1 minute read

Illusion als Versprechen –

Die unerwartete Überzeugungskraft des frühen 3D-Spiels

Jacob Birken

Advertisement

Einen „Stupid AI art trick“ nennt der Videospieledesigner Colin Williamson eine Reihe digitaler Doppelporträts, die er im Oktober 2022 auf Twitter veröffentlicht – jeweils zweimal ist hier die gleiche Figur aus dem Spiel „Virtua Fighter“ von 1993 zu sehen, links als kantiges 3D-Modell aus dem Spiel selbst und rechts als fotorealistische Interpretation durch die aktuelle Software Stable Diffusion (Abb. A). Die Bilderzeugungssoftware scheint aus der antiquiert wirkenden, abstrahierten Grafik des Arcade-Games herauszuarbeiten, wie die Figuren wirklich oder zumindest wirklicher hätten aussehen können – Williamsons Tweet-Serie ist damit in der Tat eher eine Spielerei mit teils skurrilen Ergebnissen, doch sie sagt viel über historische und aktuelle Ansprüche an Computergrafik aus und darüber, wie diese Ansprüche zwischen wahrnehmungspsychologischen Phänomenen, technologischen Entwicklungen und ästhetischen Konventionen entstehen.

Dreißig Jahre nach der Veröffentlichung von „Virtua Fighter“ ist die Spielindustrie durchaus in der Lage, fotorealistische Bilder auf PC-Monitore oder den 4K-Fernseher zu bringen. „Realismus“ bleibt dabei ein beliebtes Verkaufsversprechen – „unglaublich detaillierte virtuelle Welten wie nie zuvor“ soll beispielsweise die aktuelle Grafikkarte der US-Firma NVIDIA bieten, während die PlayStation 5 von Sony „neue Maßstäbe in Sachen Realismus“ setzt.02 Obwohl der Fortschritt hier letztlich in der höheren Leistungsfähigkeit und Spezialisierung der Hardware besteht, ist er an den von ihr hergestellten Bildern ohne Weiteres nachzuvollziehen: Die menschlichen Figuren in „Virtua Fighter“ von 1993 sind noch auf den ersten Blick als digitale Modelle zu erkennen, ihre Körper

01 <https://twitter.com/ColinWilliamson/status/1576760990607155200>.

02 <https://www.nvidia.com/de-de/geforce/grapics-cards/40-series/>; <https://www.playstation.com/dede/ps5/>, 26.10.2022.

Abb. A: AI-Experiment. Midjourney 1. Prompt: Duerer style artificial intelligences discovering the new world.

Mit Anbruch der westlichen Neuzeit erfasste Aufklärung – „der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ (Kant) bzw. „fortschreitende technische Naturbeherrschung“ (Horkheimer/Adorno) – auch die Zukunft. An die Stelle ihrer historischen Evolution trat zunehmend ihr künstlerischer, intellektueller und schließlich wissenschaftsbasierter Entwurf. In einer stetig wachsenden Anzahl von Medien – Romanen, Sachbüchern und akademischen Publikationen, Presseartikeln und Comics, Dokumentar- und Spielfilmen, Radio und Fernsehserien – präkonfigurierten säkulare Utopien (und Dystopien) „The Shape of Things to Come“ (H. G. Wells). Mit der Digitalisierung erweitern sich erneut die Möglichkeiten für das Design und die Herstellung von Zukünften im Spannungsfeld zwischen Fantasie und Futurologie, Antizipation und Iteration. Denn im prozeduralen Repräsentationsmodus digitaler Spiele können Systeme – also auch Zukünfte – nicht nur wie in der Literatur beschrieben oder wie in Film und Fernsehen audiovisuell dargestellt, sondern in ihrem Funktionieren dynamisch-interaktiv erfahrbar werden.

This article is from: