Moderne am Main 1919–1933

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Klaus Klemp Annika Sellmann Matthias Wagner K Grit Weber


Margarete Schütte-Lihotzky | Fa. Haarer, Hanau _________ Schütten der Frankfurter Küche siehe S. 188 f.

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Matthias Wagner K

V76 Prolog

Klaus Klemp

10 Grundlagen des Neuen Frankfurt

Grit Weber

48 Experimentieren und forschen

Klaus Klemp Grit Weber

70 Netzwerke und Gesellschaften gründen

Klaus Klemp Grit Weber Matthias Wagner K

92 Lehren und lernen

Annika Sellmann

140 Großstadt gestalten

Klaus Klemp Grit Weber

174 In Produktion gehen 2

Grit Weber Annika Sellmann

232 Moderne veröffentlichen

Matthias Wagner K Klaus Klemp

278 Epilog

280 290 294 295 296 301 302

Anmerkungen Literaturverzeichnis Abbildungsnachweis Leihgeberinnen und Leihgeber Kurzbiografien Autorinnen und Autoren Impressum


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_________ Oskar Fischinger vor der Wachsschneidemaschine in Frankfurt um 1922

Oskar Fischinger und seine Experimente mit dem Medium Film _________

„Wie Sie […] ersehen, befassen wir uns mit der Aufführung von Avantgarde-Filmen und würden recht gern einmal einen Ihrer neuesten Filme (Tönende Ornamente) bringen. […] Evtl. liesse sich auch eine Matinée arrangieren, in der wir ausschliesslich Ihre Werke brächten.“ 3 Als Paul Seligmann (1903–1985) im Herbst 1932 seine Korrespondenz mit Oskar Fischinger (1900–1967) begann, lebte der aus Gelnhausen stammende Fischinger bereits seit zehn Jahren nicht mehr in Frankfurt. In dem Briefwechsel verhandeln die beiden schriftlich über die Vorführung experimenteller Filme im Rahmen des Veranstaltungsprogramms, das der bund das neue frankfurt 4 unter der Leitung von Paul Seligmann und in enger Zusammenarbeit mit Ella BergmannMichel regelmäßig stattfindenden ließ. Oskar Fischinger schlägt in seinem Antwortbrief vor, die Studien 7, 8 und 12 sowie die Ornamente zu zeigen.5 Letzteres ist ein Trägermaterial mit applizierten Mustern, die als optische Tonspur Töne zum Klingen bringen. Fischinger hatte zu dieser Zeit zwei ausverkaufte Abendveranstaltungen im Münchener Marmorhaus, die aus elf Studien, u.a. sogenannten Kurztonfilmen, und dem Film Jagd auf Dich bestanden. Für Frankfurt kam jedoch nur eine kleinere Variante zustande. Zu der für später geplanten Matinée kam es aufgrund der Auflösung des bund das neue frankfurt ab 1933 nicht mehr. Da Fischinger zur Präsentation seiner Arbeiten nicht anreiste, plante Seligmann, den Kunstkritiker Bernhard Diebold (1886–1945) als Redner zu gewinnen, der viele Jahre zuvor die ersten experimentellen Schritte des ganz jungen Fischingers in Frankfurt mit forciert hatte. Diebold hatte im April 1921 den damals noch bei der Frankfurter Maschinenbau AG Pokorny und Wittekind tätigen Werkzeugkonstrukteur Fischinger mit zu einer Vorführung genommen, bei der Walther Ruttmanns (1887–1941) erster Experimentalfilm Lichtspiel Opus 1 gezeigt wurde. In dem Film tauchen abstrakte Farbformen auf und ziehen zu den Klängen eines Streichquartetts rhythmisch vorüber. 6 Der Film beeindruckte Fischinger zutiefst. Über die Vermittlung von Bernhard Diebold lernte er Walther Ruttmann kennen. Fischinger begann bald schon mit farbigen Flüssigkeiten, verschiedenen Ölen, Wachs und Tonmaterial zu experimentieren, um das Material kontrolliert formbar zu halten. Ein Zufall brachte das plastische Material zum Schmelzen, 53


Das Institut für Sozialforschung _________ Friedrich Pollock

39 _________ Hermann Weil stiftete große Beträge seines vor allem durch Getreidegroßhandel in Argentinien erwirtschafteten Vermögens an soziale Einrichtungen, unterstützte die Frankfurter Universität und ermöglichte 1923 durch eine großzügige Geldzuwendung aus der Hermann-Weil-Stiftung ebenfalls das Institut für Sozialforschung. 40 _________ Karl Korsch (1886–1961) war als Nationalökonom 1919 Mitglied in der Sozialisierungskommission für den Kohlebau eingebunden, die die Transformation dieses Wirtschaftszweiges von einer privatwirtschaftlichen in eine sozialistische prüfen sollte. Als Mitglied der USPD befürwortete er zudem die Fusion mit der KPD, deren Mitglied er später wurde. Kurt Albert Gerlach (1886–1922) war ebenfalls Nationalökonom und in der USPD politisch engagiert. Er trat zeitweise den international organisierten Anarchosyndikalisten bei, die die revolutionäre Überwindung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung propagierten. 42 _________ Das Thema der Bedarfs-, bzw. Subsistenzwirtschaft war auch Grundlage für Leberecht Migges Modell des Selbstversorgergartens. Es ist bis heute im Diskurs um eine nicht auf Wachstum ausgerichtete, sondern Ressourcen schonende und soziale Wirtschaft aktuell und ein zentraler Aspekt heutiger Kapitalismuskritik.

