Naseer Shamma, Barcelona Guitar Trio & Paquito Escudero Hommage à Paco de Lucía Einführungstext von / Program Note by Kevin Le Gendre
NASEER SHAMMA, BARCELONA GUITAR TRIO & PAQUITO ESCUDERO Hommage à Paco de Lucía Donnerstag
21. November 2019 19.30 Uhr
Naseer Shamma Oud Barcelona Guitar Trio Luis Robisco Flamencogitarre Alí Arango Gitarre Xavier Coll Flamencogitarre und Gitarre Paquito Escudero Percussion
Whiteness García Lorca Zyryab A World without Fear The Last Departure from Andalusia Solo für Oud Entre dos aguas Paco de Lucía Is Among Us Shining Eine Pause nach ca. 45 Minuten wird von den Künstlern angesagt.
Musik, die von Herzen kommt Eine Hommage an Paco de Lucía
Kevin Le Gendre
Flamenco – bekannt vor allem als eine der beliebtesten Spielarten spanischer Folklore – ist auch eine hoch entwickelte Kunstform, in der Gesang und Tanz in einem faszinierenden Wechselspiel miteinander verschmelzen. Sein charakteristischstes Instrument ist die Gitarre, und kein anderer Flamenco-Künstler brachte es darauf zu einer solchen Virtuosität wie der 2014 verstorbene Paco de Lucía, ein Wegbereiter des Genres, der mit seiner Musik ein großes internationales Publikum eroberte. Seine atemberaubenden Solound Ensemblekonzerte haben die Herzen und Sinne zahlloser Menschen auf der ganzen Welt bewegt. Die heutige Hommage an ihn vereinigt das Barcelona Guitar Trio, den Percussionisten Paquito Escudero und den renommierten irakischen Oud-Spieler Naseer Shamma (der dem Pierre Boulez Saal seit seiner Eröffnung eng verbunden ist) zu einem hochkarätigen Ensemble des zeitgenössischen Flamenco. Diese Musiker bewahren de Lucías Andenken so getreu wie möglich, vor allem weil sie seine überragende Stellung anerkennen. „Paco ist der absolute Meister des Flamenco“, sagt Shamma, „und es ist unglaublich, was er für diese Musik getan hat. Gemeinsam mit meinen Kollegen habe ich mich entschlossen, etwas zu seinen Ehren zu machen, weil mich seine Arbeit, als er noch lebte, sehr berührt hat – diese Musik war etwas ganz Besonderes.“ Xavier Coll vom Barcelona Guitar Trio hebt ebenso die große Bedeutung von de Lucía für die kontinuier-
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liche Weiterentwicklung des Flamenco hervor: „Paco de Lucía war und ist für uns alle eine Inspiration. Er brachte die Geschichte der Gitarre einen riesigen Schritt voran.“ De Lucía war fest in der Tradition des Flamenco verankert, aber auch ein großer Erneuerer. Bekannt geworden in den späten 1960er Jahren, erweiterte er im Lauf des darauffolgenden Jahrzehnts das Vokabular dieser Musik in verschiedener Hinsicht beträchtlich. Er profilierte sich als Komponist und schrieb Lieder, die inzwischen zu Standards geworden sind, wie das zutiefst bewegende Entre dos aguas. Doch obgleich seine vielen Soloveröffentlichungen, insbesondere Fuente y caudal, von der Kritik mit Beifall aufgenommen wurden, war es das Album Almoraima von 1976, auf dem er sich als kühner Vordenker präsentierte. De Lucía wird hier von einer zweiten Gitarre, E-Bass und Percussion begleitet und integriert deutlicher als zuvor Jazzeinflüsse in seine Musik. Für Coll kann man den visionären Beitrag des Gitarristen kaum überschätzen. „Er hat den Flamenco nicht nur revolutioniert, er hat es auch verstanden, ihn für andere Stile zu öffnen“, betont er. „Auch das war eine Inspiration.