Pierre-Laurent Aimard
Pierre-Laurent Aimard Donnerstag 26.
Oktober 2017 19.30 Uhr
Pierre-Laurent Aimard Klavier
Julian Anderson (*1967) Aus Sensation (2015/16) II. Toucher
George Benjamin (*1960) Aus Shadowlines Six canonic preludes for piano (2001) IV. Tempestoso V. Very freely
György Ligeti (1923–2006) Aus Études X. Der Zauberlehrling (1994) XII. Entrelacs (1993)
György Kurtág (*1926) Aus Játékok („Spiele“) Passio sine nomine (2015)
Marco Stroppa (*1959) Aus Miniature estrose (1991–2001) Passacaglia canonica in contrapunto policromatico Elliott Carter (1908–2012) Caténaires (2006)
Pause
Olivier Messiaen (1908–1992) Aus Catalogue d’oiseaux (1958) VII. La Rousserolle effarvatte
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Ein pianistisches Kaleidoskop Zum Programm von Pierre-Laurent Aimard
A Pianistic Kaleidoscope On Pierre-Laurent Aimard’s Program
Julian Ander son
Toucher Toucher („Berühren“) ist, wie der Titel nahelegt, eine in musikalischer Textur und Farbe ausgedrückte Hommage an die vielen unterschiedlichen pianistischen Anschlagstechniken. Diese werden nacheinander und in verschiedenen Kombinationen dargestellt, wobei besonderes Gewicht liegt auf der französischen Tradition des „jeu perlé“ – das Spielen mit großer Leichtigkeit, Geschwindigkeit und Klarheit –, die Pierre-Laurent Aimard, dem das Stück gewidmet ist, so brillant beherrscht. Toucher is, as the title suggest, a celebration in musical texture and color of the many different types of pianistic touch. These are summoned up in succession and varied combination, with particular emphasis on the French tradition of the jeu perlé—playing of great lightness, speed and clarity—of which Pierre-Laurent Aimard, to whom the piece is dedicated, is such a brilliant exponent. Julian Anderson
Julian Anderson
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George Benjamin
Shadowlines Shadowlines besteht aus einer Folge von Stücken, allesamt Kanons verschiedener Art, die als kontinuierliches, kumu latives Ganzes angelegt ist: 1. Ein kurzer, scheinbar improvisierter Prolog. 2. Das hohe Register, heftig und chromatisch harsch, kontrastiert mit dem tiefen, konsonant und ruhig; eine knappe Coda vereint diese Gegensätze. 3. Ein Miniatur-Scherzo, das sich innerhalb von nur eineinhalb Oktaven im Bass abspielt und unmittelbar überleitet zu – 4. Explosiv und wie ein Monolith, die Hände des Pianisten permanent auseinandergerissen und dann in rhythmischem Unisono wieder zusammenfindend. 5. Der umfangreichste und lyrischste der Sätze. Im Zentrum eine langsame Bassfigur, über der sich eine kontrastreiche Abfolge von Texturen aufbaut. Nach einer kurzen Pause – 6. Ein einfacher und sanfter Epilog. Dieses Werk entstand für Pierre-Laurent Aimard.
