N°9 - DE - babymag.ch

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DAS SCHWEIZER MAGAZIN FÜR JUNGE ELTERN MAI/JUNI 2010 - CHF. 6.–

Nr. 9

interview

Marcel Rufo ermutigt die Väter trends

Mode sweet mode Schwangerschaft Erfahrungsbericht

Hoppla, ich habe zu Hause entbunden Psychologie

Mein neuer, unbekannter Körper Party

Baby Showers gewinnen an Beliebtheit

NNGEWIIE SP L

AP S N I B E URLAU

TRAUM iNNEN GEW ZU

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Erziehung

wertvolle Tipps für die Krisen


Ich habe

zu Hause entbunden… (geplant war das nicht !) Geburtshaus, Wassergeburt, mit oder ohne PDA – im Vorfeld dieses grossen, gleichermassen herbeigesehnten und gefürchteten Tages würden wir am liebsten alles durchplanen. Carolina entschied sich für das Krankenhaus und somit eine sichere, medizinische Umgebung. Doch es kam anders und ihr Freund in den Genuss des ersten Blickes seines Kindes, den er nie vergessen wird… Text: Caroline Fernandez - Illustration: Veronica Dall’Antonia

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arolina und Luca lernten sich 2002 kennen. Die gebürtige Zürcherin und begeisterte Wahl- Waadtländerin lebte im Zentrum von Lausanne. Luca stammt aus dem Tessin. Drei Jahre lang führten sie eine Fernbeziehung. Da ihr Kinderwunsch immer akuter wurde, liessen sie sich am Ufer des Genfersees gemeinsam nieder. Und sie verloren keine Zeit. Einige Monate später wurde Carolina schwanger. Gedanken in der Schwangerschaft Carolina arbeitet für das Musée de la Main der Fondation Claude Verdan. Während ihrer Schwangerschaft bereitete sie eine Ausstellung vor, die sich – welch Ironie des Schicksals – mit

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Empfängnis, Geburt und den Ereignissen, die dazwischen liegen, befasste. Dabei hatte sie die Gelegenheit, sich mit der Thematik ausgiebig vertraut zu machen. „Noch bevor ich schwanger wurde, machte mir die Entbindung Angst! Ich bin ein unruhiger Mensch und bei der Vorbereitung dieser Ausstellung bekam ich mit, wie viel dabei passieren kann. Ich wusste viel und doch nicht alles. Es waren nicht wirklich die Schmerzen, die mir Angst machten, sondern eher die Vorstellung, dass etwas schief geht und dem Baby während der Geburt etwas zustösst.“ Angesichts der Vielzahl medizinischer Informationen stellten sich die werdenden Eltern viele Fragen. „Wir führten lange Diskussionen über Ergebnisse der Untersuchungen, die in Ausgabe 9 - Mai/Juni 2010


erfahrungsbericht

Ausgabe 9 - Mai/Juni 2010

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Mein Job?

Mompreneur!

Sie wollen nicht gerade durchs Dach schiessen, aber ihre Mutterschaft verleiht ihnen einen sagenhaften Energieschub. Es genügt ihnen nicht, dass sie gerade ihr erstes Kind zur Welt gebracht haben, sondern sie setzen gleich noch eins darauf, indem sie ein eigenes Unternehmen gründen. Die Rede ist von den Mompreneurs, zugleich Mama und Unternehmerin. Wir haben einige von ihnen getroffen. Text: Maxime Pégatoquet Fotos: Nicolas Righetti/Rezo und Dominic Buettner/Pixsil

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decken eine Art unternehmerischen Babyboom. In den USA soll es gemäss der Site Quotidiennes schon an die 7 Millionen Unternehmermamas geben. Auch in Europa hat die Bewegung Fuss gefasst. In Frankreich gibt es ein Netzwerk, das die Frauen in ihren wirtschaftlichen Unternehmungen unterstützt und die Solidarität untereinander fördert. Jede kann mitmachen und ihre Erfahrungen mit anderen Müttern teilen, die in der gleichen Lage sind. So entstand unter anderem auch die Erfolgsstory von Robeez. Die Marke steht für witzige Babyschuhe, die sich die jungen Eltern gegenseitig aus den Händen reissen.

