Ensemble Intercontemporain & Matthias Pintscher

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Ensemble intercontemporain & Matthias Pintscher EinfĂźhrungstext von Johannes Knapp Program Note by Paul Griffiths


ENSEMBLE INTERCONTEMPORAIN & MATTHIAS PINTSCHER Montag

10. September 2018 19.30 Uhr

Matthias Pintscher Musikalische Leitung Salomé Haller Mezzosopran Sophie Cherrier Flöte Martin Adámek Klarinette Diégo Tosi Violine Odile Auboin Viola Éric-Maria Couturier Violoncello Dimitri Vassilakis Klavier Jean-Marc Zvellenreuther* Gitarre Gilles Durot, Samuel Favre, Othman Louati* Schlagzeug

*Gastmusiker

PIERRE BOULEZ BIENNALE In Zusammenarbeit mit Philharmonie de Paris und Berliner Festspiele / Musikfest Berlin


Alban Berg (1885–1935) Vier Stücke für Klarinette und Klavier op. 5 (1913) I. Mäßig II. Sehr langsam III. Sehr rasch IV. Langsam

Gérard Grisey (1946 –1998) Vortex temporum für Klavier und fünf Instrumente (1994– 96) I. à Gérard Zinsstag II. à Salvatore Sciarrino III. à Helmut Lachenmann Pause

Pierre Boulez (1925 – 2016) Le Marteau sans maître für Altstimme und sechs Instrumente (1953 /55) I. avant „l’artisanat furieux“ II. commentaire I de „bourreaux de solitude“ III. „l’artisanat furieux“ IV. commentaire II de „bourreaux de solitude“ V. „bel édifice et les pressentiments“ – version première VI. „bourreaux de solitude“ VII. après „l’artisanat furieux“ VIII. commentaire III de „bourreaux de solitude“ IX. „bel édifice et les pressentiments“ – double

Das Konzert wird aufgezeichnet und am 13. September ab 20.03 Uhr auf Deutschlandfunk Kultur ausgestrahlt.



Die Fenster weit geöffnet Zu den Werken von Berg, Grisey und Boulez

Johannes Knapp

Verflucht wenig? Als hätten sich die beiden Protagonisten durch den Seiteneingang eingeschlichen, nicht willens, das Wort zu ­ergreifen – so scheinen Alban Bergs im Frühjahr 1913 entstandene Vier Stücke für Klarinette und Klavier eines ­Anfang enthoben. Man könnte meinen, hinter dem tatsächlich Erklingenden verberge sich eine imaginäre Stimme, die schon viel früher zu sprechen begonnen hat. Der Reiz dieser verhohlen romantischen, in ihrem Gehalt schwer greifbaren, und dabei minutiös durchstrukturierten Musik von kaum acht Minuten Spieldauer besteht in der Andeutung. Sie gleicht einem Diskurs mit etlichen Auslassungspunkten und ohne Ausrufezeichen. Pierre Boulez war es, der scharfsinnig bemerkte, dass diese Stücke jenseits des reell Komponierten nichtartikulierte Fortsetzungen vermuten ließen. Darin stünden sie Kafkas Tagebüchern mit ihren vereinzelten, oft ins Leere laufenden Sätzen und aphoristisch aufblitzenden Gedanken nahe. Nirgendwo verfestigen sich die melodischen Gesten zu Motiven. Zwar erstarren die Klänge zum Ende des ersten Stückes in ihrer Tonhöhe, bleiben rhythmisch jedoch sehr lebendig, und das an der Grenze zum Unhörbaren. Im zweiten, neun Takte kurzen Stück spannt sich über einem Terz-Ostinato im Klavier, das vom Einfluss des Lehrers Arnold Schönberg zeugt (im zweiten seiner Klavierstücke op. 19), eine elegische Phrase der Klarinette. Sie besitzt unterschiedliche Verwandtschaftsgrade zur Klavierstimme, die selbst ­vorübergehend in melodische Gefilde abschweift. Es folgt ein Scherzo mit einschneidenden Tempoveränderungen und unterschiedlichen klanglichen Sättigungsgraden. Im letzten 5


„...welche Enthaltsamkeit, sich so kurz zu fassen“

Stück, das von Erinnerungen an die vorherigen durchzogen ist, bricht die Katastrophe herein. Ahnt der Komponist sein zwei Jahre später begonnenes Seelen- und Sozialdrama Wozzeck voraus? Jedenfalls bedient er sich hier des Kunstgriffes stumm niedergedrückter Tasten, den Schönberg vier Jahre zuvor erprobt hatte (im ersten der Klavierstücke op. 11). Nach der gewaltigen Eruption bleibt ein dämonischer Resonanzklang im Raum zurück. Neben den Altenberg-Liedern sind die Vier Stücke Bergs einziger kompositorischer Arbeitsertrag innerhalb einer Zeitspanne von drei Jahren. „Verflucht wenig“ sei das, gestand er – wie immer unterwürfig – dem strengen Übervater Schönberg, dem er seine vier musikalischen Haikus widmete. Schönberg sollen sie nicht einmal sonderlich gefallen haben. Doch im Vorwort zu den Sechs Bagatellen von Anton ­Webern, der von allen drei Wienern für die kleine Form die größte Vorliebe hegte, ließ sich Schönberg zu einer Äußerung hinreißen, die auf Bergs Stücke nicht minder zutrifft: „Man bedenke, welche Enthaltsamkeit dazu gehört, sich so kurz zu fassen. Jeder Blick lässt sich zu einem Gedicht, jeder Seufzer zu einem Roman ausdehnen.“ Zeitwirbel Es ist ein kriegerischer Piratentanz an der von Fackeln beleuchteten Küste von Lesbos, aus dessen Wirren sich das Solo einer Piccoloflöte erhebt: Was in Maurice Ravels Ballett Daphnis et Chloë von 1912 eine bildgewaltige Szene musikalisch illustriert, dient Gérard Grisey Mitte der 90er Jahre als Ausgangspunkt für sein 40-minütiges Ensemblewerk Vortex temporum. Genau genommen ist es nur ein einzelner, acht Noten umfassender Takt. Grisey entreißt ihn seinem ­Zusammenhang, kappt die Nabelschnur zum Ursprung und meidet ein wörtliches Zitat. Sein Augenmerk gilt der Gestalt der wellenförmigen Sechzehntel-Figur, die er mit der ­Sinusschwingung vergleicht. Dabei handelt es sich bekanntlich um die einfachste Form einer akustischen Welle, gleichsam das Atom aller Klänge. Ergeben die Rotationen dieser von Bläsern und Klavier exponierten Figur zu Beginn von Vortex temporum I, dem ersten der drei Sätze, ein ebenmäßig pulsierendes Klangfresko voller mikrotonal angereicherter Instrumentalfarben, so macht die Figur bald Verwandlungen durch. Die Abschnitte werden kürzer, der Puls schlägt zunehmend unregelmäßig, und die harmonischen Wechsel in verschiedensten Registern folgen immer dichter aufeinander.

