17 Gebäude und Bauensembles, geschaffen von Le Corbusier in sieben Ländern auf drei Kontinenten, wurden 2016 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Ein Bildteil stellt die Bauwerke detailliert vor und begründet deren Aufnahme in das Welterbe. Im Textteil kommentieren Expertinnen und Experten aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz den Prozess der transnationalen Bewerbung und erörtern Aufgaben der Denkmalpflege, vor allem für das Erbe des 20. Jahrhunderts. Ein Schwerpunkt des Buches gilt Stuttgart und der Weissenhofsiedlung. Mit Beiträgen von Bernhard Furrer, Bénédicte Gandini, Friedemann Gschwind, Andreas Hofer, Oliver Martin, Herbert Medek, Olivier Poisson, Michel Richard, Birgitta Ringbeck, Kerstin Wittmann-Englert, Anke Zalivako
Le Corbusier
Herausgegeben von Friedemann Gschwind
Sein internationales Werk im Welterbe der UNESCO
LC Buchumschlag.qxp_Layout 1 12.08.19 15:55 Seite 1
STU GART
Le Corbusier Sein internationales Werk im Welterbe der UNESCO
Inhalt Friedemann Gschwind
Einführung ................................................................................................................................................................................. Grußwort der Landeshauptstadt Stuttgart ..................................................................................................................
Fritz Kuhn Philip Kurz
Grußwort der Wüstenrot Stiftung ...................................................................................................................................
Überblick
Le Corbusier im Welterbe .....................................................................................................................................................
Friedemann Gschwind Olivier Poisson Bernhard Furrer Kerstin Wittmann-Englert
5 6 7
8 Le Corbusier in Stuttgart – Der lange Weg zum Welterbe .................................................................................... 10 Das architektonische Werk von Le Corbusier Eine französische Initiative zur Einschreibung in die Welterbeliste der UNESCO ........................................ 19 Weltkulturerbe – woher? wohin? Überlegungen im Hinblick auf das Fünfzigjahrjubiläum der Welterbekonvention ..................................... 27 Zeugnis und Erlebnis Vom Nutzen der Denkmale und von den Herausforderungen für die Denkmalpflege .............................. 36
Andreas Hofer Herbert Medek
Der Weissenhof: Monument und Zukunftsentwurf ................................................................................................. 44 Die Weissenhofsiedlung als länderübergreifender Impuls ..................................................................................... 49
Bénédicte Gandini, Michel Richard
Das Erbe von Le Corbusier bewahren Die Fondation Le Corbusier und die Einschreibung in die Welterbeliste ......................................................... 54
Oliver Martin Birgitta Ringbeck
Vom Seriellen und Transnationalen ................................................................................................................................ 60 Das Herz der Welterbekonvention: Multilaterale Zusammenarbeit, gegenseitige Unterstützung und internationale serielle Nominierungen ...................................................... 64 Le Corbusiers Zentrosojus in Moskau Wunschkandidat für eine Erweiterung der Welterbestätte .................................................................................. 67
Anke Zalivako
17 x Le Corbusier im Weltkulturerbe der UNESCO ......................................................................................................................................................... 70 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17
Häuser La Roche und Jeanneret, Frankreich, Paris, 1923 ....................................................................................... 72 Kleine Villa am Genfer See, Schweiz, Corseaux, 1923 ............................................................................................. 76 Siedlung Frugès, Frankreich, Pessac, 1924 .................................................................................................................... 80 Haus Guiette, Belgien, Antwerpen, 1926 ...................................................................................................................... 84 Häuser in der Weissenhofsiedlung, Deutschland, Stuttgart, 1927 .................................................................... 