“ Das Barcelona Guitar Trio – mit Coll und Alí Arango an der klassischen Gitarre und Luis Robisco an der Flamencogitarre – hat seinen Platz in der katalanischen und spanischen Kultur nicht nur aufgrund seiner Erfolge als gefragtes Live-Ensemble, das auf der ganzen Welt auftritt. Seit vielen Jahren macht das Trio auch im pädagogischen Bereich auf sich aufmerksam, indem es jüngere Musikerinnen und Musiker an Institutionen wie der Luthier School in Barcelona unterrichtet und mit großen Ensembles wie dem Andorra National Orchestra arbeitet. Stilistisch zeigt sich das Trio äußerst abenteuerlustig und bringt Kammermusik ebenso wie Pop, Jazz und viele Mischformen davon zur Aufführung. Obwohl Naseer Shammas Leben in völlig anderen Bahnen verlief, ist seine enorm vielseitige Karriere, die Musik, Poesie und Theater verbindet, von ähnlicher Aufgeschlossenheit geprägt. Er begann im Alter von elf Jahren Oud zu lernen, erwarb 1987 seinen Abschluss an der Musikakademie in Bagdad und leitete anschließend ver schiedene Ensembles, von kleinen Gruppen bis hin zum 75-köpfigen Orchester Al Sharq. Zu seinen zahlreichen Kompositionen zählt auch die Musik für den Film Dreams von Regisseur Mohamed al-Daradji aus dem Jahr 2006, der nicht nur für seine Geschichte, sondern auch für Shammas Musik mehrfach ausgezeichnet wurde. Er hat außerdem mit vielen Künstlerinnen und Künstlern aus aller Welt zusammengearbeitet, darunter der pakistanische Sitar-Spieler
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Ashraf Sharif Khan und der amerikanische Trompeter und Kom ponist Wynton Marsalis. Im Programm des heutigen Abends präsentieren die fünf Musiker Originalwerke von Shamma sowie von Paco de Lucía geschriebene Stücke, die ein enges Zusammenspiel der Saiteninstrumente aus dem Nahen Osten und Europa ermöglichen und damit einen Einblick in die tiefgreifenden historischen Verbindungen zwischen den beiden Regionen gewähren. „Der Dialog zwischen Oud und Gitarre ist ein sehr organischer“, erklärt Coll. „Der südliche Teil der iberischen Halbinsel stand acht Jahrhunderte lang unter arabischer Herrschaft, und der Einfluss der arabischen Musik auf den Flamenco und auf die spanische Musik insgesamt war enorm. Dadurch verläuft die Kommunikation zwischen uns völlig reibungslos.“ Shamma sieht dies genauso: „Für mich stehen das System der Maqams [der Modi in der traditionellen arabischen Musik] im Irak und der Flamenco in Spanien in einer Linie. Vor vielen Jahren habe ich mit großen spanischen Gitarristen wie Tomatito und auch mit Flamencosängern gespielt, und das fühlte sich für mich musikalisch sehr vertraut an. Es bestand eine echte Verbindung zwischen uns allen, in unserer Herangehensweise an Musik. Aber unsere Sprache ist nicht exakt dieselbe, und das macht es wirklich aufregend.“ Was diese Verbindung noch stärker macht, betont Shamma, ist die Genealogie der Instrumente: Die Grundform eines Musik instruments, das über einen hölzernen Hals und einen Resonanzkörper gespannte Saiten und eine Vorrichtung zum Stimmen besitzt, können Wissenschaftler bis in die Zeit der Assyrer vor etwa 4000 Jahren zurückverfolgen. Daraus sind Mandoline und Bouzouki ebenso sowie Oud und Gitarre hervorgegangen. Das Aufeinandertreffen von Oud und Gitarre stellt einen reiz vollen interkulturellen Austausch dar, doch besitzen diese Instrumente ihren ganz eigenen, spezifischen Klang und Charakter, und im Vokabular des Flamenco, wie er vom Barcelona Guitar Trio und einigen seiner Mitstreiter weiterentwickelt wurde, gibt es diesbezüglich feine, aber wichtige Nuancen. Vor allem spielen zwei Arten von Gitarren eine Rolle. Sie haben, wie Coll erklärt, einen wesentlichen Einfluss auf die Musik: „Die Konstruktion der Instrumente weist einige Unterschiede auf, die aber sehr subtil sind. Die spanische Gitarre schließt sowohl klassische Gitarre als auch Flamencogitarre ein. Die klassische Gitarre hat im Allgemeinen einen weicheren Klang, wie er in Werken klassischer Komponisten zu hören ist.