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Was das Ohr als Chaos identifiziert, gehorcht, wie ein Blick in die Partitur offenbart, einer verborgenen Ordnung, zwei Fibonacci-Folgen nämlich, wie sie etlichen Wachstumsvorgängen in der Natur zugrunde liegen. (Man denke beispielsweise an die spiralförmig angeordneten Kerne der Sonnenblume.) Den ersten Teil löst plötzlich sein Gegenentwurf ab: Die Drehgestalt des Anfangs („Sinusschwingung“) weicht kantig-­punktierten Rhythmen der gedämpften Streicher. Grisey, der Mitte der 70er Jahre im Akustiklabor von Émile Leipp lernte, wie man das lebendige Innenleben eines Klangs analytisch durchdringen und seinen Mikroverlauf anhand von Sonagrammen präzise darstellen kann, geht nun von der Rechteckschwingung aus.Von dieser a­ bstrahiert er die Idee abrupter Diskontinuität, die er auf die rhythmische, melodische und g­ estische Dimension überträgt. ­Erklangen die Figuren, die dem Ravelschen Keim entwachsen sind, bisher synchron, so werden sie nun zeitlich mehr und mehr ineinander verschränkt, und während zuvor die Beschleunigung das prägende Merkmal darstellte, erfährt der Tonraum eine Vergrößerung. Zudem erfolgt eine Auffächerung (Sul-ponticello-Spiel der Streicher) und Spaltung (Multiphonics der Bläser) des Ensembleklangs. Und dann dieses Klaviersolo: hart und roh ist der Klangcharakter der ­mikrozeitlichen Sägezahnschwingung, welche diesem Teil als Modell zugrunde liegt. Grisey macht sie mittels musikalischer Makro-Projektion erlebbar, ähnlich wie die Sinuswelle und die Rechteckschwingung zuvor. Immer klarer schimmern durch die brüchige Textur vier Töne des Klaviers hindurch, die um einen Viertelton tiefer gestimmt sind. Die Reise ins energiegeladene Klanginnere erfolgt über den Weg der Verlangsamung und der Vergrößerung. Grisey enthüllt unserem Ohr die akustischen Eigenschaften der Klänge wie ein Mikroskop unserem Auge das quirlige Planktonleben in einem Teich. In Zeitlupe wird der flüchtige Augenblick einer Millisekunde in Vortex temporum I erfassbar. Vortex temporum II hingegen katapultiert uns in eine gänzlich neue Zeitdimension. Die wellenförmige Figur wandert nun auf die makrostrukturelle Ebene, breitet sich über den gesamten Satz aus und koordiniert die Abfolge der Register, in denen sich das Klanggeschehen ereignet. „Ich habe versucht, in dieser Langsamkeit den Eindruck einer sphärischen, schwindelerregenden Bewegung zu erzeugen“, verriet ­Grisey anlässlich der französischen Erstaufführung des Werkes 7


Unterschiedliche Zeitfelder

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1996 in Straßburg. (Wenige Monate zuvor war es in Witten aus der Taufe gehoben worden.) Ein Ostinato glocken­ähn­licher, abwärts tendierender Klänge des Klaviers, die uns Takt und Rhythmus vergessen lassen, ist mit gestreckten Spektralkomplexen der Streicher und Bläser verwoben. ­Daraus resultiert, so Grisey, „eine Art doppelter Rotation, eine schraubenförmige und kontinuierliche Bewegung“. Kaum ist die rotierende Figur aus Daphnis zu Beginn von Vortex temporum III wieder erklungen, wird sie durch ihre Beschleunigung und Verlangsamung bis zur Unkenntlichkeit transformiert. In vielerlei Hinsicht gehorcht der Finalsatz dem Prinzip einer strudelförmigen Doppeldrehung. Griseys Worten zufolge durchläuft die Ravelsche Figur im gesamten Werk eine „Metamorphose in unterschiedlichen Zeitfeldern“. War es im ersten Satz überwiegend die „Sprach- und Atemzeit der Menschen“ und im zweiten eine extrem gestreckte Zeit – Grisey spricht auch von der „Zeit der Wale“ –, so ist der dritte Satz über weite Strecken in der gestauchten „Zeit der Vögel und der Insekten“ situiert, simultan dazu aber auch in den beiden anderen Zeitfeldern. Der Komponist erläutert: „Denken Sie an die Wale, an die Menschen und an die Vögel. Der Gesang der Wale ist so langgezogen, dass das, was in unseren Ohren wie ein gigantisches, gedehntes, ­endloses Klagen klingt, für die Tiere vielleicht nur ein Konsonant ist. Mit unserer Zeitkonstante ist es also unmöglich, ihren Diskurs wahrzunehmen. Gleichzeitig haben wir beim Gesang eines Vogels den Eindruck, dass er sehr hoch und unruhig ist. Denn seine Zeitkonstante ist viel kürzer als ­unsere. Schwer für uns, seine feinen Klangvariationen wahrzunehmen, dabei nimmt er uns womöglich so wahr, wie wir die Wale wahrnehmen.“ Den differenzierten Umgang mit Zeit und Klang dürfte Grisey bei Olivier Messiaen erlernt haben. Seine legendäre Kompositionsklasse besuchte er vier Jahre lang, von 1968 bis 1972. Zu jener Zeit ist die Sehnsucht in Grisey geweckt worden, nicht „mit einzelnen Noten“ zu komponieren, sondern im Schaffensprozess in die farbenreiche Welt des Klangs und seiner Bestandteile weit vorzudringen. Messiaen ging der Relation von Zeit und Klang in mehreren Partituren auf den Grund, so auch in Chronochromie (1960), einem großdimensionierten Orchesterwerk, das leider so gut wie nie aufgeführt wird. Klang-Farben dienen hier dazu, die Zeit-Struktur hervorzuheben. Letztere basiert auf einem System 32 verschiedener Tondauern von einer Zweiund-