88 Villa Savoye und Gärtnerhaus, Frankreich, Poissy, 1928 ......................................................................................... 92 Wohngebäude Clarté, Schweiz, Genf, 1930 ................................................................................................................. 96 Mietshaus an der Porte Molitor, Frankreich, Boulogne-Billancourt, 1931 ...................................................... 100 Unité d’habitation, Frankreich, Marseille, 1945 ......................................................................................................... 104 Fabrik in Saint-Dié, Frankreich, Saint-Dié-des-Vosges, 1946 ............................................................................... 108 Haus Doktor Curutchet, Argentinien, La Plata, 1949 ............................................................................................... 112 Kapelle Notre-Dame du Haut, Frankreich, Ronchamp, 1950 ................................................................................ 116 Cabanon von Le Corbusier, Frankreich, Roquebrune–Cap-Martin, 1951 ......................................................... 120 Kapitol in Chandigarh, Indien, Chandigarh, 1952 ..................................................................................................... 124 Kloster Sainte-Marie de La Tourette, Frankreich, Éveux, 1953 ............................................................................. 128 Nationalmuseum für westliche Kunst, Japan, Tokio, 1955 .................................................................................... 132 Haus der Kultur in Firminy, Frankreich, Firminy, 1955 ............................................................................................. 136 Autorinnen und Autoren ..................................................................................................................................................... 140 Chronik, Dank, Impressum ................................................................................................................................................... 142 3
Überblick Argentinien
Belgien
Antwerpen, 1926 Haus Guiette
Frankreich
Paris, 1923 Häuser La Roche, Jeanneret
Pessac, 1924 Siedlung Frugès
Poissy, 1928 Villa Savoye und Gärtnerhaus
Boulogne-Billancourt, 1931 Mietshaus an der Porte Molitor
Marseille, 1945 Unité d’habitation
Saint-Dié-des-Vosges, 1946 Fabrik in Saint-Dié
Ronchamp, 1950, Kapelle Notre-Dame-du-Haut
Roquebrune-Cap-Martin, 1951 Der Cabanon von Le Corbusier
Éveux 1953, Kloster Sainte-Marie de La Tourette
Firminy, 1953 Haus der Kultur
La Plata, 1949 Haus Doktor Curutchet
8
Le Corbusier im Welterbe Deutschland
Stuttgart, 1927 Häuser in der Weissenhofsiedlung
Schweiz
Indien
Corseaux, 1923 Kleine Villa am Genfer See
Japan
Tokio, 1955 Nationalmuseum für westliche Kunst
Genf, 1930 Wohngebäude Clarté
Chandigarh, 1952 Regierungskomplex Kapitol
9
Trotz der inhaltlichen Neuausrichtung des Antrags blieb ICOMOS bei seiner grundsätzlich ablehnenden Haltung. Doch verband das Komitee seine Entscheidung nun mit einem klaren Arbeitsauftrag: Das Komitee „verweist den Antrag zur Einschreibung in die Welterbeliste des architektonischen Werks von Le Corbusier – ein herausragender Beitrag zur Moderne […] zurück, um es den Vertragsstaaten zu ermöglichen, auf die gegenüber diesem Antrag erhobenen Einwände zu antworten und insbesondere durch einen konstruktiven Dialog mit dem Welterbezentrum in Verbindung mit den beratenden Gremien eine gemeinsame Auffassung über den außergewöhnlichen universellen Wert der Stätte zu erarbeiten“.37 Damit gelang es, die vor allem zwischen Frankreich und ICOMOS entstandene Konfrontation in einen kooperativen Diskurs überzuleiten.
Die Aufgabe bestand darin, den Beitrag Le Corbusiers für die Architektur des 20. Jahrhunderts zu „operationalisieren“, ihn „messbar“ zu machen und damit die Auswahl derjenigen Bauwerke zu begründen, welche diesen Beitrag am klarsten zum Ausdruck bringen. Den Ausgangspunkt der Begründung bilden gesellschaftliche und fachliche Herausforderungen, denen sich die Architektur des frühen 20. Jahrhunderts angesichts von Industrialisierung, Verstädterung und technologischer Entwicklung zu stellen hatte. Als Kern der Argumentation im Antrag wurden folgende Anforderungen an die moderne Architektur herausgestellt. Sie soll n einen hochrangigen Diskurs der Ideen auf internationaler Ebene anregen, n
eine neue Architektursprache erfinden,
n
die architektonischen Techniken modernisieren,
n individuelle und soziale Bedürfnisse des modernen Menschen erfüllen.