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Shadowlines is a sequence of pieces, all canons in different ways, that was conceived as a continuous, cumulative structure: 1. A brief, seemingly improvisatory prologue. 2. The high register, fierce and harshly chromatic, against the lower, which is consonant and calm; a compact coda reconciles these opposites. 3. A miniature scherzo, all within the space of one and a half octaves in the bass, leading immediately to— 4. Explosive and monolithic, the pianist’s hands perpetually rifting apart, then re-uniting in rhythmical unison. 5. The most expansive and lyrical movement. At its heart a slow ground-bass, over which builds a widely contrasted procession of textures. After a short pause— 6. A simple and gentle epilogue. This work was written for Pierre-Laurent Aimard. George Benjamin
George Benjamin, Shadowlines (Satz / movement I)
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Gyรถrgy Ligeti, Entrelacs (Skizze / sketch)
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György Ligeti
Der Zauberlehrling Entrelacs [Wenn ich komponiere,] lege ich meine zehn Finger auf die Tastatur und stelle mir Musik vor. Meine Finger zeichnen dieses mentale Bild nach, indem ich Tasten niederdrücke, doch die Nachzeichnung ist sehr ungenau: Es entsteht eine Rückkopplung zwischen Vorstellung und taktil-motorischer Ausführung. So eine Rückkopplungsschleife wird, ange reichert durch provisorische Skizzen, sehr oft durchlaufen. Ein Mühlrad dreht sich zwischen meinem inneren Gehör, meinen Fingern und den Zeichen auf dem Papier. Das Ergebnis klingt ganz anders als meine ersten Vorstellungen: Die anatomischen Gegebenheiten meiner Hände und die Konfiguration der Klaviertastatur haben meine Phantasie gebilde umgeformt. Auch müssen alle Details der entstehenden Musik kohärent zusammenpassen, wie Zahnräder ineinandergreifen. Die Kriterien dafür befinden sich nur in der Klaviatur – ich muss sie mit der Hand erfühlen. Meine Etüden sind weder „avantgardistisch“ noch „traditionell“, nicht tonal und nicht atonal – und keinesfalls postmodern, da mir die ironische Theatralisierung der Vergangenheit fernliegt. Es sind virtuose Klavierstücke, Etüden im pianistischen wie im kompositorischen Sinne. Sie gehen stets von einem sehr einfachen Kerngedanken aus und führen vom Einfachen ins Hochkomplexe: Sie verhalten sich wie wachsende Organismen.
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[When I compose,] I put my ten fingers on the keyboard and imagine music. My fingers trace that mental image by pressing the keys, but the drawing is highly imprecise: there is a kind of feedback between the imagination and the tactile, motoric execution. That feedback circles back on itself in a loop many times, enhanced by tentative sketches. A millstone turns between my inner hearing, my fingers, and the symbols on the page. The results sound completely different than my initial ideas: the anatomical condition of my hands and the configuration of the keyboard have transformed the images of my invention. It is also crucial that all details of the emerging music form a coherent whole, like gears in motion. The criteria for this exist only partially in my imagination, they are also located in the keyboard—I have to discover them with my hands. My Études are neither “avant-garde” nor “traditional,” neither tonal nor atonal—and certainly not postmodern, for I am not interested in the ironical theatricalization of the past. They are virtuosic piano pieces, exercises both in the pianistic and the compositional sense. They always begin with a very simple core idea and lead from the simple to the highly complex: they behave like growing organisms. György Ligeti
György Ligeti, 1982
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György Kur tág
Passio sine nomine Eigentlich sind nicht die ausgetretenen Pfade wesentlich, sondern die Bewahrung der Frische. Ja, ich weiß, wie eine besondere Stelle sein muss, aber es funktioniert oft gerade deshalb nicht, weil ich es weiß. Es muss noch etwas dazukommen. […] Es ist gefährlich, wenn jemand allzu gut weiß, was er will. […] Eigentlich ist dies auch die Beschreibung meines Kompositionsprozesses: ich suche nach dem Ton, und vielleicht werde ich ihn finden. Ob es gelingt, ist keineswegs sicher. Möglicherweise handelt das ganze Stück von der Suche danach.