dreißigstel bis zu einer ganzen Note, die 36 Permutationen durchlaufen. Dieses Schema wurzelt in der bahnbrechenden Etüde Mode de valeurs et d’intensités, die Messiaen 1949 zu Papier brachte – und später als nebensächliches Experiment abtat. Sein Schüler Grisey reagierte mit feindseliger Polemik auf dieses kurze Klavierstück und das, was bald darauf folgte: die sogenannte serielle Musik, in der neben Tonhöhen und Intervallen auch Tondauer, Lautstärke, Artikulation, Spielart und Klangfarbe nach Reihen durchorganisiert werden. Wenn überhaupt, so der 1946 geborene Grisey, seien Normen erst im Zurücklegen des kompositorischen Weges zu errichten. Nicht so der 21 Jahre ältere Pierre Boulez: Er war elektrisiert von dieser Organisationswut. Endlich zeigte ­jemand auf, wie man das antiquierte Erbe Schönbergs, der im Sommer 1951 einen Herzinfarkt erlitt, vom Ballast ­romantizistischer Überreste befreien könne. Boulez trat noch im Todesjahr Schönbergs mit dem ersten Band seiner Structures die Flucht nach vorne an. Was Grisey und Boulez vereint: Jeder hat zu seiner Zeit dank Messiaens M ­ usik­sprache und dessen Unterricht seinen ganz persönlichen Weg gefunden. Mit Le Marteau sans maître hat Boulez einen wichtigen, noch heute herausragenden Meilenstein errichtet. Kultstück aus den Fünfzigern Zufällig entdeckte der 21jährige Komponist im ­Frühjahr 1946 in einer Literaturzeitschrift einen Text von René Char. Extrem verdichtete Sprachbilder hat der Résistance-­Dichter geschaffen, subversive Akte der Revolte, aber auch der unablässigen Suche nach Wahrheit und Schön­ heit. Sie sollten das ästhetische Empfinden von Boulez über Jahrzehnte prägen. In den späten 40er Jahren entstehen zwei ­Jugendwerke, die Kantaten Le Visage nuptial und Le ­Soleil des eaux, wobei Boulez letztere, ursprünglich ein Hörspiel, in ihrer endgültigen Version 1965 mit den Philharmonikern hier in Berlin uraufführte. Beide Werke geben sich erzählerisch. Ganz anders dagegen Le Marteau sans maître: V   on drei äußerst kurzen, surrealistisch rätselhaften Gedichten aus­ gehend, die funkeln wie geschliffene Kristalle und sich nicht um formale Strenge scheren, komponierte Boulez drei Zyklen, die er sodann ineinander verschachtelte. (Ihre ingeniöse ­Anordnung erschließt sich in ihren Grundzügen beim Blick auf die Abfolge, vgl. S. 3.) Auf alle neun Stücke haben die Gedichte zwar eingewirkt, doch nur in vier von ihnen werden sie vokal vorgetragen. 9