Diese bereits in der zweiten Antragsversion im Ansatz enthaltene Überlegung entwickelte sich im engen Dialog mit ICOMOS ab 2012 zu einer systematisch aufgebauten Methodik. Jedes der zur Auswahl stehenden Gebäude wurde dahingehend bewertet, welche architektonischen und technischen Mittel Le Corbusier zur Lösung der genannten Aufgaben einsetzt. Dazu zählen die von ihm entwickelten Gebäudetypologien wie der Citrohan-Typ, seine innovativen Raumkonzepte, die „Fünf Punkte zu einer neuen Architektur“, neue Techniken zur Vorfabrikation und Standardisierung sowie Konzepte zur Wohnungsversorgung, von der minimalistischen Wohnzelle bis zu Großwohnanlagen, innerhalb der städtebaulichen Leitlinien der „Charta von Athen“. Daraus ergeben sich „Wertattribute“, die es ermöglichen, eindeutig zu definieren, welchen Beitrag jedes einzelne Element der Serie für den Outstanding Universal Value, den außergewöhnlichen universellen Wert liefert, der die Gesamtheit der 17 Bauten und Bauensembles von Le Corbusier im Welterbe auszeichnet. Le Corbusier und Ludwig Mies van der Rohe auf dem Baugelände der Weissenhofsiedlung am 26. November 1927. Hinter Mies van der Rohe verdeckt: der Architekt Mart Stam. 2068 Nachlass Mia Seeger FM 8/84
18
37
Entscheidung 35 COM 8B. 40. whc.unesco.org/en/decisions/4311
Olivier Poisson
Das architektonische Werk von Le Corbusier Eine französische Initiative zur Einschreibung in die Welterbeliste der UNESCO Was genau ist das Welterbe? Auf welcher Grundlage und mit welchen Methoden wurde es definiert? Auch wenn es heute weithin bekannt sein dürfte, erscheint doch ein kurzer Überblick über seine Entwicklung nötig, bevor das Vorgehen beim Werk von Le Corbusier eingeordnet werden kann. Das Grundprinzip der 1972 verabschiedeten Welterbekonvention liegt in der Verpflichtung der Signatarstaaten gegenüber der Weltgemeinschaft, die auf ihrem jeweiligen Territorium liegenden Kulturgüter von internationaler Bedeutung im Namen der gesamten Menschheit zu bewahren.1
Die Entwicklung der Welterbeliste Im Lauf der Zeit ist die Welterbeliste sehr umfangreich geworden und zeugt damit vom Erfolg der Welterbekonvention, die seit 1972 von nahezu allen Staaten der Welt ratifiziert wurde.2 Sie sichert den in die Liste eingeschriebenen Gütern eine außergewöhnliche Aufmerksamkeit und macht jedes einzelne Gut zum Bestandteil der universellen Kultur. In diesem Zusammenhang erscheint es interessant, die bisherigen Antworten zu betrachten, die auf die eingangs gestellte Frage gegeben wurden: Was genau ist das Welterbe? Wie rechtfertigt man es, Güter auf diese Liste zu setzen? Bei genauerer Betrachtung scheint sich seit den ersten Einschreibungen 1978 der Begriff des Welterbes erheblich gewandelt, genauer: weiterentwickelt zu haben. Wenig überraschend bestanden die ersten Antworten darin, solche Güter auf die Liste zu setzen, die man als „neue Weltwunder“ bezeichnen könnte. Denn wenn man die Welterbeliste als eine Sammlung des großen Erbes der Menschheit versteht, klingen auch all die Orte mit, die seit langem im Fokus des internationalen Tourismus stehen, wie etwa das Taj Mahal, der Machu Picchu, der Schiefe Turm von Pisa oder die Freiheitsstatue.