Und noch eine gute Nachricht für die Damen: Es gibt nicht nur immer mehr Väter, denen die beruflichen Aufgaben gleich wichtig sind wie die familiären, sondern viele, die an der Seite ihrer Frau unternehmerische Abenteuer bestreiten. Zum Auftakt dieser neuen Rubrik stellen wir drei Frauen vor, die ihr Schicksal selber in die Hand genommen haben. Mehr Infos unter: www.mompreneursonline.com www.gogomamago.com http://mompreneurs.over-blog.com www.mompreneurs.fr http://mamanetentrepreneuse. typepad.fr Ausgabe 9 - Mai/Juni 2010

Foto: Fotolia et DR

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ie Mompreneur-Welle nahm ihren Anfang in den USA und in Kanada, schliesslich schwappte sie aus Frankreich in die Schweiz über, wo sich das Phänomen ebenfalls ausweitet. Die Idee ist, dass beruflicher Wiedereinstieg und Zeit für das Kind ohne Abstriche vereinbar sein sollen. Das optimale Betreuungssystem zu finden, kostet oft viele Nerven. Rigide Arbeitszeiten bereiten Schwierigkeiten, und nicht zuletzt kann die Zeit nach der Geburt belastend sein. In anderen Fällen wiederum ist die Auszeit eine willkommene Gelegenheit, die persönlichen Ziele zu überdenken. Manche Frauen werden vom Babyblues gepackt – andere dagegen ent-


mompreneur

Vornamen Sie Ihrem Kind geben, Sie können sicher sein, dass die beiden eine herzige Figur und eine humorvolle Namenspielerei dazu erfinden. So geschehen bei Ryan Sarbacane, Macaro Niels, Marlon Badminton, Barbara Cuda oder Achille Reptile, um nur einige von den insgesamt 250 Kreationen zu nennen.

Barbara und die Nähmaschine

Foto: Nicolas Righetti/Rezo

Hinter dem Label PoukiPoutchi steckt Barbara Haemming de Preux. Sie erfindet witzige Vornamenwortspiele und stickt diese auf Kleinkindbodys. Konzept und Unternehmen sind zu 100 % eine Eigenmarke. Söhnchen Arthur war der erste «Kunde». Sie heisst Barbara, ist knapp dreissig und berichtet, dass die Idee eines eigenen Unternehmens sie und ihren Mann schon eine ganze Weile beschäftigte. „Als dann Arthur zur Welt kam, hat es sich wirklich aufgedrängt“, fügt sie an. Wir sitzen in einem Café ganz in der Nähe ihrer Wohnung, wo sich auch ihr Atelier befindet. Sie wirkt ruhig, nicht sonderlich gestresst, obwohl ihr wegen eines Artikels in der welschen Presse gerade ein Berg Bestellungen auf den Tisch geflattert ist. Der Kleine ist drei Tage pro Woche in der Krippe. Das bietet ihr gerade genug Zeit für sich, denn sie sagt, sie würde ungern 100% arbeiten. PoukiPoutchi wurde Ende letzten Jahres lanciert und verkauft mit einer persönlichen und witzigen Stickerei versehene Bodys, Mützchen und Pullis – ideale Geschenke zur Ausgabe 9 - Mai/Juni 2010

Daten FiRMA: POUKIPOUTCHI ORT: GENF GEBURTSTAG: NOVEMBER 2009 SChWANGERSChAFT: 1 JAHR 1 KiND: ARTHUR WEBSiTE: WWW.POUKIPOUTCHI.COM PRODUKTE: MÜTZCHEN AB 35 FR., BODYS AB 49 FR.