György Kurtág, um / c. 1975
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György Kurtág, Passio sine nomine
It’s not necessarily the roads well traveled that are essential, but the preservation of freshness.Yes, I know what a specific moment should be like, but frequently it won’t come together because I know. Something else needs to be added. … It’s dangerous for someone to know too well what they want. … This could in fact describe my compositional process: I am searching for the note, and perhaps I will find it. Whether I will succeed is by no means certain. Maybe the entire piece is about the search for it. György Kurtág
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Marco Stroppa
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Marco Stroppa
Passacaglia canonica in contrapunto policromatico Diese kompositorisch streng gestaltete Miniatur besteht aus einem wahren Kaleidoskop pianistischer Klangfarben. Nach dem ausgesprochen einfachen Beginn bewegt sich eine einzelne, unbeugsame Melodie durch unterschiedliche harmonische Felder und wird nach und nach in eine Folge rhythmischer Kanons zersplittert, die auf Vergrößerung und Verkleinerung basieren und denen verschiedene Pulse zugrunde liegen. Jeder Kanon gewinnt seine Farbe aus der kompositorischen Kombination verschiedener Arten von Klangereignis und Resonanz – daher der Begriff „polychromatischer Kontrapunkt“ (contrapunto policromatico). Im weiteren Verlauf wird die Passacaglia von fünf unruhigen „Eruptionen“ unterbrochen, die aus verwandelten, kaum wiederzuerkennenden Teilen anderer Miniaturen bestehen, musikalische Fragmente, die dem unausweichlichen, unerbittlichen „Schicksal“ der Passacaglia zu entkommen versuchen. Die beständige Spannung zwischen diesen fortwährenden Abschweifungen und einer kompromisslosen formalen Anordnung sorgt für die strukturelle Energie dieses Stücks. Für Pierre-Laurent Aimard, damit die „Düfte, Farben und Klänge aufeinander wirken“ (Charles Baudelaire).
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This rigorously composed miniature is a veritable kaleido scope of pianistic tone colors. After the distinctly simple beginning a single, inflexible melody moves through various harmonic fields and gradually splinters into a series of rhythmic canons based on augmentation and diminution, with different base pulses. Each canon derives its timbre from the compositional combination of various kinds of attack and resonance—hence the term “polychromatic counterpoint” (contrapunto policromatico). As the passacaglia progresses it is interrupted by five agitated “eruptions” of transformed, barely recognizable bits of other miniatures, fragments of music attempting to escape the inevitable, implacable “doom” of the passacaglia. The constant tension between these incessant deviations and an uncompromising formal configuration generates the structural energy of this piece. To Pierre-Laurent Aimard, so that “perfumes, colors, and sounds reply to one another.” (Charles Baudelaire) Marco Stroppa
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Marco Stroppa, Passacaglia canonica (Skizze / sketch)
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Elliott Carter
Caténaires Als mich Pierre-Laurent Aimard, dessen Spiel so eloquent ist, bat, etwas für ihn zu schreiben, nahm mich die Idee eines schnellen, einzeiligen Stücks ganz ohne Akkorde gefangen. Daraus ergab sich eine fortlaufende Kette von Noten, die durch unterschiedliche Anordnung, Akzente und Farben ein weites Ausdrucksspektrum entstehen lassen. When Pierre-Laurent Aimard, who performs so eloquently, asked me to write a piece for him, I became obsessed with the idea of a fast one-line piece with no chords. It became a continuous chain of notes using different spacings, accents, and colorings, to produce a wide variety of expression. Elliott Carter
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Elliott Carter, CatĂŠnaires (Skizze / sketch)
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Olivier Messiaen
La Rousserolle effarvatte Der Teichrohrsänger / The Reed Warbler (Acrocephalus scirpaceus)
Das ganze Stück beschreibt einen großen Bogen, von Mitternacht – 3 Uhr morgens bis Mitternacht – 3 Uhr morgens am folgenden Tag, wobei die Ereignisse vom Nachmittag bis zur Nacht in umgekehrter Reihenfolge die Ereignisse von der Nacht bis zum Vormittag wieder holen. Es wurde für den Teichrohrsänger geschrieben und allgemein zu Ehren der Schilf-, Teich- und Moorvögel und einiger Wald- und Feldvögel, die in ihrer Nachbarschaft leben. The entire piece forms one big arch, from midnight— 3 o’clock in the morning to midnight—3 o’clock in the morning of the following day, while the events from afternoon to night repeat those from night to morning in reverse order. It was written for the reed warbler and, in general, in honor of the birds of reed, pond, and marsh, as well as several forest and field birds that are their neighbors. Olivier Messiaen
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Olivier Messiaen, 1956
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Tamina Amadyar Die Zeichnungen in diesem Programmheft stammen von der Berliner Künstlerin Tamina Amadyar.
The drawings in this program are the work of Berlin-based artist Tamina Amadyar.