Das erinnert in gewisser Weise an die „sieben Weltwunder“ der antiken Mittelmeerwelt, über die einst die griechischen Schriftsteller berichteten und die in der westlichen literarischen Tradition erhalten blieben. Von solchen Vorstellungen ließ sich auch Frankreich bei den ersten Einschreibungen 1979 und den zweiten im Jahr 1981 leiten. In beiden Fällen handelte es sich um Denkmale, welche das künstlerische und historische Bild Frankreichs zum Ausdruck brachten und möglicherweise ein Stereotyp bedienten, so naheliegend und bekannt wie sie waren.3 Man kann dieses Vorgehen leicht nachvollziehen, war es doch in allen Ländern der Welt mehr oder weniger das gleiche, teils aus symbolischen, teils aus patriotischen Motiven.4 Nachdem das Welterbe über zwei Dekaden in Theorie und Praxis herangereift war, stellte sich die Frage, wie es weitergehen sollte, umso mehr als diese erste Sammlung an Gütern angesichts ihrer europäischen Prägung an ihre Grenzen stieß. Man wurde sich bewusst, dass die Spielregeln, die für die Anwendung der Kriterien galten, viele Gegenden der Welt, insbesondere Afrika, so gut wie ausschlossen.
1
Zur Welterbekonvention ausführlich vgl. Beitrag von Bernhard Furrer. 2 2018 umfasste die Welterbeliste 1092 Güter des Kultur- und Naturerbes. 3 Frühe Welterbestätten Frankreichs waren beispielsweise die Abtei von Mont-Saint-Michel, die Kathedrale von Amiens, Schloss und Park von Versailles, alle 1979 eingeschrieben. 4 Ein Beispiel ist die Einschreibung der Independence Hall in Philadelphia, USA, Welterbe seit 1979.
19
Frankreich
1
Häuser La Roche und Jeanneret
Paris
„Die Häuser La Roche und Jeanneret sind der früheste Ausdruck des Purismus in der Architektur.“
Bauzeit Planung ab 1923 Fertigstellung 1925
Entwurf
8, 10, square du Docteur Blanche
Bauherren Raoul La Roche (1889–1965) Albert Jeanneret (1886–1973) Eigentümerin Fondation Le Corbusier
Der Schweizer Bankier Raoul La Roche, ein Freund und Förderer von Le Corbusier, beauftragte diesen 1923 mit dem Entwurf eines Hauses, das auch seine Sammlung zeitgenössischer Kunst aufnehmen sollte. Neben Werken von Le Corbusier selbst umfasste diese bedeutsame Sammlung Gemälde von Léger, Picasso, Braque und Juan Gris. Le Corbusier, der wenige Jahre zuvor gemeinsam mit Amédée Ozenfant das Manifest Après le cubisme verfasst hatte, übertrug die darin für die Kunst formulierten Prinzipien des Purismus auf die Architektur. Die künstlerische Wirkung sollte durch klare Linien und elementare Formen erzielt werden, eingebunden in eine streng rationale Ordnung der Proportionen. Der Entwurf für das Haus La Roche orientiert sich an den Bedürfnissen eines wohlhabenden, alleinstehenden Kunstsammlers.
Das Haus, realisiert in Zusammenarbeit mit Pierre Jeanneret, weist eine außergewöhnliche räumliche Konzeption auf: Eine große, über alle drei Geschosse offene Eingangshalle verbindet Wohn- und Schlafbereiche auf verschiedenen Ebenen. Die Wege über Treppen, Podeste und Galerien erlauben unterschiedliche Perspektiven und führen in den zentralen Raum, in dem die Sammlung präsentiert wurde. Dieser quer zum Hauptgebäude gestellte Baukörper wird dominiert von einer geschwungenen Rampe, welche die Kunstbetrachtung mit der Zeit als vierter Dimension verbindet, eine Anlehnung an die Prinzipien der Gleichzeitigkeit im ansonsten kritisch betrachteten Kubismus. Eine intensive, auf die Lichtführung im Haus ausgerichtete Polychromie unterstreicht das räumliche Erlebnis. Das Haus La Roche bildet eine architektonische Einheit mit dem Haus Jeanneret, das für die Familie des Bruders von Le Corbusier entworfen wurde. Die beiden Haushälften verbindet dieselbe puristische Architektur, doch hinsichtlich Größe und Raumprogramm unterscheiden sie sich wesentlich. Das Haus Jeanneret diente als Wohnung eines Ehepaares mit zwei Kindern. Der Musiker Albert Jeanneret stand am Anfang seiner Karriere in Paris, dementsprechend ist der Grundriss deutlich einfacher gestaltet. Gleichwohl wird der fließende Raum des Hauses La Roche mit einfachen Mitteln aufgenommen.