„Reiche Ernte ‚exotischer‘ Instrumente“

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„Das Gedicht bildet das Zentrum der Musik, aber es ist aus der Musik verschwunden, so wie die Form eines Gegenstandes durch Lava festgehalten wird, obgleich der Gegenstand selbst nicht mehr vorhanden ist“, so Boulez. Gleich im ersten Stück erfolgt eine instrumentale Durchführung dessen, was im dritten Satz erst exponiert wird: eine rein ornamentierte Vokalise auf den Fünfzeiler des ersten Zyklus („l’artisanat furieux“), kontrapunktiert von der Flöte. Nach der mentalen Strenge des ersten Bands der Structures hält eine filigrane, ­erfindungsreiche, ja melodische Schreibweise in Boulez’ Musik Einzug: Licht am Ende des Tunnels des Serialismus! Als ob Boulez seinem pietätlosen Nachruf „Schönberg ist tot“ (Juli 1951) 14 Monate später ein musikalisches „Es lebe Schönberg!“ nachschieben wollte, nimmt das dritte Stück von Marteau, das er im September 1952 als erstes der neun komponierte, deutlich auf die siebte Nummer, Der kranke Mond, aus Pierrot lunaire Bezug. Dass Freiheit im Ausdruck und strenge Ratio vielmehr einander bedingen als sich wechselseitig ausschließen, belegt Nummer VI, das Kernstück des zweiten Zyklus’ („bourreaux de solitude“). Boulez hat es an zweiter Stelle komponiert. Stimme und Instrumente sind hier unter Rückgriff auf ­gewisse in den asketischen Structures erprobte Techniken miteinander verkoppelt. Als wäre das Gedicht selbst Teil des Ensembles, blüht der Gesang periodisch auf. Hier wie auch in den drei instrumentalen Kommentaren (Nr. II, IV,VIII), die das sechste Stück umkreisen, gliedert das Schlagzeug den musikalischen Zeitverlauf. Neben dem Vibraphon und der Xylorimba gehören eine Rahmentrommel, Bongos, Maracas, Klanghölzer, Doppelglocke, Triangel, ein hohes und ein sehr tiefes Tamtam, ein tiefer Gong, ein großes ­hängendes Becken und zwei Schellenstäbe zum exotischen Schlagwerkarsenal. Es ist einem Kammerensemble einverleibt, das auf den ersten Blick heterogen wirkt. Doch der Schein trügt: Die Stimme und die Flöte, beide in Alt-Lage, verbindet der menschliche Atem, Flöte und Bratsche treffen sich im monodischen Spiel. Werden die Saiten der Bratsche gezupft, nähert sie sich der Gitarre, die ihrerseits eine Brücke zum Vibraphon schlägt und so weiter.Von einer Südamerika­ reise im Sommer 1954 – das Werk befand sich bereits im fortgeschrittenen Stadium – hatte Boulez eine „reiche Ernte ‚exotischer‘ Instrumente“ mit nach Hause gebracht, wie er Stockhausen gewitzt per Brief mitteilte. Kurzerhand ­revidierte Boulez sämtliche Schlagzeugpartien der bereits


