas verwegener, das muss man sagen, geht es auf Auktionen zu. Auktionen sind eine Ausgeburt der Unvernunft: Da kocht zuweilen der Saal. Wer ihn – wie einst Steve McQueen in »The Thomas Crown Affair«1 - betritt, der läuft Gefahr, sich mit- und hinreißen zu lassen und dabei, im Duell mit einem Saalnachbarn oder einem »unbekannten Telefonbieter«, sein Budget hoffnungslos zu überziehen. »Zum Ersten, zum Zweiten …« – der unvorhersehbare Verlauf einer Versteigerung, ihr schwer wider­stehlicher Magnetismus bergen jedes Potential, um Nerven, Ruf und Geldbeutel des Bieters gleichermaßen zu ruinieren. Bei der Aneignung von Kunst sind immer Emotionen im Spiel. Die Kunst ist eine, ja die Gegenwelt zum geordneten, zum bürgerlichen Leben. Bestimmen Pflichtbewußtsein und »Gewerbefleiß« das letztere, so vertritt die Kunst das Freie, das Freche, das Anarchische auch. Im Beruf geht es zumeist gesittet, kontrolliert und berechenbar zu – die Kunst hingegen ist unorthodox, ausschweifend und wild. Alfred Flechtheim, der große, am Ende seiner Tage tragisch verarmte Galerist und Sammler, hat es treffend gesagt: »Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst«.2 Und doch schleicht sich auch in den Wahnsinn – hier verstanden als ein Sammeln ohne Maß und Ordnung – eines Tages ein System ein. Ein Leitmotiv tritt zutage, welches aus einer Ansammlung allmählich eine Sammlung werden lässt. Diesen mitunter verblüffenden Prozess haben wir, zunächst unmerklich, dann mit wachsendem Bewusst­sein, in unseren Büroräumen in der Französischen Straße in Berlin-Mitte erlebt: Ob Walter Bertelsmann, Sohn eines Bremer Tabakkaufmanns, oder Jan Ros aus Holland, ob Rik de Boe, Susa Templin oder Regina Poly – sie alle setzen sich in der einen oder anderen Form mit dem Thema »Raum« auseinander. Der Raum bildet die Klammer, mittels derer sich die Arbeiten bei aller Unterschiedlichkeit zusammenfassen lassen. Auch Henning Bocks Fotografien der Jahrhundertbauten Oscar Niemeyers, Martin Brügers spielerische Verfremdung eines Frankfurter Museumsflügels oder Walter Reuss’ Schwarz-Weiß-Aufnahme der legendären Kant-Garage sind genau das: künstlerische Variationen auf den Topos »Raum«, der aus diversen Blickwinkeln beleuchtet wird. In der Addition der einzelnen Titel präsentiert sich somit ein kleines, eigenständiges Ensemble, dem bei aller Einbettung in einen Bürokontext etwas sehr Privates, ja Intimes 6


anhaftet. Dies darf durchaus als Statement verstanden werden: Der heutige globale Kunstbetrieb hat Züge des Gigantomanischen angenommen. Immer neue Rekordwerte auf Auktionen, allmächtige Galeristen mit Hangar-großen Standorten in aller Welt und eine zunehmend industrialisierte Werkproduktion beherrschen die Szenerie. Die reine Schönheit der Kunst weicht dem vulgären Lärm des Geschäfts. Kritische Geister wissen dies mit wohlgeformten Worten zu beklagen – und verzweifeln doch zuneh­mend an­gesichts all der Selbstvermarkter, Magnaten und Agenten, die – ganz wie in Alan Hollinghursts gnadenlos entlarvendem Roman »The Line of Beauty«3 – nichts anderes zu suchen scheinen als den Pop, den Schampus, das spiegelnde Parkett. Auf der Strecke bleiben einstweilen: der Stil, die Gediegenheit, die Kunst als zweck­ freies Gut. Die Sammlung Französische Straße kommt gar nicht in die Verlegenheit, im Glitzer­glanz der Messen bestehen, dem globalen Kunsttroß hinterher hecheln zu müssen. In einem Meer der Vanitas sind unsere Bilder vielmehr eine Insel, ein Ruhepol, eine ur­bane Miniatur. Und gerade darin, in der dezidiert unaufgeregten Beschäftigung mit Kunst, lässt sich, Harald Falckenberg zufolge, »ein Stück Freiheit und Unabhängigkeit ge­winnen«.4 In letzter Instanz erweist Kunst sich somit als eine spezifische Erscheinung des Glücks. Der Band »Der Raum in der Kunst« entstand als Gemeinschaftswerk. Stefan Rasche als begleitender und beratender Galerist hat mit profunder Sachkenntnis und spür­barer Liebe zu den einzelnen Werken einen geschliffenen Text geschrieben. Balthasar Haußmann begleitete die Entstehung des Bandes mit verlegerischer Erfahrung, Kunstsinn und feinem sprachlichen Gespür. Jenny Baese (grafische Gestaltung, Pro­duk­tions­begleitung) und Julia Jungfer (Fotografie) trugen mit ausgewiesenem hand­werk­lichen Können, höchster Präzision und klugem Rat dazu bei, dass aus einer spontanen Eingebung ein ästhetisches Kleinod werden konnte. Allen Genannten sei für ihre wertvolle Arbeit, ihre Inspiration und Begeisterungsfähigkeit von Herzen gedankt. Berlin, im Dezember 2014