Geburt. Das Material bezieht PoukiPoutchi vom Label American Apparel. Die Hauptsache ist und bleibt der originelle Zugang des Gründerehepaars. Er ist Art Director einer Werbeagentur, sie ist ehemalige Fotografiestudentin der Ecole Cantonale des Beaux-Arts in Lausanne und brilliert im Erfinden der Wortspiele, die die Marke so speziell machen. Was auch immer für einen

Und eins, und zwei, und drei... die Wehen Es geschah natürlich nicht alles wie von selbst: „Zu Beginn wollte ich Kuscheltiere machen“, erinnert sich Barbara. „Nach anderthalb Tierchen hatte ich es satt! Dann versuchte ich es mit Badetüchern, was nicht rentierte. Die Stickerei gefiel mir schliesslich am Besten.“ Arm in Arm machte sich das Ehepaar also letzten Sommer auf, um eine Nähmaschine zu kaufen. Sie investierten auf einen Schlag 4000 Franken und nochmal dieselbe Summe für die ersten 500 Blanko-Kleidungsstücke. Seither stickt Barbara wie wild. „Während des ersten Monats rackerte ich mich von morgens um 9 bis nachts um 2 ab. Ich habe mich anfangs oft verstickt!“ Und woher kommt der Name? „Als mein Mann und ich uns kennen gelernt hatten, machten wir Ferien in Griechenland. Dort gibt es viele Katzen, ich nannte sie „Pouki, Pouki!“ - und er ärgerte mich, indem er „Poutchi“ daraus machte.“ Ein Jahr Schwangerschaft „Der Schlüssel zu unserem (kleinen) Erfolg ist unsere Ruhe; wir haben von Anfang an darauf geachtet, nichts zu überstürzen.“ Das Projekt reifte ein Jahr lang, zu zweit, später zu dritt, wogen sie alle Entscheidungen ab. Werbung machten sie zunächst im eigenen Umfeld – durch Mails an Freunde, dann mit einem eigenen Facebookprofil. Jetzt kommen auch Flyers zum Einsatz. Es geht ihnen nicht ums Geld: So läuft momentan das Projekt „Pooki & Haïti“. Einkünfte daraus fliessen über das Genfer Hilfswerk Enfants du Monde der durch das Erdbeben zerstörten Insel zu (Details auf der Website). Barbara ist zufrieden mit ihrem Leben. Sie hat einen kleinen Lohn und überlegt, bald ins Ausland zu gehen... die Nähmaschine kommt natürlich mit!

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Knackige Erdbeeren Maïa

Glockenkleid, ab CHF 105.– (Catimini)

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fashion

Verschmitzter Sandkuchen Lou

Kleid, CHF 65.– (Cyrillus), Foulard, CHF 10,90 (Manor)

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Schritt für Schritt Jedes Kind lernt laufen. Doch das Wie ist individuell verschieden. Barfuss oder mit Schuhen, mit oder ohne Lauflernhilfe, im Laufgitter oder ausserhalb. Zwei Ärzte geben uns Tipps, damit unsere Kleinen lernen, mit dem richtigen Fuss aufzustehen. Text: Josianne Rigoli - Illustrationen: www.minevander.com

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bwohl gleich alt, sind Babys nicht gleich. Die einen laufen schon vor dem Alter von zehn Monaten und werden dafür von den Eltern gelobt. Andere bewegen sich lieber im Sitzen fort, oder krabbeln auf allen Vieren und erkunden so ihre Umgebung. Wer denkt, dass diese Babys „entwicklungsverzögert“ sind, irrt sich, denn jedes Kind entwickelt sich nach seinem eigenen Rhythmus. Wenn ein Kind überhaupt kein Interesse am

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Laufen zeigt, dann bedeutet dies, dass es einfach noch nicht bereit ist, oder dass es sich gerade in anderen Bereichen, wie Spracherwerb oder Feinmotorik (die Fähigkeit, kleine Gegenstände mit den Fingern zu halten) entwickelt. Einige Eltern sind allerdings besorgt, wenn ihre Kleinen sich mit dem Laufen Zeit lassen. Nicht selten quälen sich Mütter mit der Frage, warum ihr 7 Monate altes Baby noch nicht läuft und wie man es dazu anregen könnte… Um diesen Müttern die Angst zu nehmen, sprach Babymag.ch mit zwei Experten über diese ersten und so wichtigen Schritte. Hier die Antworten der Kinderärztin, Kinderpsychiaterin und Leiterin des Genfer Centre Brazelton*, Dr. Nadia Bruschweiler Stern, sowie der in Belmont-sur-Lausanne praktizierenden Physiotherapeutin Véronique Duvoisin, die sich auf Säuglinge, Kinder und Teenager spezialisiert hat.