komponierten Stücke. (Zugute kam ihm dabei der Umstand, dass der Gitarrist, der bei der ursprünglich für Herbst 1954 vorgesehenen Uraufführung hätte spielen sollen, erkrankte, weshalb sie auf Juni 1955 verschoben wurde.) Was Boulez vorschwebte, ist nicht etwa musikalischer Kolonialismus oder Effekthascherei: „Bestimmte klassische Besetzungen unserer Tradition sind dermaßen belastet mit ‚Geschichte‘ und ‚Geschichten‘, dass man die Fenster zur Welt weit ­aufstoßen muss, um nicht an ihnen zu ersticken.“ Der dritte Zyklus von Le Marteau sans maître („bel édifice et les pressentiments“) besteht aus nur zwei Stücken, einer ersten Fassung (Nr.V) und ihrer Doppelgänger-Version (Nr. IX). Letztere hat Boulez nach der Uraufführung noch erheblich erweitert. Wiederum kommt der Dichtung eine andere Rolle zu: Sie taucht in der ersten Fassung an Kehrtwenden im musikalischen Verlauf auf und markiert somit die Abschnitte. Zu Beginn des Finalstücks hingegen, das einen Mikrokosmos aus Zitaten aller drei Zyklen darstellt, ist das Gedicht zwischen Gesang und Sprache angesiedelt: eine entfernte Referenz an Schönbergs Sprechgesang. Kaum sind die letzten Worte erklungen, zieht sich die Stimme geschlossenen Mundes in den Ensembleklangkörper zurück. Über Präsenz und Absenz des Wortes meint Boulez: „Eine Art Inszenierung waltet hier: Sie legt den Akzent bald auf die direkte Aussprache des Textes, bald auf die poetische Welt, die er erweckt. Ein intellektuelles Theater, wenn man so will, in Gang gesetzt durch die Lektüre des Gedichtes und den Nachhall, den es in einem ganz innerlichen Bezirk auslöst.“

Johannes Knapp, geboren 1990, studierte Kulturmanagement,Violoncello, Philosophie und Musikwissenschaft. Nach Stationen als Kulturmanager in Salzburg, Lausanne und Zürich wurde er im August 2018 zum Geschäftsführer des Concours Nicati ernannt, außerdem ist er Direktionsmitglied des Schweizerischen Musikerverbands.  Als Autor widmet er sich insbesondere der zeitgenössischen Musik.

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Boulez between Past and Future On the Program of the Ensemble intercontemporain

Paul Gr iffiths

A Clarinet and a Centrifuge While Pierre Boulez’s grasp of the music of Anton Webern was immediate—Webern’s String Quartet was heard in last night’s season-opening concert opposite Boulez’s own sur Incises—his full appreciation of Alban Berg came later. It happened around the time when, in 1963, he made his opera debut conducting Wozzeck (the work’s first stage production in France, directed at the Opéra by Boulez’s longstanding professional associate Jean-Louis ­Barrault) and began working as a composer with longer spans. In that respect, Berg’s Pieces for Clarinet and Piano Op. 5 of 1913 are exceptional, being of a brevity more characteristic of Webern. Indeed, all three founder members of the Second Viennese School, Schoenberg most definitely included, were finding it difficult, during these early years after their break with tonality, to create extended instrumental forms. Berg’s brevity, however, is very much his own, with longer lines, repetitions, richer harmony (including triads, notably in the second piece) and the sense of a steady narrative ­unfolding—all this within durations of one or two minutes, or three in the case of the last piece, which conveys a whole miniature drama. If Boulez’s view of Berg was complicated, so too was ­Gérard Grisey’s of Boulez. Impossible to ignore during the time Grisey was growing up, in the 1950s and 60s, Boulez was one of the composers who, he said, made him what he was. He also made a pregnant comment on Le Marteau sans maître, “in which the instruments are reduced to the noisiest part of their timbre, by which I mean the attack.” This is no less sympathetic, and certainly no less interesting, for com13