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bwohl es großen Interpretationsspielraum gibt, sind alle Noten O ausgeschrieben. Die Flamencogitarre verwendet eigene Techniken – wie etwa Klopfen auf den Gitarrenkorpus, Strumming oder alzapúa – und hat einen viel helleren und frischeren Klang, außerdem spielt Improvisation eine wichtige Rolle.“ Mit seinen wirbelnden, kantigen Akkorden, langen, gewundenen, mit einzelnen Fingern gezupften Melodien und plötzlichen Tempo steigerungen hat der Flamenco charakteristische Merkmale, die leicht zu identifizieren sind. Doch auch wenn die Gitarre und in manchen Ensembles die Stimme im Vordergrund stehen, bilden Schlaginstrumente einen weiteren integralen Bestandteil seines musikalischen Vokabulars. Der tiefe, dumpfe Schlag der Cajón, das scharfe, helle Trommelgeräusch der Bongos und das klangvolle Händeklatschen („Palmas“ genannt) tragen wie ein exakt schlagendes Metronom dazu bei, die Musik voranzutreiben. „Die Percussion spielt im Flamenco die gleiche Rolle wie in anderen musikalischen Stilen: Sie unterstreicht den Rhythmus“, sagt Coll. Musiker unterschiedlicher Herkunft haben die Komplexität des Pulsschlags im Flamenco hervorgehoben, vor allem die absolute Präzision, mit der die unterschiedlichen Zyklen mit Hilfe der Palmas gezählt werden, die auf Sekundenbruchteile genau beginnen, stoppen und erneut beginnen. Abgesehen von den technischen Charakteristika ist Flamenco eine zutiefst leidenschaftliche, emotional aufgeladene Ausdrucksform, deren musikalische Aussage oft von Tanz begleitet wird, was für ein aufregendes, fast berauschendes Spektakel sorgt. Wichtige Vertreter des Jazz haben sich stark vom Flamenco inspirieren lassen, insbesondere Charles Mingus und Miles Davis, dessen monumentales Orchesterwerk Sketches of Spain seine Faszination für das Genre widerspiegelt. Chick Corea hat den Flamenco auf dem Album My Spanish Heart auf ganz eigene Weise interpretiert und ist bekanntermaßen auch ein Anhänger der Musik Paco de Lucías – und zwar so sehr, dass er dem Gitarristen nach einem seiner Konzerte ankündigte, er werde ihm in Kürze seinen Bassisten und seinen Schlagzeuger ausspannen. Es war kein Scherz. Flamenco bleibt ein Genre, das Musiker und Zuhörer gleichermaßen in seinen Bann zieht. Für Naseer Shamma drückt er aus, wer Menschen sind und was sie erschaffen. „Wie beim Jazz ist es Musik, die von Herzen kommt. Sie bedeutet den Menschen, die sie spielen, wirklich etwas“, sagt er. „Ich hoffe nur, dass wir unsere Liebe und unseren Respekt für Paco durch die Musik zeigen können.“ Kevin Le Gendre ist der Autor von Don’t Stop the Carnival: Black Music in Britain.
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Music from the Heart A Tribute to Paco de Lucía
Kevin Le Gendre
Known as one of the most popular types of Spanish folk music, Flamenco is also a highly sophisticated art form in which song and dance blend into one mesmerizing corps à corps. The guitar is the most emblematic instrument in the genre, and the trailblazer who took it to an unparalleled degree of virtuosity, all the while building a large international audience, was the late Paco de Lucía. His breathtaking solo and ensemble concerts touched countless hearts and minds the world over. Tonight’s tribute to him brings together a stellar ensemble in contemporary flamenco, consisting of the Barcelona Guitar Trio, percussionist Paquito Escudero, and renowned Iraqi oud player Naseer Shamma (who has been closely associated with the Pierre Boulez Saal since its opening). These artists will serve de Lucía’s memory as faithfully as possible, first and foremost because they recognize his immense stature. “Paco is the absolute master of flamenco,” Shamma comments, “and what he did for this music was incredible. With the other musicians we agreed to do something in his honor because I was very moved by his work when he was alive—the music was so special.” Xavier Coll of the Barcelona Guitar Trio has no hesitation in stating de Lucía’s great relevance to the ongoing development of flamenco. “Paco de Lucía was and
continues to be an inspiration to all of us. He made a giant step in the history of the guitar.” While having a firm grip on flamenco traditions, de Lucía was very much a modernist. He came to prominence in the late ’60s, and over the course of the following decade significantly extended the vocabulary of the music in a number of ways. He asserted himself as a composer, writing songs that have since become standards, such as the utterly haunting Entre dos aguas. But while his many solo guitar sets, above all Fuente y caudal, were met with critical acclaim, it was on the 1976 album Almoraima where he revealed himself to be a bold forward thinker. De Lucía was accompanied by second guitar, electric bass, and percussion, and brought more overt jazz influences into his music. Coll is not about to downplay the guitarist’s visionary contribution. “He not only revolutionized flamenco, he was able to open it to other styles,” he states emphatically. “He has also been an inspiration in that.” Comprising Coll and Alí Arango on classical guitar as well as Luis Robisco on flamenco guitar, the Barcelona Guitar Trio is a group whose place in Catalan and Spanish culture is not confined to its achievements as an in-demand live act, performing all around the world. For many years, the ensemble has also excelled in the field of education, training younger players and composers at institutions such as the Luthier School in Barcelona, and working