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6-12 monate

babymag.ch: Ab welchem Alter sollte man sich Sorgen machen, wenn das Kind noch nicht laufen kann? Dr. N. Bruschweiler Stern: Man sagt, dass 98% der Babys mit 18 Monaten laufen können. Unter den bleibenden 2% sind viele, die sich in anderen Entwicklungsbereichen hervortun. Alle Kinder lernen laufen, es sei denn es liegt ein neurologisches Problem vor, was aber sehr selten ist. Die Eltern sollten wissen, dass das Laufen in der biologischen Entwicklung ihres Kindes vorprogrammiert ist. Auf drei Wochen kommt es da nicht an. Das sagt auch nichts über ihren IQ aus! Véronique Duvoisin: Ausgehend von meiner Erfahrung würde ich die Grenze bei 24 Monaten ansiedeln. Bis dahin müssen sich Eltern keine Sorgen machen.

Stimmt es, dass die Körperfülle des Babys dabei eine Rolle spielt? Dr. B. S.: In der Tat. Wer mehr wiegt, hat es schwerer, das Gleichgewicht zu verlagern. So sind fülligere Babys etwas weniger mobil als andere. V. D.: Ja, Laufenlernen ist für die Kleinen mit Gewichtsproblemen schwieriger. Dafür sind sie sorgfältiger und haben eine bessere Beobachtungsgabe. Ist das Temperament der Motor dieser Entwicklung? Dr. B. S.: Gewiss, aber auch andere Faktoren spielen eine Rolle, vor allem die Gene. In einigen Familien laufen die Kinder sehr früh, in anderen sehr spät. Auch die Interaktion mit den Eltern ist wichtig: Ein Kind, das seine Erfahrungen machen darf, das dazu angeregt wird, neue zu machen und dafür gelobt wird, wird eher laufen, als ein überbehütetes Baby, das von seinen Eltern zurückgehalten und dabei gehindert wird, seine Umgebung zu erkunden. Sollte man ein sitzendes Kind aufstellen? Dr. B. S.: Die Kinder zeigen uns sehr deutlich, was sie wollen und was nicht. Aber die Lust zu laufen kommt durch Interaktion, nicht durch Zwang. Laufen ist kein Sport, es ist ein Vergnügen, ein Fortschritt. Übrigens bereiten sich Babys auch Ausgabe 9 - Mai/Juni 2010

nachts auf das Laufen vor. Das ist einer der berühmten „Touchpoints“ von Brazelton. Ein Kind, das zuvor durchschlief, erwacht zwischen zwei Schlafphasen und steht plötzlich in seinem Bettchen! Das ist ein Anzeichen, dass es sich auf das Laufen vorbereitet. Von seiner neuen Position überrascht, weint das Kleine, die Eltern legen es wieder hin, trösten es und versuchen, es wieder zum Einschlafen zu bringen… So etwas kann wiederholt vorkommen. Die Eltern sind übermüdet und machen sich Sorgen, wenn sie nicht wissen, was die Ursache ist. Denken Sie, dass Lauflerngeräte nützlich sind? Dr. B. S.: Babywalker fördern die Entwicklung nicht. Das Kind kommt so in eine vertikale Position und lernt nicht, wie man richtig fällt. Und das ist gefährlich. Es kann sich dann auch mit hoher Geschwindigkeit durch den Raum bewegen und Gegenstände an sich reissen, die hoch liegen. Dabei hat es weder gelernt, das Gleichgewicht zu halten, noch nach diesen Gegenständen zu greifen. Mit dem Lauflerngerät überspringt man eine essentielle Etappe, die beim Laufenlernen erforderlich ist. Es handelt sich um einen Vorgang, der sich schrittweise vollzieht. Wenn man einen Schritt überspringt, entgeht einem etwas. Kinder, die an solche Geräte gewöhnt sind, fallen schlechter und fühlen sich am Boden weniger wohl, was bedauerlich ist. V. D.: Sobald sich das Kind in diesem Gerät befindet, wird es zunächst zurückrollen. Sobald es mehr Kraft in seinen Beinen hat, wird es sich nach vorn gebeugt fortbewegen, so als ob es schwimmen würde. Für ein Kind, das bereits gehen kann, ist ein Lauflerngerät ab und an sich in Ordnung. Aber für ein Kind, das noch nicht laufen kann, ist das wirklich nicht empfehlenswert. Ich denke, dass diese Vorrichtungen das Leben der Eltern zunächst erleichtern. Später wird es aber umso schwieriger. Denn das Kind, das sich an die Gehlernhilfe gewöhnt hat, erlernt nicht die grundlegenden Bewegungsabläufe. Es lernt nicht, wie man die Füsse abwechselnd belastet und dabei das Gleichgewicht hält. Neben dem, was Dr. Bruschweiler Stern bereits