ing very much from Grisey’s own point of view. On the other hand, Grisey was critical of Boulez’s approach to rhythm and of serialism in general, feeling both to be out of touch with perception and with the nature of sound. The spectral music he and his contemporaries developed —though the term was not one he liked—was intended partly to find new ways of composing with pitch that did accord with what sound is and how it is heard. As for Boulez’s view of his young colleague, we have some ­evidence in the several per­formances he gave of the latter’s ­Modulations for small orchestra. In Grisey’s view, spectral music was always about fundamentals, in more than the acoustic sense—about going back to the basic elements of sound, as if all of music had yet to happen, and about investigating the foundations not only of vibration, harmony, and timbre but also of rhythm, pulse, and flow. As he was completing his evening-long Les Espaces acoustiques, at the end of the 1970s, these aspects of time, especially pulse, moved to the center of his concerns. What he produced in Vortex temporum, between 1994 and 1996, was a 40-minute pulse machine, cast in three large movements scored for flute, clarinet, and string trio with a solo piano having four notes tuned down a quarter-tone. Not only is the music based on three kinds of spectrum— one of them harmonic, the others inharmonic, with their partials stretched out in one case and compressed in the other—but it operates on three tempo levels, which for the composer represented human time (the time-scale of speech and breathing), the dilated time of whales, and the effervescent time of birds and insects. In the movement from one kind of time to another, a single rhythmic impulse may be ­extended into a whole swathe of activity or, conversely, a melody may be contracted into a chord, and so on. Grisey dedicated the three movements to three colleagues he ­admired: Gérard Zinsstag, Salvatore Sciarrino, and Helmut Lachenmann. (Zinsstag was a close personal friend throughout the last 15 years of his life.) Short interludes link the movements, partly to maintain tension, and attention. The first movement introduces the whole work’s germinal idea: a little flurry taken from the dawn scene in Ravel’s Daphnis et Chloé, a figure so short and elementary it barely speaks as a quotation, consisting of little more than a diminished triad (G–B flat–C sharp) arpeggiated up and down. Being a basic musical bit was what suited it to Grisey’s processes of 14


repetition, transformation, and extension, especially when it is completed to make a full diminished chord (G–B flat–C sharp–E)—a “rotary tuning par excellence,” as the composer called it, and the whole work’s primal node, ­determining transpositions and modulations (not in the old tonal sense), and physically emplaced in the piano’s detuned notes. The development it governs in this opening movement proceeds through three phases. In the first the Daphnis idea, which itself has a wave form, is repeated over and over in the manner of a sine wave. The second ­section moves with the abrupt ups and downs of a square wave, and the third, a piano solo, follows the shape of a sawtooth wave. Next comes the slow movement, founded on the Daphnis motif played just once over, and so in extreme slow motion. An effect of almost unrelieved descent is achieved by having the piano’s chords, estranged by the detuning, stepping slowly down through the even more slowly changing light projected by the quintet. “I have sought to create in the slowness,” Grisey wrote, “a sensation of spherical and dizzy movement. The ascending movements of the spectra, the embedding of the fundamentals in chromatic descents and the continuous filtrations of the piano generate a kind of double rotation, a helical and continuous movement that winds around itself.” The finale, as long as the other two movements together, begins by recalling the excited, static rotations of the work’s opening but soon embraces both the whale-time of the ­second movement and a new whizzing prestissimo. Again Grisey’s words demand quoting: “The spectra at the origin of the harmonic discourse and already developed in the second movement are spread here in order to allow the listener to perceive the texture and to penetrate into another temporal dimension.” The piece ends once more with slow pulsations from the piano, accompanied now only by sounds as of breathing. The Hammer Set Loose Just for a moment, in 1951–2, it had seemed to Boulez that serial methods were asking to be extended over every element in a composition. It was a thrilling possibility: that a new coherent musical system might be found. It was also a terrifying anxiety: that creation would become as automated as heavy industry—that masterpieces could be made with no master, only the rude hammer of technology.The moment 15