„Ohne eigene praktische Gedankenarbeit kommen wir vielleicht aus dem Kapitalismus heraus, aber nicht in den Sozialismus hinein.“ 38 – so Felix Weil (1889–1975) in seiner Dissertationsschrift Die Sozialisierung. Er ist eine der interessantesten Personen, die an der Gründung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung beteiligt waren. Mittels Einsatzes seines mütterlichen Erbes und unterstützt durch eine umfassende Geldzuwendung seines Vaters Hermann Weil 39 begründete er eine Forschungseinrichtung, die an der Abschaffung der privatwirtschaftlichen Eigentumsstrukturen arbeiten sollte, welche doch zugleich die Voraussetzung für eben jenes Familienvermögen gewesen waren. Gemeinsam mit Kurt Albert Gerlach (18861922), Karl Korsch (1886-1961) und Friedrich Pollock (1894-1970), allesamt marxistisch geprägte Wissenschaftler, erarbeitete er die Pläne für das Institut, das sich zunächst der Erforschung der Geschichte der Arbeiterbewegung und des Sozialismus widmen sollte. Mit der Institutsgründung verfolgten die Gründungsmitglieder zu Anfang auch das Ziel, die eine theoretisch-wissenschaftliche Basis für eine Alternative zum Kapitalismus zu bereiten und ihre Forschungsarbeit auch auf die praktische Realisierbarkeit dieser Alternative hin auszurichten. 40 1916 hatte sich Felix Weil an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der jungen Frankfurter Universität immatrikuliert, drei Jahre später wechselte er nach Tübingen zu dem Sozialökonom Adolf Weber. Nachdem ihm die Promotion dort wegen linker Agitation verwehrt worden war, kehrte er wieder nach Frankfurt zurück, wo er seine Doktorarbeit über den Begriff der Sozialisierung beendete und sie 1921 in einer von seinem Freund Karl Korsch gegründeten Schriftenreihe veröffentlichte. „Sozialisierung“ bedeutete für Felix Weil einerseits „das aktive, bewußte, willensmäßige Eingreifen und Umgestalten der kapitalistischen Wirtschaftsordnung zur sozialistischen“. 41 Zum anderen verband Weil mit dem Begriff der Sozialisierung auch das Ziel einer gesamtgesellschaftlichen Veränderung. Weil gab in seiner Schrift fünf grundlegende Handlungsschritte an, die zur Sozialisierung nötig seien: erstens die Herbeiführung der Bedarfswirtschaft 42, zweitens die Organisation des Wirtschaftsprozesses als Gemeinwirtschaft, drittens das Gemeineigentum, viertens die Ausdehnung dieser Maßnahmen auf die Gesamtheit des Wirtschaftslebens der Gesellschaft und schließlich fünftens Aktivität, verstanden als die „bewußt gewollte Einwirkung auf das individualistische Wirtschaftsleben zur Herbeiführung der sozialistischen Wirtschaftsordnung“. 43 Kurt Albert Gerlach (1886–1922) sollte der erste Direktor des neu gegründeten Instituts werden. Gerlach sah die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften methodisch an einem Punkt, an dem „mit weitreichender Objektivität an die Erforschung des sozialen Lebens herangegangen werden kann; dies um so (sic) mehr, wenn nicht irgendwelche Stellungnahmen in wirtschafts- und sozialpolitischer Hinsicht, sondern grundsätzlich nur der Forschungsstandpunkt richtunggebend ist“. 44 Auf seinen Überlegungen fußte das später ausgearbeitete Forschungsprogramm. Gerlach starb jedoch noch vor der Institutsgründung an den Folgen eines Diabetes, und so kam es zur Berufung Carl Grünbergs. Dieser führte in seiner Antrittsrede vom 22. Juni 1924 aus, das Institut stehe für einen „neuartige(n) Typus 68


46 _________ Heute Senckenberganlage

Max Horkheimer 1932 Theodor W. Adorno um 1920 Siegfried Krakauer um 1922 Leo Löwenthal 1927 Herbert Marcuse

wissenschaftlicher Arbeitsorganisation“, indem es mit der Trennung von Forschung und Lehre ein „Gegenmodell zur traditionellen Organisationsstruktur einer Universität“ darstelle. Bereits 1924 zog das Institut in den nach Plänen von Franz Roeckle (1879– 1953) errichteten Bau an der Viktoriaallee 17 ein. 46 Das Herz dieses Gebäudes bildeten nicht die vier Seminar- und sechzehn Einzelarbeitsräume 47, sondern das Archiv und die Bibliothek, „die alles das, was auf soziale Bewegungen Bezug hat, als Rohmaterial sammeln soll[ten]“ , außerdem Publikationen zur Sozialtheorie und -geschichte. 48 Schon im November 1924 zählte der Bestand über 14.000 Bücher, hinzu kamen 200 Zeitschriften und Periodika. Ab 1930 und mit der Ernennung Max Horkheimers (1895-1973) zum neuen Institutsdirektor wandelte sich die wissenschaftliche Ausrichtung des Forschungsprogramms. Nicht mehr die Auswirkungen der wirtschaftlichen Bedingungen auf die sozialen Lebensbereiche und die Veränderung der Gesellschaft sollten vornehmlich untersucht werden, sondern es begann unter dem wissenschaftlichen Einfluss der Philosophie eine Öffnung hin zu einer interdisziplinären Forschung, die psychologische, juristische, wirtschaftliche und kulturwissenschaftliche Felder zusammenführte und später als „Kritische Theorie der Frankfurter Schule“ bekannt wurde. Zu dem Kreis der Intellektuellen im Umfeld der Schule gehörten u.a. Friedrich Pollock, Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Erich Fromm, Otto Kirchheimer, Siegfried Kracauer, Leo Löwenthal und Herbert Marcuse. Auch die Frankfurter Architektin und bekennende Kommunistin Margarete Schütte-Lihotzky wie auch die in der Roten Studentengruppe organisierte Fotografin Gisèle Freund besuchten regelmäßig Vorlesungen im Institut. Doch entgegen der ursprünglichen Vorstellung, dass alle „Berührung mit Parteipolitik und Parteiagitation […] durch den wissenschaftlichen Charakter des Instituts ausgeschlossen“ sei 49, wurde Horkheimers Arbeit schon drei Jahre später beendet: Am 13. März 1933 drang die Kriminalpolizei in das Institut ein und besetzte und versiegelte die Räume. 50 Die Wissenschaftler wurden ins Exil gezwungen, Schriften und Dokumente zerstört, die hoch geschätzte Bibliothek ab 1935 systematisch auf andere Universitätsinstitute verteilt und die sogenannte „zersetzende“ Literatur schließlich an die Staatsbibliothek nach Berlin gebracht. 51 Bereits 1934 gelang es den Gründern und Anhängern des Instituts für Sozialforschung, die Forschungseinrichtung an die Columbia University New York zu verlegen. Wieder spielte Felix Weil vor allem bei dem Transfer des Stiftungskapitals ins Ausland eine wesentliche Rolle. Max Horkheimer sowie Theodor W. und Gretel Adorno übersiedelten nach Kalifornien und arbeiteten dort – mitten im Zweiten Weltkrieg – an dem Buch Dialektik der Aufklärung, das schließlich 1947 veröffentlicht wurde und als ein Meilenstein der wissenschaftlichen Erklärung des Faschismus gilt. In ihm verknüpfen die Autoren die Entstehung des Faschismus mit dem Vernunftbegriff der europäischen Aufklärung. Warum die befreiende und emanzipatorische Kraft dieser Vernunft nicht auch genau zur Verhinderung des Faschismus hätten führen können, ist eine Diskussion, die wir bis heute führen. 69