erwähnt hat, sind diese Kinder somit nicht in der Lage, auf den Boden zurückzukehren und wollen immer gestützt werden. Anstelle eines Lauflerngeräts empfehle ich einen Lauflernwagen, den das Kind schieben muss, während es einen Fuss vor den anderen setzt. Grundlegende Bewegungsabläufe lernt man also am besten auf dem Boden? Dr. B. S.: In der Tat. Das Kind muss sich zunächst auf allen Vieren abstützen können und lernen, die Balance zu halten, mit einem Arm loszulassen, um damit nach einem Gegenstand zu greifen. Anschliessend beginnt es, sich hochzuziehen, wieder los zu lassen, ein bisschen das Gleichgewicht zu halten, und einen Fuss beim Drehen des Körpers am Boden zu lassen, denn nur so funktioniert es. Wenn Eltern mit ihren Kindern auf dem Boden spielen, können sie eine Methode anwenden, die mir sehr gefällt. Es geht um die „Zone der nächsten Entwicklung“. Dabei fordern die Eltern das Kind auf, etwas zu tun, das ihm noch nicht ganz gelingt, aber fast. Nichts Unmögliches, was das Kind entmutigen und frustrieren würde. Aber wenn man es dazu anregt, nur ein bisschen weiter zu gehen, entwickelt das Kind sich weiter, fühlt sich ermutigt und unterstützt. Und das ist toll, weil das Kind so in eine Erfolgsspirale kommt, die es motiviert. Es ist zufrieden und hat Spass. V. D.: Wenn ich mit Kindern arbeite, bei denen aufgrund eines Babywalkers eine Entwicklungsverzögerung eingetreten ist, beginne ich mit Übungen auf dem Boden, bäuchlings, und dann auf allen Vieren. Anschliessend platziere ich Gegenstände etwas erhöht, damit sie lernen, sich zu ihnen hochzuziehen und dann wieder auf den Boden zu kommen. Sollte man das Kind mit den Händen stützen? V. D.: Die Eltern und andere Erwachsene sollten sich den Rücken nicht kaputt machen, um ihre Kleinen beim Laufenlernen zu unterstützen. Man sollte auch auf keinen Fall systematisch der Forderung des Kindes nachkommen. Und wenn man es an der Hand hält – nie mit beiden Hän-

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Mon Vater, ein Held mit Fehlern Superman und Punchingball in einem zu sein, ist für einen Vater keine einfache Rolle. Der renommierte Kinderpsychiater und Arzt Marcel Rufo richtet sich in unserem Interview an die Väter von heute. Eine Begegnung mit Folgen. Text: Paul Lester