Coexistence of spontaneity and system

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passed. Total organization proved impossible, since there would always have to be decisions to be made—not least the decision to compose a piece at all. But the residue ­remained, in that Boulez was left to contemplate the limits of choice, the coexistence of spontaneity and system, the troubling uncertainty of any boundary between the human and the mechanical. Are we the pawns of historical and ­psychological processes we cannot see or alter? Or is there always the possibility of the inexplicable, the unprecedented? The experience of 1951–2 had taught Boulez that ­”composition and organization cannot be confused for fear of a mad inanity,” and yet in Le Marteau sans maître (“The Hammer Unmastered,” 1953–5) they are very deliberately (or automatically) confused, so that we can never be sure whether “mad inanity” is not the intention, whether the music’s impenetrability is the veil of an automatic process or the composer’s design. What Boulez had learned was not that will and mechanism must not be confused, but rather that they cannot but be confused, just as so many other ­ostensible opposites are shown in Le Marteau sans maître as confused: voice and instrument (in that the voice becomes a wordless instrument in the finale, while the instruments begin to sing, playing music that had earlier been sung), sound and silence (in that the loudest sounds can silence sense, and the longest silences be filled with reverberation, real or imagined, and expectation), melody and accompaniment, pulse and pulselessness, e­ ssence and ornament. There is also, increasingly as the work proceeds, a doubt about the integrity of the three miniature cycles, each based on a concise, enigmatic poem by René Char, whose work Boulez valued for qualities it shared with his music—an oblique passion and a passionate obliqueness, a mix of tenderness and fury—as well as, in the case of these poems, for a brevity that allowed the music to create its own scale, with the poems as inscriptions across it. Not only are the cycles shuffled, but they start to lose their identifying marks. For example, the four ­“bourreaux de solitude” pieces are generally marked by strong pulsation, but the last of them has a richly embellished flute part that might belong more to the music for “l’artisanat ­furieux.” The work seems to become clogged with memories of itself, and it is in an exhaustion of reminiscence that it comes to an end. The whole principle of the finale is the ­tedium of repetition: it is a “double” not just of the centre­piece but of everything that has gone before, in-


corporating quotations from all three cycles. Not only does the singer lose power over speech, but the music loses the power to go on. It does not come to an end: an end comes to it. That can only come about when the work has run out of possibilities of self-renewal. Right up to the final page it goes on finding ways to spin along as if in a perpetual improvisation, for Boulez’s logic was a logic in how the music was made, not in how it may be perceived: there his ideal was an opacity of scintillation and speed, an encounter with something too fluid and fast to be grasped. The vocal sections (which can hardly be called songs: in matters of genre, too, the work cuts across categories, between song cycle and chamber piece, chamber piece and orchestral composition) are lazier in movement, but still volatile, while the prelude and postlude to “l’artisanat furieux” race at double speed, as if they were harmonics of the setting, and the commentaries on “bourreaux de solitude” have a rattling patter, broken unpredictably in the second by moments of suspended animation. Through velocity and abruptness, and through sheer allure of sound, the work frustrates our efforts to explain it or understand it. It just is. The sound, yet again, is unplaceable. In his ensemble Boulez combines features of European chamber music (viola), Balinese gamelan (vibraphone), African percussion (xylophone), and Japanese koto (guitar) with the universal flute. But the evocations of different cultures (even of European culture) are very fine. There are no Balinese or Japanese scales, no tangibly African rhythms, and, so far from offering a collection of musical postcards from abroad, the instrumentation seems vital to its duties here: the xylorimba and ­percussion necessary to the pulsed rhythms of the “bourreaux de solitude” cycle, the vibraphone, guitar, and pizzicato viola necessary to the resonant soundscape, the flute necessary as a substitute voice, the whole variegated sextet necessary to the splintered polyphony. Unique and inevitable, Le Marteau sans maître has the qualities by which we recognize a great work.

Paul Griffiths wrote the first book on Pierre Boulez in any language in 1978.Two of his collaborations with composers have been performed first in Berlin: Elliott Carter’s one-act opera What Next? (Staatsoper, 1999) and Hans Abrahamsen’s song cycle let me tell you (Philharmonie, 2013).

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