Haus La Roche, Ansicht. Foto: Olivier Martin-Gambier
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Haus La Roche, Saal der Sammlung. Foto: Olivier Martin-Gambier
Haus La Roche, Saal der Sammlung. Foto: Olivier Martin-Gambier
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Frankreich
6 Poissy 82, chemin de Villiers Bauzeit Planung ab 1928 Fertigstellung 1931 Bauherr Pierre Savoye (1880–1950) Eigentümer Französischer Staat, Centre des Monuments Nationaux
Villa Savoye und Gärtnerhaus „Die Villa Savoye ist die Ikone der Moderne schlechthin und wurde von Anfang an als solche anerkannt.“
Entwurf Der Anstoß, mit Le Corbusier Kontakt aufzunehmen, ging von Eugénie Savoye aus, der Ehefrau von Pierre Savoye, einem erfolgreichen Versicherungsmakler. Sie war es, die beim Projekt ihres Landhauses ein Zeichen der Modernität setzen wollte. Es stand dafür ein riesiges, sieben Hektar großes Grundstück bei Poissy in der Nähe von Paris zur Verfügung, das vom Hügel einen weiten Blick auf das Tal der Seine ermöglichte. Mit diesem Auftrag bekam Le Corbusier die Gelegenheit, seine bisher entwickelten Prinzipien vom Konstruktionssystem Dom-ino bis zum innenliegenden Dachgarten des Immeuble-villas und den „Fünf Punkten zu einer neuen Architektur“ voll zur Geltung zu bringen. Obwohl er wesentliche Vorgaben der Bauherrschaft ignorierte – erwünscht war ein Haus mit Wohnräumen im Erdgeschoss und direktem Zugang zum Garten, auch sollte es später erweiterbar sein konnte er sein gestalterisches Konzept zusammen mit Pierre Jeanneret in voller Freiheit umsetzen.
Der nahezu quadratische Baukörper öffnet sich nach allen Seiten zur Landschaft. Das Obergeschoss mit seinen waagerechten Fensterbändern, getragen von schlanken Stützen, vermittelt die kristalline Strenge des Purismus und lässt das Gebäude gleichsam schweben. Die Form des zurückgesetzten Erdgeschosses wird vom Wendekreis der Automobile bestimmt, die dort abgestellt wurden. Nirgends sonst in der Architektur Le Corbusiers wird das Stützenraster der pilotis derart mit funktionellen Überlegungen verbunden. Eine sanft ansteigende Rampe führt vom Eingangsbereich im Erdgeschoss zum Hauptgeschoss mit den Wohn- und Schlafräumen der Familie und weiter zur Dachterrasse, die mit geschwungenen Aufbauten ein „Solarium“ bildet. Zeitgleich mit der Villa entstand am Eingang zum Grundstück ein kleines zweigeschossiges Haus, das als „Gärtnerhaus“ bezeichnet wird. Es ist nach denselben formalen Konzepten entworfen wie die Villa: ein klarer geometrischer Baukörper auf Stützen und mit Langfenster. Im Erdgeschoss befinden sich lediglich eine kleine Waschküche und ein Lagerraum. Eine Außentreppe führt zum Obergeschoss. Dort sind auf minimalster Fläche ein Wohnraum mit Schlafnische für die Eltern sowie ein kleines Kinderzimmer, Küche und WC untergebracht.