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s war an einem kühlen Morgen, als mich Marcel Rufo im ruhigen Salon eines Genfer Hotels empfing – entgegenkommend, lächelnd, unkompliziert, mit der ihm eigenen mediterranen Wärme. Eine halbe Stunde später duzte er mich und unterhielt sich lebhaft mit mir, als würden wir uns schon ewig kennen. Lachend meinte er, ich gehöre zu den wenigen Journalisten, die ihm keine persönlichen Erziehungsfragen stellten. Als ich den Autor von Chacun cherche un père* verliess, fühlte ich mich irgendwie ein wenig mehr als Vater. An jenem Tag brachte ich meinen beiden Jungs einen kleinen Drachen und einen Spielzeugritter mit nach Hause. Marcel Rufo hat mich daran erinnert, dass auch kleine Geschenke die Beziehung erhalten. babymag.ch: Endlich ein Buch, das den Vätern gewidmet ist. War es für Sie auch eine Möglichkeit, die Erinnerung an Ihren eigenen Vater wachzurufen? marcel ruffo: Ja, zweifellos. Für mich ist er ein «vertrauter Unbekannter» geblieben. Er ist 1992 gestorben. Diese Zeit war wohl nötig, um zu verstehen, was mich mit ihm verbunden hat. Zu verstehen auch, was ich nicht unmittelbar begriffen habe, nämlich die Bedeutung, die er für mein Leben hatte.

Kennt man denn den eigenen Vater nie ganz? Der Vater hält sich oftmals ein wenig bedeckt. Er weiss genau, dass er nicht der Held ist, für den sein Sohn ihn hält. Auch wenn er natürlich selbst gern ein bisschen daran glaubt. Auf einem Podest steht es sich schliesslich ganz angenehm, der Vater versteckt

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sich gern hinter dieser strahlenden Aura. Dieses Spiel dauert einige Zeit an. Ein Junge muss seinen Vater bewundern können, damit dieser ihn eines Tages ebenfalls bewundert. Es ist ein Austausch. Diese Beziehung hat etwas sehr Dialektisches.

Wie Atlas, der Titan aus der griechischen Mythologie. Er hebt sein Kind über die Wolken, zu den Helden empor. Er ist die Treppe zum Ruhm, «der Stärkste auf der Welt». Das Kind entwickelt sich, indem es seinen Vater idealisiert.

Ein Held – ist dies die Rolle, die der Vater für den Sohn in erster Linie einnimmt? Ja. Ich glaube sogar, auch wenn man im Alltag auf den Vater in gewissem Mass verzichten kann – seine symbolische Dimension bleibt unentbehrlich. Deren Fehlen bildet nicht selten den Nährboden von Psychosen. Niemand kann auf eine väterliche Instanz verzichten, auf dieses mosaikartig zusammengefügte Bild aus Realität und Fantasie. Niemand vergisst je ganz den heroischen Vater seiner Kindheit, diesen Traumvater, der uns seinen Traum vom Heldentum vererbt hat.

Dennoch, betonen Sie, lässt sich das Kind nie ganz täuschen. So ist es. Aber es spürt, dass es diese Fantasien für seine Entwicklung braucht. Es muss an sie glauben. Ebenso akzeptiert auch der Vater, dass er sich für seine Rolle ein Kostüm überstreifen muss, das ihm eigentlich zu gross ist.

Sie verwenden diesen schönen Ausdruck des Vaters, der «die Welt des Kindes auf seinen Schultern trägt».

«Bedenken Sie, dass sich ein Jugendlicher in der Pubertät sowieso andere Helden suchen wird. Mit diesen dekoriert er die Wände seines Zimmers. Oder kennen Sie etwa einen Jugendlichen, der Poster seines Vaters aufgehängt hat?»

Und das funktioniert bei jedem Vater, selbst bei einem miserablen oder bei einem, der nie da ist? Ja. Das ist ja das Erstaunliche. Selbst der schlechteste aller Väter ist der grösste Held. Dann kommt die Pubertät… und damit das grosse Hallo. Um frei zu sein, muss man seine Idole demontieren. Der Vater wird zum Punchingball der Zweifel. Und es wird eine Menge gezweifelt in der Pubertät. Der Jugendliche stellt am liebsten den eigenen Vater in Frage, das ist das Bequemste. Er macht ihn zur Ursache, zum Grund für sein gefährdendes Verhalten, seine Aggressionen gegenüber anderen oder sich selbst. Das Kind kultiviert noch eine Art magisches Denken. Die Mutter als stets liebevolle Prinzessin, der Vater mit seinen Zauberkräften – auf diesen Elementen baut das Kind seine Identität auf. In der Pubertät hat es dies nicht mehr nötig, muss sich sogar davon befreien. Die Mutter – Ausgabe 9 - Mai/Juni 2010