_________ Ella Bergmann-Michel mit 35mm Kinamo Kamera 1932

Die Akteurinnen und Akteure der Kunst- und Gestaltungsavantgarde der 1920er Jahre waren in zahlreichen formellen oder informellen Gruppen und Gesellschaften sowie auch in losen Netzwerken oder freundschaftlich miteinander verbunden. Nur so lässt sich erklären, warum in relativ kurzer Zeit so viele innovative Projekte, Ausstellungen und Werke entstehen konnten: durch intensive Zusammenarbeit. Exemplarisch stellen wir im Folgenden zwei Knotenpunkte und ihre jeweiligen Verbindungen zum Neuen Frankfurt vor: zum einen die berühmte Bauhaus-Kunstschule, zum anderen die weniger bekannte Schmelzmühle im Taunus, in der das Künstlerpaar Ella Bergmann-Michel und Robert Michel seinen Wohn- und Arbeitsort hatte. 72


Das Bauhaus in Frankfurt _________

Fritz Wichert, der Gründungsdirektor der Frankfurter Kunstschule, wies 1927 darauf hin, er habe „eine eigene, ganz bodenständige Verwirklichung des Bauhausgedankens für Südwestdeutschland [geschaffen] und, wie das Bauhaus selbst, [es] von allem Anfang als Schule für Gestaltung gedacht“.1 Dies sagt viel über ein nicht unkompliziertes Verhältnis aus: Das Bauhaus war das Vorbild, die Herangehensweise aber „bodenständig, also angewandt, keine „schillernde intellektuelle Seifenblase“ 2 und nicht zuletzt eigenständig. Das war vier Jahre nach der Gründung der Frankfurter Schule durchaus selbstbewusst vorgetragen. Dem Verhältnis von Bauhaus und Neuem Frankfurt soll im Folgenden etwas genauer nachgegangen werden. 3 In der ersten umfänglichen Aufarbeitung zum Neuen Frankfurt von 1984 vertreten die Autoren Christoph Mohr und Michael Müller 4 die Position, der Einfluss des Bauhauses auf Frankfurt sei gar nicht so groß gewesen. Adolf Loos’ Engagement in Frankfurt sehen sie dabei unter anderem als Affront gegen Werkbund und Bauhaus – Loos wusste ja durchaus zu polarisieren: „Bauhaus- und Konstruktivismus-Romantik sind nicht besser als Ornament-Romantik“, behauptete er in einer Ausgabe von Das Neuen Frankfurt von 1931, und das Bauhaus veranstalte „unnütze Konstruktionen, Orgien in bevorzugten Materialien (Beton, Glas, Eisen)“. 5 Inwieweit die Kontakte der Frankfurter zu Adolf Loos als Hindernis für eine freundschaftliche Zusammenarbeit zwischen den Institutionen wirkte, sei dahingestellt. Zutreffend ist aber sicher, dass es bei aller gegenseitigen Sympathie konkurrierende Schulen waren, die auch ganz unterschiedlichen Bedingungen unterlagen. Das Bauhaus befand sich mit Weimar und Dessau in zwei mittelgroßen Städten und war ohne weitreichende gesellschaftliche Einbindung; die Frankfurter Kunstschule war Teil eines groß angelegten politischen Projekts, das die ganze Großstadt in allen Bereichen, vom Wohnungsbau bis zur Sozial-, Wirtschafts- und Kulturpolitik, in den Blick nahm. Wie stellten sich die konkreten Verbindungen dar? Ein erster Kontakt zwischen dem Bauhaus und dem Rhein-Main-Gebiet bestand schon durch den Aufenthalt des späteren Bauhausschülers und -lehrers Herbert Bayer. Von Frühjahr bis Herbst 1921 war er Assistent von Emanuel Josef Margold (1888–1962) in Darmstadt. Bayer war an grafischen Entwürfen für Bahlsen und Sprengel beteiligt, bevor er zum Bauhaus nach Weimar wechselte. Umgekehrt zogen der Grafiker und Architekt Robert Michel und die Malerin und Fotografin Ella Bergmann-Michel, ehemalige Studierende der Hochschule für Bildende Kunst in Weimar und 1920 kurzzeitig am Bauhaus tätig, im selben Jahr in die sogenannte „Schmelzmühle“ in Vockenhausen im Taunus, dem Geburtsort von Robert Michel, und übernahmen nicht nur zahlreiche gestalterische Aufträge für das Neue Frankfurt, sondern ihr Haus wurde auch zu einem Treffpunkt der künstlerischen und gestalterischen Avantgarde aus ganz Deutschland. 73


7 _________ Schlemmer hielt sich vom 18. bis 22. April 1929 anlässlich eines Vortrags und der Aufführung der Bauhaus-Bühne in Frankfurt auf. Einen zweiten Besuch stattete er Willi Baumeister im März 1933 ab.