with large ensembles such as the Andorra National Orchestra. Stylistically, the trio has been highly adventurous, playing anything from chamber music to pop to jazz, and many hybrids of these. Although Naseer Shamma’s life has unfolded in markedly different circumstances, he has nonetheless shown a similar open-mindedness throughout a tremendously eclectic career bringing together music, poetry, and theater. He started studying the oud at the age of 11 and graduated from the Baghdad Music Academy in 1987, going on to lead a variety of bands, from small groups to the 75-piece orchestra Al Sharq. His many compositions include the score for director Mohamed al-Daradji’s 2006 film Dreams, a multiple prize-winner for its story as well as Shamma’s music. He has also collaborated with many artists from around the world, such as Pakistani sitar player Ashraf Sharif Khan and American trumpeter-composer Wynton Marsalis. In tonight’s program, the five musicians will present original pieces composed by Shamma and reprise songs written by Paco de Lucía—allowing for the close interaction of the strings from the
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Middle East and Europe that provides a look at the far-reaching historical links between the two territories. “The dialogue between the oud and the guitar is very organic,” Coll explains. “The south of the Iberian Peninsula was under Arab rule for eight centuries, and the influence of Arabic music on flamenco and, by extension, on Spanish music, was enormous. This makes for very fluid communication between us.” Shamma agrees: “I see a long line between the system of maqams [the modes in traditional Arabic music] that exist in Iraq and flamenco in Spain. Many years ago, I played with great Spanish guitarists like Tomatito and also with flamenco singers, and I felt completely at home with them, musically. There was a real connection between all of us, between our approaches to music. But the language is not exactly the same, which makes it really exciting.” What makes the connection even stronger, Shamma is quick to point out, is the genealogy of these instruments: Reaching back to the time of the Assyrians, approximately 4,000 years ago, scholars can locate the origins of a basic design of musical device, with strings bound over a wooden neck and body and a tuning system applied, from which come the mandolin and bouzouki as well as the oud and guitar. While the meeting of oud and guitar represents an exciting cross-cultural exchange, these instruments have their very own specific sound and character, and there are important nuances within the vocabulary of flamenco, as it has been developed by the Barcelona Guitar Trio and several of their peers. To begin with, there are two types of guitars to consider. Coll explains that each has a very decisive impact on the music: “The construction of the instruments has some differences, but they are subtle. The Spanish guitar includes both the classical guitar and flamenco guitar. Classical guitar in general employs a sweeter sound in performing the works of classical composers. Although there is a large margin for interpretation, all the notes are written. Flamenco guitar uses techniques that are its own—such as strokes on the top of the guitar, strumming, or alzapúa—and a much brighter and crisper sound, while improvisation plays an important role.” With its whirling, hard-edged chording, long and winding finger picked lines, and sudden bursts of speed, flamenco has signes particuliers that can be readily identified. Yet as much as the guitar, and voice in some ensembles, takes pride of place, another integral element of its musical vocabulary is percussion. The low, dense
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thump of the cajón, the sharp, high clatter of the bongos, and the resonant handclaps (known as “palmas”) all help to drive the sound, like a tightly regulated form of metronome. “Percussion, in flamenco, plays the same role as in other musical styles: to reinforce the rhythm,” Coll says. Musicians of all kinds have commented on the complexity of the beat in flamenco, above all the absolute precision with which the different cycles are counted by the palmas, which start, stop, and restart with split-second timing. Technical characteristics aside, flamenco is a deeply impassioned, emotionally charged form of expression in which the musical statement is often accompanied by dance to create a heady, almost intoxicating spectacle. Seminal figures in the world of jazz have drawn great inspiration from flamenco, notably Charles Mingus and Miles Davis, whose majestic orchestral work Sketches of Spain reflects his fascination with the genre. As for Chick Corea, he put his own spin on flamenco on the album My Spanish Heart and was also known to be a devotee of the music of Paco de Lucía, so much so that he told the guitarist, following one of his concerts, that he would soon be stealing both his bassist and percussionist. He was not joking. Flamenco thus remains a genre that captivates players and listeners alike. Naseer Shamma sees it as an expression of who people are as well as what they create. “Like jazz, this is music that is coming from the heart. It really means something to people who are playing it,” he argues. “I only hope we are showing all the love and respect for Paco through the music.”
Kevin Le Gendre is the author of Don’t Stop the Carnival: Black Music in Britain.
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