1 Gleichnamiger Film aus dem Jahr 1968, Regie: Norman Jewison, mit Steve McQueen und Faye Dunaway in den Hauptrollen. 2 Vgl. die gleichnamige Biografie über Alfred Flechtheim von Ottfried Dascher, erschienen 2011 bei Nimbus Kunst und Bücher. 3 Erschienen 2004 bei Picador und im selben Jahr ausgezeichnet mit dem Booker Prize. 4 Der Unternehmer und Sammler H. Falckenberg im Interview mit dem Handelsblatt, 12.9.2014.

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Henning Bock

Plastische Architekturen — In den Hauptstädten dieser Welt, in Paris, Rom, Tokio, Shanghai oder New York, ent­­stehen die Fotografien von Henning Bock. Typisch für seine Aufnahmen ist der er­höhte Blick auf den urbanen Raum, der sich – oftmals bei Nacht – dem Betrachter in seiner charakteristischen Struktur offenbart. Aber auch Ikonen moderner Architektur gehören zu seinen Bildsujets, darunter eine kleine Serie von Bauwerken Oscar Niemeyers, aus der sich zwei Motive in der Sammlung befinden. Das erste stammt aus Brasilia, das unter den Metropolen insofern eine besondere Stellung einnimmt, als es fernab der Zivilisation, im Binnenland Brasiliens errichtet wurde. In nur wenigen Jahren, von 1956 bis 1962, wuchs hier die neue Planhauptstadt, für die Niemeyer als Leiter des staatlichen Bauamtes alle öffentlichen Gebäude schuf. Neben Kathedrale und Universität zählt dazu der Platz der drei Gewalten mit dem Obersten Gerichts­hof, dem Präsidentenpalast sowie dem berühmten, im Bild gezeigten Kongressgebäude, dem Congresso Nacional. Die Basis des monumentalen Komplexes bildet ein flacher Sockelbau, über dem sich mittig zwei Scheibenhochhäuser erheben. Zu deren Seiten befinden sich zwei Kuppelbauten von konkaver bzw. konvexer Form, in denen die Kammern des Senats und des Abgeordnetenhauses untergebracht sind. Der von Bock gewählte Ausschnitt zeigt im Zentrum die konkave der beiden Kuppeln, links von den Bürotürmen und rechts von einem Fahnenmast gesäumt. Dadurch ergeben die verschiedenen geometrischen Bauelemente – im Wechsel vertikaler und horizontaler Erstreckung – eine ebenso klare wie spannungsreiche Bildkomposition. Nochmals gesteigert wird die kühne, eminent plastische Formensprache der Architektur durch die mächtigen Wolkenberge, die sich hinter dem Ensemble auftürmen. 30


Henning Bock »Congresso Nacional«, 2007 Farbfotografie hinter Acrylglas, 79,5 x 101 cm 31