Fritz Wichert nahm schon fünf Tage nach seinem Dienstantritt an der Kunstschule, am 17. April 1922, brieflichen Kontakt zu Walter Gropius in Weimar auf. Gropius reagierte interessiert und schrieb, unter Beifügung der Bauhaussatzung, am 27. April zurück: „Ich glaube allerdings, Ihnen eine ganze Reihe Winke aus den recht reichhaltigen und schweren Erfahrungen geben zu können. […] Mir liegt sehr viel daran, mich mit Ihnen auszusprechen.“ Wichert reagierte begeistert und schrieb noch am selben Tag zurück, er sehe in der Bauhaussatzung das Bestreben, „nicht einen gegebenen Kunst- oder Stilinhalt“ vorauszusetzen, „sondern allen ungeborenen Zeitinhalten zum Ausdruck [zu] verhelfen“. 6 Eine latente Moderne sollte sich also an der Schule materialisieren. Diese Interpretation Wicherts ist deswegen so interessant, weil er damit auch auf die Erwartungen an ihn selbst seitens der Stadtgesellschaft und -politik Bezug nahm. Positiv interpretiert sah er damit die gesamte mentale Lage der Stadt als Nährboden für sein neues Institut. Nach dem erfolglosen Versuch Ludwig Landmanns und vor allem Fritz Wicherts, das gesamte Bauhaus nach dessen Vertreibung aus Weimar 1925 nach Frankfurt zu holen, waren es immerhin vier Vertreter des Bauhauses, die an den Main wechselten: Josef Hartwig, Karl Peter Röhl und Christian Dell sowie schließlich auch Adolf Meyer, der einflussreiche Partner von Walter Gropius. Als Willi Baumeister 1928 nach Frankfurt kam, verließen zur gleichen Zeit Gropius, Lázló Moholy-Nagy und Herbert Bayer das Bauhaus. Die Karten waren neu gemischt. Der Bauhausgedanke fand nun in personae ganz konkret auch in Berlin (Gropius, Bayer und Moholy-Nagy), Breslau (Schlemmer seit 1929) und Frankfurt statt. Das wird bei der Bauhaus-Rezeption häufig übersehen. Zur Einweihung des Neubaus der Alten Mainbrücke erhielt Oskar Schlemmer die Einladung, eine „große Brückenrevue“ mit Kostümen aus dem Triadischen Ballett zu inszenieren, die dann auch vom 15. bis zum 18. August 1926 in der Festhalle stattfand. Auch das aufwendige Plakat zur „Brückenrevue“ stammt von Schlemmer. Eine große Schiffsparade auf dem Main, Stadtillumination und populäre Festzelte auf der einen Seite, avantgardistisches Theater auf der anderen Seite – das war ein typisch Frankfurter Mix der Zeit. Mit der Berufung von Willi Baumeister an die Frankfurter Kunstgewerbeschule hatte Schlemmer dann ab April 1928 auch einen persönlichen Ansprechpartner in Frankfurt, waren die beiden doch schon seit ihrem ersten Zusammentreffen an der Stuttgarter Kunstakademie im Jahr 1906 eng befreundet. Zahlreiche gemeinsame Ausstellungsbeteiligungen vor und nach dem Ersten Weltkrieg, die Ateliernachbarschaft der Meisterschüler an der Akademie seit 1919, ihre gescheiterte Unterstützung Paul Klees in einem Berufungsverfahren und ihre gemeinsame Mitgliedschaft in der Üecht-Gruppe zur Propagierung moderner Kunst machten sie zu einer personalen Brücke zwischen Kunstschule und Bauhaus. Schlemmer und Baumeister trafen sich zwar nur zwei Mal in Frankfurt, 7 aber sie standen stets in engem brieflichem Kontakt. Schlemmer war auch in der Zeitschrift Das Neue Frankfurt durchaus präsent, 1928 schrieb er dort über „Piscator und das neue Theater“ 8 und 1930 über „Gestaltung aus dem Material“, 9 d.h. über die materiellen Bedingtheiten des Bühnenraums und deren künstlerische Bedeutung. In Heft 4 von 1928 verfasste Will Grohman einen anerkennenden Aufsatz über den „Maler Oskar Schlemmer“. In der Frankfurter Zeitschrift erschienen aber auch zahlreiche weitere Textbeiträge von Vertretern des Bauhauses, u.a. von Marcel Breuer, Walter Gropius und Johannes Itten. 74


Oskar Schlemmer _________ Große Frankfurter Brückenrevue in der Festhalle 15.–18. August Postkarte 1926

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Werbegrafik und Typografie _________