Wendeltreppe und Rampe im Obergeschoss. Foto: Paul Kozlowski
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Außenansicht von Südwesten. Foto: Paul Kozlowski
Die Terrasse als jardin intérieur im Obergeschoss. Foto: Paul Kozlowski
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Frankreich
9 Marseille 280, bd Michelet Bauzeit Planung ab 1945 Fertigstellung 1952 Bauherr Ministère de la Reconstruction et de l'Urbanisme (MRU) Eigentümer Private Eigentümergemeinschaft
Unité d’habitation „Die Unité d’habitation in Marseille gehört zu den Gebäuden, die den Brutalismus in der Architektur begründen. Sie ist ein bedeutsamer Versuch, zeitgemäße Wohnformen zu entwickeln, um die Bedürfnisse des Einzelnen mit dem Leben in der Gemeinschaft in Einklang zu bringen.“
Entwurf Angesichts der Wohnungsnot nach Kriegsende beauftragte das französische Ministerium für Wiederaufbau und Städtebau 1945 Le Corbusier, Konzepte für den Bau von Wohnungen in großer Stückzahl zu entwickeln. Mehrere Standorte in Marseille wurden geprüft und verworfen, letztlich nahm man den Plan für eine Großwohneinheit im Südosten der Stadt in Angriff. Le Corbusier entwarf einen Baukörper mit 135 Metern Länge, 24 Metern Breite und 56 Metern Höhe. Auf 17 Geschossen waren 337 Wohneinheiten untergebracht, die über 1.500 Menschen Platz bieten konnten. Die Wohngeschosse ruhen auf einem „künstlichen Boden“, in dem alle Leitungssysteme im Haus gebündelt sind.
Er wird von 17 mächtigen und aufwendig gestalteten Rahmen mit Stahlbetonstützen getragen, die das ganze Gebäude von der umgebenden Freifläche abheben. Das Konstruktionsprinzip gleicht einer „Flaschenkiste“: Die Wohneinheiten sind wie in einem Regal in die vom Stahlbetonskelett gebildeten Fächer geschoben. Aus drei Grundmodulen entstanden 23 unterschiedliche Wohnungstypen vom kleinen Appartement bis zur Wohnung für Familien mit mehreren Kindern. Alle Wohnungen werden von breiten innenliegenden Fluren erschlossen, den „Straßen“. Die Mehrzahl der Wohnungen sind Maisonetten vom Typ E mit 98 qm Wohnfläche. Sie haben einen zweigeschossigen Wohnraum, sind alle von Ost nach West durchgehend und von beiden Seiten über eine Loggia belichtet. Besonderen Wert legte Le Corbusier auf die schalltechnische Trennung der Wohneinheiten, weil er die Intimität der Familie als Voraussetzung für das Leben in der Gemeinschaft sah. Die Großwohneinheit bildet eine „vertikale Stadt“, die viele Funktionen des täglichen Lebens innerhalb des Gebäudes bereithalten sollte. Im 7. und 8. Geschoss waren ein kleines Hotel mit Restaurant sowie Läden untergebracht, daneben gab es mehrere kleine Clubräume. Im 17. Geschoss war ein Kindergarten untergebracht, auf dem Dachgeschoss waren sportliche Aktivitäten möglich. Ein Teil der Einrichtungen besteht noch heute.