Geboren 1989 im afghanischen Kabul, kam sie als Fünfjährige mit ihrer Familie nach Deutschland. An der Kunstakademie Düsseldorf absolvierte sie in der Klasse des dänischen Malers TAL R ihre Ausbildung, die sie 2014 abschloss. Seither hat sie in der Galerie Guido W. Baudach in Berlin zwei Soloausstellungen präsentiert. Im Jahr 2012 kehrte sie erstmals nach Kabul zurück und verbrachte – nun als Ausländerin in einem fremden Land – zwei Monate in ihrem heute von einer Verwandten bewohnten Elternhaus. Während des Aufenthalts entstand ein umfangreiches Skizzenbuch. Eine Auswahl der darin enthaltenen Zeichnungen wird in den ersten Monaten der Spielzeit 2017/18 in den Programmheften des Pierre Boulez Saals zu sehen sein.
Born in 1989 in Kabul, Afghanistan, she came to Germany with her family at the age of five. She received her education at the Düsseldorf Arts Academy with Danish painter TAL R, and since her graduation in 2014 has presented two solo exhibitions at the Guido W. Baudach gallery in Berlin. In 2012 she returned to Kabul for the first time— now a stranger in a foreign country— and spent two months in her family home, inhabited today by another family member. Over the course of her stay she created a substantial sketchbook. A selection of the drawings contained in it will be featured in the programs of the Pierre Boulez Saal during the first months of the 2017–18 season.
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Pierre-Laurent Aimard Pierre-Laurent Aimard ist weithin anerkannt als eine zentrale Figur der Musik unserer Zeit und als herausragender Interpret des Klavierrepertoires aller Epochen. In Würdigung seiner Verdienste wurde ihm im Sommer 2017 der renommierte Ernst von Siemens Musikpreis verliehen. Er tritt weltweit mit führenden Orchestern und Dirigenten wie Esa-Pekka Salonen, Peter Eötvös, Sir Simon Rattle und Vladimir Jurowski auf und hat für verschiedene Institutionen eigene Konzertreihen kuratiert, darunter die Carnegie Hall und das Lincoln Center in New York, das Wiener Konzerthaus, die Philharmonie Berlin, die Alte Oper in Frankfurt, das Lucerne Festival, das Mozarteum Salzburg, die Cité de la Musique in Paris, das Tanglewood Festival und das Southbank Centre in London.Von 2009 bis 2016 war er künstlerischer Leiter des Aldeburgh Festival, wo er in seiner letzten Saison die verschiedenen Teile von Messiaens Catalogue d’oiseaux im Verlauf eines Tages vom frühen Morgen bis Mitternacht aufführte. Geboren 1957 in Lyon studierte Pierre-Laurent Aimard am Konserva torium in Paris bei Yvonne Loriod und in London bei Maria Curcio. Zu den frühen Höhepunkten seiner Karriere zählten der Gewinn des Ersten Preises beim Messiaen Wettbewerb 1973 im Alter von 16 Jahren und drei Jahre später seine Ernennung zum ersten Solopianisten des Ensemble intercontemporain durch Pierre Boulez. Er hat eng mit vielen zeitgenössischen Komponisten zusammengearbeitet, darunter Boulez, György Kurtág, George Benjamin, Karlheinz Stockhausen und Elliott Carter. Unter 24
seinen Projekten in jüngster Zeit waren die Uraufführungen von Harrison Birtwistles Klavierkonzert Responses: Sweet disorder and the carefully careless und von Carters letztem Werk, Epigrams für Klavier, Violoncello und Geige, das für ihn geschrieben wurde. Als Professor an der Musikhochschule Köln sowie durch zahlreiche moderierte Konzerte und Workshops weltweit gibt er seine Erfahrungen an das Publikum und die Künstler der kommenden Generation weiter. Im Jahr 2015 startete er ein groß angelegtes Online-Projekt zur Klaviermusik von György Ligeti mit gefilmten Meisterkursen und Aufführungen der Etüden und anderer Werke Ligetis in Zusammenarbeit mit dem Klavier-Festival Ruhr. Pierre-Laurent Aimard ist Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste und war in der Saison 2008/09 Associate Professor am Collège de France in Paris. Im Jahr 2005 erhielt er