Philipp Albinus 1913

1924 wurde die Abteilung Werbegrafik und Typografie eingerichtet und von Wichert zunächst bis 31. Oktober 1926 mit Albert Windisch (1878–1967) besetzt, der seit 1905 beamteter Lehrer an der Frankfurter Gewerblichen Berufsschule war. Seit Ostern 1920 leitete er die Klasse für Buch- und Flächenkunst an der Fachschule für Buch- und Kunstgewerbe. Schon zu Wicherts Zeit an der Städelschule 1907 bis 1909 als Assistent von Georg Swarzenski hatten die beiden miteinander in Kontakt gestanden. Auch Windisch gehörte der älteren Lehrergeneration an, war aber zunächst am Konzept für die Fusion der Frankfurter Schulen beteiligt und baute zusammen mit Philipp Albinus eine große Typografiewerkstatt auf. Windisch bewegte sich in der konservativen Offenbacher Typografieszene um Rudolf Koch ebenso wie in der progressiven Frankfurter Szene mit Hans Leistikow. Wie Cissarz war er seit 1913 Mitglied des Werkbundes. Nachdem Wichert sein neues Konzept für die Schule zunehmend umsetzen konnte, scheint Windisch jedoch für ihn nicht mehr zukunftsfähig genug gewesen zu sein. Als Paul Renner 1925/26 an der Schule war, übernahm dieser die Leitung der Typografiewerkstatt, ab April 1928 Willi Baumeister. Windisch blieb nur der Lückenfüller, der von den Modernen verdrängt wurde. Zum 1. November 1926 wurde er als Zeichenlehrer an die Ziehen-Oberrealschule versetzt. Nach Baumeisters Entlassung aus der Schule wurde Windisch von den Nazis zum Nachfolger eingesetzt, was für ihn ein später Triumph gewesen sein mag. Er war vor allem als Gebrauchsgrafiker tätig und in mehreren Verbänden organisiert. Seit 1. Juni 1926 war er 1. Vorsitzender des Bundes Deutscher Gebrauchsgrafiker, Landesgruppe Rhein und Main. 20 Nach 1933 wurde er Gauführer der Reichsfachschaft Gebrauchsgraphik, Gau Hessen-Mittelrhein, im Reichskartell der Bildenden Künste (gegründet am 1. November 1933). 21 Schon gleich nach der Machtergreifung der Nazis gestaltete er den Briefbogen mit Frakturschrift um. Eine Art Gegenpol zur Typografie des Neuen Frankfurts bildete die Kunstgewerbeschule Offenbach. Die dort 1921 gegründete Offenbacher Werkgemeinschaft war mehr als nur eine Klasse an der Kunstgewerbeschule. Ihr Leiter, der Typograf Robert Koch (1876–1934), sammelte dort Studierende, Künstlerinnen und Künstler um sich, die als Kollektiv formgebende Vorbilder sein sollten. Er definierte sich als Lehrender, nicht als Vorgesetzter; das gemeinsame Erarbeiten war sein Ideal, nicht der künstlerische Geniegedanke. Kochs erfolgreiche Deutsche Schrift entstand in verschiedenen Garnituren von 1906 bis 1921. Koch war aber kein TypoReaktionär, sondern ein Schriftreformer aus der Tradition heraus. Von 1906 bis 1934 entwarf er insgesamt dreizehn Fraktur-, aber auch neun Antiqua-Alphabete. 22 Seine eigene Groteskschrift, die von 1926 bis 1929 entstandene Kabel, bildete mit zwölf Schnitten seine umfangreichste Schriftenfamilie überhaupt. Die Kommunikation zwischen Frankfurt und Offenbach bestand nicht nur aus Konfrontation, sondern vor allem aus einer diskursiven Auseinandersetzung über die „richtige“ künftige Gestaltung. Karl Klingspor (1868–1950) und die Offenbacher Koch-Schule verstanden sich als eine gemäßigte Moderne aus der Tradition heraus, die ähnlich wie in der Architektur eines Paul Bonatz eine zwar funktionale, aber auch sprechende Architektur bzw. Typografie entwerfen wollte. 108


Christian Sprathoff / Werkstatt Albinus _________ Umzugskarte der Familie Sprathoff 1927

Albert Windisch _________ Briefbogen BDG vor 1933 und Reichsfachschaft Gebrauchsgrafik (Nachfolge BDG) 1933

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Modeamt Frankfurt _________ Damenstiefeletten aus schwarzem Samt mit Plexiglasabsatz 1941

Mode _________

Margarethe Klimt

47 _________ Das Wäscheatelier beschäftigte bis zu sechzig Arbeitskräfte. In der angegliederten Schule für Wäsche, Kleider und Hüte unterrichteten drei bis vier Lehrpersonen.

Fritz Wichert war bestrebt, neben der Klasse für Textil- und Flächengestaltung bald schon eine Modeklasse zu etablieren, und berief für deren Leitung die in Wien tätige Margarethe Klimt (1892–1987). Die Berufung ging wohl auf eine Empfehlung des Frankfurter Verlegers und Beckmann-Förderers Heinrich Simon und seiner aus Wien stammenden Frau Irma Freiin von Scheys zurück. 46 Margarethe Klimt brachte eine Ausbildung als Schneiderin, Modezeichnerin und Kunststickerin mit, die sie in Wien und in London absolviert und 1916 mit einer Meisterauszeichnung abgeschlossen hatte. Zwischen 1912 und 1914 hatte sie zudem Innenarchitektur an der Wiener Bauschule von Adolf Loos studiert. Ab 1922 gründete sie in Wien ihr eigenes erfolgreiches Unternehmen, das aus einem Arbeitsatelier für Damenmode mit angegliederter Schule bestand. 47 Den Unterricht an der Frankfurter Kunstschule bauten Klimt und Wichert als drei- bis fünfjährige Lehrgänge auf. Er bestand aus den Hauptfächern Praktisches Entwerfen und Schneidern sowie dem Nebenfach Modezeichnen. Darüber hinaus unterrichtete Klimt zwei Mal wöchentlich auch an der Berufsschule für Frauengewerbe. Außerdem war sie 1929 beratend für das Stadtschulamt tätig. 48 Neben ihrer Lehr- und Beratungstätigkeiten beteiligte sich Klimt auch an der Organisation von Ausstellungen und Modenschauen, die mit ortsbezogenen Veranstaltungen wie dem 4. Deutschen Schneidertag in Frankfurt im August 1930 verbunden waren. Obwohl Klimt ab 1929 den Titel einer Professorin tragen konnte und 1932 als Beamtin auf Lebenszeit eingestuft wurde, kämpfte die Modeklasse fortwährend um Anerkennung innerhalb der Schneider- und Modebranche. Ein Abschluss an dieser Schule hatte auch noch in den 1930er Jahren wenig Gewicht und ersetzte nicht die Meisterprüfung vor der Schneiderinnung. 49 Diese kritisierte wiederholt die mangelnden handwerklichen Fertigkeiten der jungen Frauen. Hier zeichnet sich ein grundsätzlicher Richtungskampf ab. Die Haltung der Innung kann durchaus als Ablehnung einer Akademisierung des Handwerks gedeutet werden, war das Ziel der Modeklasse doch vor allem, Schülerinnen zu gewinnen, die bereits eine handwerkliche Vorbildung hatten, um diese auf eine leitende Funktion in der Modebranche vorzubereiten. Damit machte sich Klimt für eine bessere Qualifizierung von Frauen innerhalb der klassisch weiblich konnotierten Berufe stark. Dass ihrer Arbeit auch akademische Anerkennung zuteil wurde, zeigt sich daran, dass Klimt 1929 eine Berufung an die renommierte Münchener Modeschule erhielt, die Wichert jedoch durch aufwendige Verhandlungen abwenden konnte. 50 124