Gesamtansicht der Unité d’habitation. Foto: Cemal Emden
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Dachgarten mit Sporteinrichtungen und expressiv gestalteten Lüftungskaminen. Foto: Paul Kozlowski
Die Betonstützen mit dem „künstlichen Boden“ der Wohngeschosse. Foto: Paul Kozlowski
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Frankreich
12 Ronchamp 13, rue de la Chapelle Bauzeit Planungsbeginn 1950 Fertigstellung 1955 Bauherrin Private Immobiliengesellschaft Eigentümerin Association Œuvre de Notre-Dame du Haut
Kapelle Notre-Dame du Haut „Die Kapelle Notre-Dame du Haut in Ronchamp ist die Ikone christlicher Sakralarchitektur, die den Kirchenbau im 20. Jahrhundert revolutionierte.“
Entwurf Nachdem ein erstes Projekt für den Wiederaufbau der 1944 zerstörten neogotischen Wallfahrtskirche auf dem Hügel oberhalb der Ortschaft Ronchamp in der Nähe von Belfort gescheitert war, suchte die zuständige Commission d’Art Sacré der Diözese Besançon nach einem modernen Konzept und schlug Le Corbusier als Architekten vor. Der zögerte zunächst, lieferte dann aber, von der Lage des Bauplatzes tief beeindruckt, innerhalb kurzer Zeit die ersten Pläne. Er entwarf ein skulpturales Kirchengebäude mit konkav und konvex geschwungenen Wänden, das von einem massiv erscheinenden gewölbten Betondach überdeckt wird. So entstanden Räume für Gottesdienste ganz unterschiedlichen Charakters: die Halle der Wallfahrtskirche, drei intime Kapellen in Wandnischen, die von Oberlichtern aus kleinen, kuppelförmigen Türmen belichtet werden, sowie eine Kirche
Frühe Skizze Le Corbusiers, 1950. FLC_CA_E18_2
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im Freien an der östlichen Außenwand für große Versammlungen von Gläubigen. Der Altar und die Kanzel werden vom weit auskragenden Dach geschützt. Neben dem Kirchengebäude entstanden das Wärterhaus und das Pilgerhaus mit Unterkünften und Küche, die den Wallfahrtsort auf dem Hügel ergänzen. Für die Außenwände wurde Steinmaterial der alten Kirche wiederverwendet. Sie sind jedoch nicht tragend, ihre Stabilität erhalten sie durch ihre gekurvte Form. Das Dach ist abgelöst und ruht allein auf Pfeilern innerhalb der Mauern. Die an ihrer Basis 3,70 Meter breite Südwand ist als Hohlkörper konstruiert. Zwischen Betonscheiben und Querstreben sitzen kastenförmige Zellen aus Maschendraht für die Fensteröffnungen. Die Armierung wird von einer nur vier Zentimeter starken Schicht aus Spritzbeton überdeckt. Auch das Kapellendach ist doppelschalig und ähnlich der Tragfläche eines Flugzeugs konstruiert. Es besteht aus zwei nur 6 cm starken Betonhäuten im Abstand von 2,26 Metern, hergeleitet aus dem Maßsystem des Modulors, auf das Le Corbusier den ganzen Entwurf aufbaute. Das Erlebnis der Architektur wird von der Lichtführung noch unterstrichen. Die von Le Corbusier gestalteten und frei über die Südwand verteilten Glasfenster bringen gedämpftes Licht in den Kirchenraum, unterschiedlich hohe Türme lassen indirektes Licht eindringen. Ein schmaler Lichtstreifen löst die Seitenwände vom Dach ab und lässt dessen schwere Konstruktion schwebend erscheinen. Als Architekt und Künstler, der auch Mobiliar und Türen gestaltet, schafft Le Corbusier mit Ronchamp ein Gesamtkunstwerk.
Ansicht von SĂźdosten. Foto: Cemal Emden
Kirchenraum mit Altar. Foto: Paul Kozlowski
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17 Gebäude und Bauensembles, geschaffen von Le Corbusier in sieben Ländern auf drei Kontinenten, wurden 2016 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Ein Bildteil stellt die Bauwerke detailliert vor und begründet deren Aufnahme in das Welterbe. Im Textteil kommentieren Expertinnen und Experten aus Deutschland, Frankreich und der Schweiz den Prozess der transnationalen Bewerbung und erörtern Aufgaben der Denkmalpflege, vor allem für das Erbe des 20. Jahrhunderts. Ein Schwerpunkt des Buches gilt Stuttgart und der Weissenhofsiedlung. Mit Beiträgen von Bernhard Furrer, Bénédicte Gandini, Friedemann Gschwind, Andreas Hofer, Oliver Martin, Herbert Medek, Olivier Poisson, Michel Richard, Birgitta Ringbeck, Kerstin Wittmann-Englert, Anke Zalivako
Le Corbusier
Herausgegeben von Friedemann Gschwind
Sein internationales Werk im Welterbe der UNESCO
LC Buchumschlag.qxp_Layout 1 12.08.19 15:55 Seite 1
STU GART
Le Corbusier Sein internationales Werk im Welterbe der UNESCO