Regina Poly

Mit der Schere Räume bauen — Mit ihrer »Air France« betitelten Papierarbeit beschreibt auch Regina Poly ein Laden­ lokal im architektonischen Stil der 1960er Jahre, bestimmt von großen Schaufensterfronten und der typischen Feinzeichnung des Rahmenwerks. Doch statt eines Leerstandes zeigt sie uns eine Niederlassung der gleichnamigen Fluggesellschaft (übrigens wiederum in Brasilia), zu erkennen am Schriftzug über der langgestreckten, schräg ins Bild verlaufenden Ladenzeile, durch deren Scheiben der Blick in den Empfangsraum fällt. Der Kontrast zu Haakes baufälliger Mall könnte dabei kaum größer sein, zumal das Büro-Interieur ein hohes Maß an zeitgenössischer Eleganz ausstrahlt. Geprägt wird diese mondäne Ausstattung von einem raumbeherrschenden Schreibtisch, zwei Cocktailsesseln sowie dem silbernen Wandrelief einer Weltkarte, auf der die Flugrouten der Airline eingezeichnet sind. Und auch für die künstlerische Umsetzung wählte Regina Poly einen ganz anderen Weg. So hat sie das Motiv in einen Scherenschnitt aus mehreren Lagen verschiedenfarbiger Papiere übersetzt, woraus im Schichtverfahren eine prägnante, auf charakteristische Details reduzierte Raumsituation entstanden ist. Hierbei ging es ihr wesentlich um die Staffelung und Durchdringung von Innen- und Außenraum – ein Thema, für das Regina Poly, sie starb im Juli 2014, vor allem die Schere als Instrument der Raumzeichnung genutzt hat. Parallel zu ihrer Tätigkeit als (Landschafts-)Architektin schuf sie aus diesem Interesse ein künstlerisches Werk, das gerade nicht auf computerbasierter Animation, sondern auf der manuell vollzogenen Darstellung gebauter Räume beruht. 44


Regina Poly »Air France«, 2013 Scherenschnitt aus farbigen Papieren, 24 x 35 cm 45


Künstler

Walter Bertelsmann — geboren 1877 in Bremen Schüler von Hans am Ende tätig als Landschaftsmaler in der Künstlerkolonie Worpswede gestorben 1963 in Worpswede

Peter Doig — geboren 1959 in Edinburgh, Schottland Kunststudium in London Professor an der Kunstakademie Düsseldorf lebt und arbeitet in Port of Spain, Trinidad

Henning Bock — geboren 1965 in Hattingen Studium an der FH Dortmund und der School of Visual Arts New York lebt und arbeitet in Hamburg

Christian Haake — geboren 1969 in Bremerhaven Studium an der Hochschule für Künste Bremen lebt und arbeitet in Bremen

Rik de Boe — geboren 1964 in Ninove, Belgien Studium an der Königlichen Akademie der Schönen Künste Gent lebt und arbeitet in Ninove, Belgien

Ralph Merschmann — geboren 1963 in Lippstadt Studium an der Kunstakademie Münster lebt und arbeitet in Köln

Martin Brüger — geboren 1965 in Amorbach, Odenwald Studium an der Kunsthochschule Kassel lebt und arbeitet in Darmstadt

Regina Poly — geboren 1942 in Zagreb, Kroatien tätig als (Landschafts-)Architektin und Künstlerin gestorben 2014 in Berlin

Wolfgang Reuss — geboren 1943 in Berlin tätig als Architekturfotograf lebt und arbeitet in Berlin

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Autoren

Jan Ros — geboren 1961 in Winterswijk, Niederlande Studium an der Akademie für Bildende Künste Rotterdam und der Rietveld Akademie Amsterdam lebt und arbeitet in Amersfoort, Niederlande

Walther Schwiete — geboren 1956 in Paderborn Studium an der Kunstakademie Münster lebt und arbeitet in Berlin und Paderborn

Susa Templin — geboren 1965 in Hamburg Studium an der Universität der Künste Berlin und der Städelschule Frankfurt lebt und arbeitet in Berlin und Frankfurt

Matthias Weischer — geboren 1973 in Elte, Westfalen Studium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig lebt und arbeitet in Leipzig

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Hans F. Bellstedt — geboren 1963 in Lübeck, aufgewachsen in Bremen Studium der Neueren Geschichte, Volkswirtschaft und Politikwissenschaft mit anschließender Promotion lebt und arbeitet als Kommunikations­ unternehmer in Berlin

Stefan Rasche — geboren 1967 in Hagen Studium der Kunstgeschichte mit anschließender Promotion 1990 Gründung einer Galerie in Münster 2008 Umzug nach Berlin und Fortsetzung der Galerietätigkeit mit Karin Ripken (Galerie Rasche Ripken)


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