Über Margarethe Klimts eigene Position dazu, welche Rolle Mode innerhalb des gesellschaftlichen Gefüges spielt oder spielen könnte, ist kaum etwas bekannt. Anders als im Fall anderer, überwiegend männlicher Kollegen der Kunstschule sind keine fachlichen Publikationen überliefert – sofern es sie überhaupt gegeben hat. Ihre gestalterische Haltung ließe sich methodisch über eine formal-ästhetische Deutung ihrer Mode herausarbeiten, allerdings auch das erst ab 1934 in fundierter Weise und vermittelt über das Medium der Modefotografie. Ab diesem Zeitpunkt leitete Klimt, nach einer einstweiligen Beurlaubung und Wiedereinstellung im Sommer 1933, 51 das an das Kulturamt angegliederte Modeamt. 52 Unter dem neuen nationalsozialistischen Oberbürgermeister Friedrich Karl Krebs sollte Frankfurt als Stadt des Handwerks und der Mode zum Aushängeschild einer neuen ideologischen Ausrichtung aufgebaut werden. Die Modeklasse wurde zum Modeamt mit -schule, angegliedert an das Kulturamt. Die bessere finanzielle Ausstattung und politisch-ökonomisch begründete Publicity führten dazu, dass zahlreiche Modefotografien angefertigt wurden. 53 Wir sehen Damenkleider, die sich einer nationalsozialistischen Ideologie anzudienen scheinen (Arbeitsdienstkleidung und Bauernschaftskleid). Die Fülle der Modellkleider jedoch orientierte sich an Entwürfen, die in Stil und Umsetzung die internationalen Standards jener Jahre zeigen. Dass diese Ausrichtung von Margarethe Klimt bereits seit 1928 verfolgt wurde, zeigen ihre regelmäßigen Beurlaubungen für Reisen nach Paris zu internationalen Modenschauen, die die aktuellen Erscheinungen der Mode bündelten und an denen sich auch die Entwürfe aus der Modeklasse der Frankfurter Kunstschule orientierten. Somit nimmt die Modeklasse innerhalb der Kunstschule eine Sonderposition ein: Ihre Alltagskleider und Abendgarderoben kennzeichnen ein klassisch bürgerliches Frauenbild, und es finden sich keinerlei Anzeichen, dass hier mittels avantgardistischer Schnitte der neue Mensch der Zukunft erschaffen werden sollte. Bezogen auf die berufliche Qualifikation jedoch lassen sich emanzipatorische Bestrebungen dahingehend erkennen, dass ein sogenannter „Frauenberuf“ durch einen höheren Abschluss eine Aufwertung erfahren sollte. Margarethe Klimt übte ihre Tätigkeit in Frankfurt bis 1943 aus und verließ dann das vom Krieg schwer gezeichnete Deutschland in Richtung Wien, wo sie von 1949 bis 1959 an der Akademie für Angewandte Kunst arbeitete und die Meisterklassen im Modesektor betreute. 125


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_________ Modeklasse in der Kunstschule mit Margarethe Klimt 1929

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Martin Elsaesser _________ EntwĂźrfe zur Kunstschule Frankfurt 1926/27

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Eine Reformschule _________

Was Fritz Wichert, wie zu Beginn dieses Kapitels ausgeführt, als Polarität an der Schule bezeichnete, war zumindest auch ein latenter Sprengstoff. Die konservativen Altlehrer fühlten sich von den neuen modernen ins Abseits geschoben, waren aber zumeist noch an der Schule präsent oder zumindest in ihrem Umfeld. Einen konsequenten Umbruch konnte es so kaum geben. Fritz Wichert war fraglos eine gewichtige Figur, hätte die Schule aber auch anders etablieren können. Ausgebildet an einer Moderne der Städelschule unter Georg Swarzenski, während des Ersten Weltkriegs im höheren diplomatischen Dienst und erfolgreicher junger Gründungsdirektor der Kunsthalle Mannheim, war er bei seinem Antritt 1923 mit allen Vorschusslorbeeren versehen. Vielleicht war seine Etablierung der neuen Schule aber auch zu gründlich – oder zu zögerlich. Gropius hat da in Weimar schneller gehandelt, hat alle alten Lehrer herausgehalten und flugs ein Bauhausmanifest aus zum Teil schon bestehenden Texten zusammengeschrieben. Der Anspruch, Kunst und Leben zu vereinigen, angewandtes und freies Gestalten zu nivellieren, ist in Frankfurt ebenso wenig gelungen wie am Bauhaus. Die Kunst blieb Kunst und fand eine ganz andere Wertschätzung als das Design oder, wie es damals hieß, die „angewandte Kunst“. Obwohl Das Neue Frankfurt letztlich vielleicht mehr für eine „Zweite Lebensreform“ – nach derjenigen der Jahrhundertwende – geleistet hat als andere Schulen und Städte in Deutschland, ist eine Anerkennung bis heute ausgeblieben. Dafür fehlten letztlich auch die Symbole. Der Entwurf der Kunstschule von Elsaesser, der das Weimarer und Dessauer Bauhaus zitiert und damit beide vereinnahmt und somit übertrumpft hätte, blieb ungebaut. Die Frankfurter Kunstschule verstreute sich nach dem Krieg personell nach Russland, Afrika, Wien, Istanbul und – Sylt. Das Bauhaus hingegen erlebte dank Gropius und seiner Mitstreiter eine glorreiche Mystifizierung im siegreichen Amerika. kk 131


Anton Brenner, Assistentin Margarete Lihotzky _________ Entwurf für eine Küche im Gemeindebau Wien, Ecke Rauchfangkehrergasse 26 / Heinickegasse 1 1924/25