36 monate und alter

sie bleibt das Umfassende, das, was uns umhüllt. Vater und Mutter – zwei Rollen, die man nicht miteinander verwechseln kann. Können sie auch von gleichgeschlechtlichen Personen ausgefüllt werden? Ich befürworte die Adoption durch gleichgeschlechtliche Paare. Unter einer Bedingung: Nicht ein Paar allein, sondern zwei Familien sollten die Kinder adoptieren. Das gilt auch bei der klassischen Adoption. Viel zu häufig verheimlicht das homosexuelle Paar – wie auch das ungewollt kinderlose heterosexuelle Paar – seinen Kinderwunsch vor anderen. Dabei sollte dieser Wunsch gerade aus einer Offenheit heraus entstehen. Warum sollte ein adoptierter kleiner Junge nicht eine Grossmutter, eine Tante, einen Grossonkel haben? Die JungeMädchen-Identifikation erfolgt nicht nur in einer Weise. Zur Konstruktion der eigenen Identität reicht es aus, Vorbilder zu haben. Hiervon einmal abgesehen bin ich überzeugt, dass Homosexuelle hervorragende Eltern sein können.

Foto: Muriel Berthelot

Und ein Vater, der bei der Geburt des Kindes bereits älter ist? Einerseits wird er früher mit Problemen konfrontiert. Im Kindergarten werden die Freunde seines Sohnes tuscheln, er sehe aus wie ein Grossvater. Andererseits kann es sein, dass der Jugendliche später weniger rebelliert gegen einen dynamischen Vater – oder einen Vater, der von sich annimmt, noch dynamisch zu sein. Sie spielen nicht mehr in derselben Liga. Die Pubertät ist für einen Jungen die Bestätigung, dass er mit seinem Vater gleichauf ist, dass er keine Angst mehr vor ihm hat. Ist es heutzutage also wirklich einfacher, Vater zu sein? Jedenfalls werden moderne Väter ihrer Rolle besser gerecht. Sie trauen sich, auch ihren weiblichen Seiten Ausdruck zu verleihen. Und das ist toll, vor allem mit kleinen Kindern. Sie sind demokratischer als früher. Etwa, was die Berufswahl des Sohnes anbelangt. Zugleich mangelt es ihnen manchmal an Bestimmtheit. Ausgabe 9 - Mai/Juni 2010

Sie wissen nicht mehr so genau, wo die Grenzen zu setzen sind. Das ist eine Folge ihres Fortschritts. Ein Vater sollte also nicht Kumpel sein wollen? Man sollte nicht immer gefallen wollen. Ihre Aufgabe besteht nicht darin, Ihren Jungs zu gefallen (im Übrigen auch nicht Ihren Mädchen). Sondern darin, ihr Vater zu sein. Ganz einfach. Wenn ich das so sagen darf. Denn selbstverständlich ist das schwieriger, als der idealisierte Papa des kleinen Jungen zu sein – sich selbst zu sein gegenüber einem sich erst aufbauen-

den Ich. Bedenken Sie, dass sich ein Jugendlicher in der Pubertät sowieso andere Helden suchen wird. Mit diesen dekoriert er die Wände seines Zimmers. Oder kennen Sie etwa einen Jugendlichen, der Poster seines Vaters aufgehängt hat? Wenn ja, sagen Sie mir Bescheid, ich werde ihn unverzüglich als Patienten aufnehmen. Der Teenie sucht sich andere Idole anstelle des verlorenen Helden von früher. Wann haben Sie persönlich erkannt, dass dieser Obst- und Gemüseverkäufer, mit seinen Stärken und Schwächen, Ihr

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