Die Frankfurter Küche _________

Die von Ernst May so bezeichnete Frankfurter Küche gehört zu den herausragenden Beispielen des Frankfurter Moderneprojekts der 1920er Jahre. Mit diesen Einbaumöbeln wurde erstmals in großem Umfang der Typisierungsforderung aus der Werkbunddiskussion vor dem Ersten Weltkrieg entsprochen. Die neue Küche war darüber hinaus integrales Element einer neuen und konzeptionsorientierten Architekturhaltung, die sich durch innere Funktionsbereiche und nicht durch äußere Fassaden definierte. Als erstmals in großem Umfang hergestellter Typus einer reinen Arbeitsküche mit sozialpolitischem und gesellschaftlichem Hintergrund und entsprechender Relevanz wurde sie schließlich zum weltweit verbreiteten Vorbild typisierter Gestaltung, die das Wohnen nachhaltig verändert hat, wenn nicht gar „zur Matrix der Ökonomie der insgesamt durchrationalisierten neuen Wohnungen“. 5 Mit 1,90 Meter Breite und 3,40 Meter Länge (d.h. insgesamt nur 6,5 Quadratmetern), einer jeweils 90 Zentimeter breiten Tür zum Flur und zum Wohnbereich sowie einem 1,40 Meter breiten, liegenden Außenfenster definieren die Maße der Musterküche einen extrem reduzierten Raum – die Frankfurter Küche war, so ihre Entwerferin, „in erster Linie eine Bauprojektierungs- und Finanzierungsentscheidung und erst in zweiter Linie eine Einrichtungsfrage“. 6 Der pädagogische Impetus, den dieses Projekt hatte, ist jedoch nicht zu übersehen. Einbaumöbel waren eine grundsätzliche Entscheidung der Frankfurter Gestaltungspolitik und resultierten nicht nur aus der möglichst kleinen und damit preiswerten Grundfläche, sondern auch aus der Vision für eine zukünftige flexible Wohnungsnutzung, bei der bei einem Umzug nur Tische und Sitzmöbel mitgenommen zu werden brauchten. Die Küchen waren auf eine Haltbarkeit und Nutzungszeit von 30 bis 35 Jahren ausgelegt. 7 182


Grundprinzip der Küche waren kurze Wege und Griffbereiche. Die Breite der Küche war so berechnet, dass man sich von der Schrank- und Spülwand zur Herdwand nur umzudrehen brauchte. Schütte-Lihotzky hatte dazu schon in Wien umfangreiche Untersuchungen zu einer rationellen Haushaltsführung angestellt, die dann in Frankfurt eine konsequente Umsetzung fanden. So wurden die notwendigen Wege zum Bereiten und Auftragen einer Mahlzeit von 19 Metern auf 6 Meter reduziert. Ein weiteres Prinzip dieses Konzepts bestand in der Herstellung umfangreicher Ordnungssysteme. Eine Küche „müsste aussehen wie eine Apotheke, wo jedes Fläschchen und jede Kleinigkeit sein ganz besonderes Gefach oder seinen ganz bestimmten Platz hat […] auch alle Gewürze und sonstigen Dinge […] sollte man in Glasdosen geben […]“, 8 schrieb Schütte-Lihotzky schon 1921 in dem bereits angesprochenen Aufsatz für die Zeitschrift Das Schlesische Heim von Ernst May in Breslau.

Von der Wohnküche zur Arbeitsküche _________

Die Festlegung auf eine kleine Arbeitsküche ergab sich in nur wenigen Wochen aus Diskussionen im Frankfurter Hochbauamt. Ernst May hatte noch 1925 im Schlesischen Heim geschrieben: „Bei allen Typen ist der Herd bzw. die Wohnküche, in der er angeordnet ist, zum Mittelpunkt des Hauses gemacht. Für die Bewohner der Kleinwohnungen, die 85% der Bevölkerung ausmachende Schicht der Minderbe183


Margarete Sch체tte-Lihotzky _________ Frankfurter K체che auf der Sonderschau Die Neue Wohnung und ihr Innenausbau w채hrend der Fr체hjahrsmesse 1927

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Margarete SchĂźtte-Lihotzky _________ Die Frankfurter KĂźche Ausstellungsansicht Museum Angewandte Kunst 2017

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Walter Dexel _________ Entwurf zu einer Reklameuhr Sternwartzeit GmbH Um 1927 _________ Entwurf Signaletik, Orientierungstafel fĂźr Beruf, Gewerbe und Handwerk, Frankfurt-Bornheim Um 1927

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Bauberatung _________

Die zweite wichtige Abteilung des Baudezernats, die Abteilung für Bauberatung, bestand unter der Leitung von Adolf Meyer von 1925 bis 1929. Beratung war dabei nicht ganz das richtige Wort, es ging wohl eher um „Baubestimmung“. Auch private Bauherren sollten angehalten werden, die neue Ästhetik einzuhalten und nach Möglichkeit die „Frankfurter Normen“ anzuwenden. Dazu verfügte man durchaus über Druckmittel, etwa durch die Vergabe von Geldern aus der Hauszinssteuer. Auch der öffentliche Raum fiel in die Zuständigkeit der Bauberatung. Dazu wurde Walter Dexel 1926 als Berater für Reklamegestaltung an das Frankfurter Baudezernat berufen. Er sollte eine Reklameordnung ausarbeiten, die vordergründig das Werbechaos ordnen, aber letztlich die rigiden Vorstellungen der Modernisierer auch in der Altbebauung der Stadt sichtbar machen sollte. Dexel war dabei durchaus radikal: Die Orientierung war ihm wichtiger als das Individuum: „Der Arzt, die Hebamme, die Autoreparaturwerkstatt, die Autoausfuhr, Postämter, Fernsprechzellen u.v.a. sollten uns durch Zeichen geläufig werden […] Wie vernünftig und wichtig sind diese Zeichen! Wir wollen ja gar nicht wissen, wie der Bäcker, der Konditor, der Fleischer […] u.s.w. heißen […], sondern wir wollen sie auf schnelle und bequeme Weise finden und dazu dient das Branchenzeichen in unübertrefflicher Weise.“ 24 Die Reklameordnung, die wie die Bauordnung polizeilich hätte geahndet werden können, passierte das Stadtparlament aufgrund der Proteste von Gewerbetreibenden nicht und wurde 1928 als „Richtlinien für Reklamegestaltung“ veröffentlicht. Ähnlich verhielt es sich mit einer geplanten Friedhofsordnung, bei der nur noch von Hartwig und seinen Studierenden der Kunstgewerbeschule entworfene Mustergrabsteine hätten verwendet werden dürfen. Und auch mit dem Corporate Design verhielt es sich schwierig. May hatte den Maler und Grafiker Hans Leistikow aus Breslau mitgebracht, der für die Stadt ein neues Erscheinungsbild entwickeln sollte.

Hans und Grete Leistikow _________

Walter Dexel Hans Leistikow Um 1927 Margarete Leistikow Um 1920

Der am 4. Mai 1892 in Elbing, nahe Danzig, als Neffe des bekannten Berliner Sezessionisten Walter Leistikow geborene Hans Leistikow (1892–1962) begann mit 15 Jahren ein Studium an der Breslauer Kunstakademie. Dessen Direktor Hans Poelzig brachte ihn in Kontakt mit dem Stadtbaurat Max Berg, der den Maler und Zeichner mit angewandten Aufträgen versah: dem Entwurf von architekturbezogenen Farbgestaltungen, Wandgemälden, Glasfenstern, Leuchten, Teppichen und Werbegrafiken. 25 1922 entstand auch ein erster Arbeitskontakt zu dem dort ebenfalls tätigen Architekten Ernst May. 191


Grete Leistikow _________

Mit einigen Jahren Berufserfahrung aus dem Atelier Elfriede Reichelt ausgestattet, kam Grete Leistikow 1927 nach Frankfurt, wo ihr Bruder Hans bereits als Grafiker im Hochbauamt leitend tätig war. Sie fotografierte mehrere Siedlungen und öffentliche Bauten, wie das Prüfamt 6 von Adolf Meyer, die Schule in der Römerstadt und das Gartenbad in Fechenheim, beide entworfen von Martin Elsaesser. Außerdem sind ausdrucksstarke Aufnahmen des Wohnhauses von Ernst May erhalten, die auch den Außenbereich mit dem von Leberecht Migge angelegten, klar strukturierten Garten und das Gebäude von einer erhöhten Position aus zeigen. Die starke Auffächerung in helle und dunkle Felder war ideal, um diese Aufnahmen von Mays Wohnhaus in zeitgenössischen Publikationen abzudrucken. Gleichzeitig sieht man, dass die Fotografin einen Rahmen um ihre Gebäude aufzieht, um den Umraum jeweils mit sprechen zu lassen. Weitere Aufnahmen fertigte Grete Leistikow von dem neu erbauten Gesellschaftshaus im Palmengarten an. Auch hier kam sie zu stark grafischen Lösungen, indem sie beispielsweise durch ihre Perspektivwahl die Fluchtlinien der Gebäudefront betonte. Auf ihren Bildern steht nicht die dokumentarische Aufgabe im Mittelpunkt, sondern der dynamische Blick der Fotografin wird erfahrbar. Leistikow betonte hier das Neue Sehen als bildnerisches Mittel ihrer eigenen zeitgenössischen Fotografie. Eine Aufnahme, die die halbkreisförmige Treppe zum Bierkeller mit drei aufbzw. abgehenden Personen zeigt, ist eine ganz eigenständige und inszenatorische Bildlösung und belegt, dass Grete Leistikow das Lichtbild vor allem als grafisches Bild etablierte. Grete Leistikow erarbeitete gemeinsam mit ihrem Bruder Hans zahlreiche Zeitschriftentitel von Das Neue Frankfurt und ging 1930 mit dem Team Ernst May in die Sowjetunion.

Marta Hoepffner _________

Marta Hoepffner schrieb sich 1929 an der Frankfurter Kunstschule ein und war dort Schülerin von Willi Baumeister. Bei ihm studierte sie Akt- und Figurenzeichnen, freie Grafik, Malerei, Fotografie und Komposition. „Ich ging zu Baumeister, weil er modern lehrte und weil er […] abstrakt arbeitete“, berichtete sie später. „Seine Klasse war groß (zwei Zimmer) und Wichert war streng in der Aufnahme.“ 33 Außerdem besuchte sie das Fotostudio der Kunstschule, das Biering betreute, und machte dort erste Porträtaufnahmen mit der Atelierkamera. Obwohl es an der Schule keine eigene Fotoklasse gab, konzentrierte sich Hoepffner früh auf diese Technik und macht sie auch in ihren weiteren Lebensjahren zu ihrem künstlerischen Medium. Als Willi Baumeister 1933 die Schule verlassen musste, beendete auch Hoepffner ihr Studium und gründete 1934 mit gerade mal 22 Jahren ihr eigenes Fotostudio, das mit Werbe- und Porträtfotografie ihre existenzielle Grundlage bilden sollte. Einer 252


Martha Hoepffner _________ Selbstbildnis im Spiegel 1941 _________ Komposition mit Archipenko-Skulptur 1943

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Zur Moderne am Main von 1919 bis 1933 gehörte nicht nur ein beispielhaftes Städte- und Wohnungsbauprogramm, sondern der universale Anspruch, im Produkt-, Mode-, Interieur-, Industrie- und Kommunikationsdesign sowie in den angewandten und freien Künsten mit neuen Formen alle Bereiche des menschlichen Lebens zu erfassen. Im Verbund mit einer forcierten Industrialisierung ging es darum, eine neue urbane Gesellschaft zu formen. Die Publikation Moderne am Main 1919–1933 will mit bekannten und weniger bekannten Protagonistinnen und Protagonisten dieses ästhetischen, mentalen und sozialen Aufbruchs vertraut machen.

€ 39.00 (D) ISBN 978-3-89986-303-1 Begleitband zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Angewandte Kunst, Frankfurt am Main (19. Januar bis 14. April 2019)


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