Emmanuel Pahud
EinfĂźhrungstext von Martin Wilkening Program Note by Thomas May
EMMANUEL PAHUD Dienstag
17. Dezember 2019 19.30 Uhr
Emmanuel Pahud Flรถte
Jörg Widmann (*1973) Petite Suite für Flöte solo (2016) I. Allemande II. Lamento III. Sarabande
Johann Sebastian Bach (1685–1750) Partita für Flöte solo a-moll BWV 1013 (um 1720) I. Allemande II. Corrente III. Sarabande IV. Bourrée anglaise
Edgard Varèse (1883–1965) Density 21.5 für Flöte solo (1936/46)
Elliott Carter (1908–2012) Scrivo in vento für Flöte solo (1991)
Marin Marais (1656–1728) Les Folies d’Espagne aus 2nd Livre de pièces de viole (1701) Bearbeitung für Flöte solo
Luciano Berio (1925–2003) Sequenza I für Flöte solo (1958)
Tōru Takemitsu (1930–1996) Air für Flöte solo (1995) Keine Pause
Arbeit am Mythos Komponieren für Flöte
Mar tin Wilkening
Instrument und Erfindung: Jörg Widmann „Wir können keine neue, utopische musikalische Sprache e rfinden, und ebenso wenig ihre Instrumente. Aber wir tragen beständig zu ihrer Entwicklung bei. Früher ging die praktische Erfahrung am Musikinstrument jeder theoretischen Kenntnis von Kreativität voraus. Bis zu Wagner waren alle Komponisten, mit Ausnahme einiger Opernkomponisten, Virtuosen aus eigenem Recht. Erst später begann die musikalische Kreativität sich schrittweise von ihren spezifischen Werkzeugen zu trennen, mit einer wachsenden Loslösung von diesen wunderbaren akustischen Maschinen.“ Eine zunehmende Trennung der Musikschaffenden in Kom ponisten und Interpreten im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts, die Luciano Berio 2006 in Vorlesungen mit dem Titel Die Zukunft erinnern konstatierte, gilt für Jörg Widmann nicht. Als Klarinettist und Komponist ist er beides – um Berios Ausdruck noch einmal aufzugreifen – aus eigenem Recht. Und so zeichnen sich seine Werke nicht nur durch ihre idiomatisch treffende Schreibweise aus, sondern auch durch den Erfindungsreichtum, mit dem diese Schreibweise erweitert oder in ihrem Ausdrucksgehalt umgedeutet wird. Das Instrument erscheint bei Widmann gleichzeitig vertraut und doch neu. Davon zeugt selbst ein relativ klein dimensioniertes Stück wie die Petite Suite – tatsächlich keine eigenständige Komposition, sondern
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ein Extrakt aus dem Flötenkonzert Flûte en Suite von 2011, das auf Anregung Emanuel Pahuds entstand. Aus den sieben Sätzen des Konzerts hat Widmann drei – Allemande, Lamento und Sarabande – für das Solostück ausgewählt und dabei die Flötenstimme fast unverändert übernommen, lediglich die Verläufe gekürzt oder gestrafft. Das musikalische Geschehen konzentriert sich so ganz auf die ausdrucksvolle melodische Linie, die den gesamten Klangraum der Flöte erschließt. Die Sätze sind in ihrer motivischen Substanz verwandt, die Gestik entwickelt sich vor allem aus den elementaren Figuren des Auf- und Absteigens. Im zentralen Lamento wären, der Tradition einer musikalischen Klage gemäß, dunkle Klangfarbe und langsame Bewegung zu erwarten. Der dunkle Ton ist jedoch in die Allemande verlagert, der gemessene Schritt in die Sarabande. Weite Teile des Lamento bewegen sich in extrem hoher Lage, und so erscheint diese Klage auf ungewohnte Weise elementar, erinnert vielleicht an schrille Totenklagen archaischer Kulturen oder an mimetisch nachempfundene Seufzer und Schreie. Auch beschwört das Stück auf unerwartete Weise die Erinnerung an jenen griechischen Mythos, der die Geburt der Flöte (und damit der Musik) aus einem Erlebnis des Verlusts darstellt: dem Gott Pan, der der Nymphe Syrinx nachstellt, bleibt nach deren rettender Verwandlung in ein Schilfrohr nichts als das Schilf selbst. Ovid lässt einen Zeugen berichten, „dass die in Bewegung versetzte Luft, während Pan dort seufzte, im Schilf einen zarten Ton erzeugt habe, der einer Klagenden glich; dass der Gott, ergriffen von der neuen Kunst und der Süße des Tons gesagt habe: Diese Art der Unterhaltung mit dir wird mir bleiben; und dass er, nachdem er Schilfrohre von ungleicher Länge durch Wachs als Bindemittel miteinander verbunden, das Mädchen wenigstens dem Namen nach gehalten habe.“ Die Traversflöte: Johann Sebastian Bach Das Querflöten-Repertoire schlägt einen Bogen um das 19. Jahrhundert, das mit dem hellen, feinen und leichtbeweglichen Klang des Instruments nicht viel anzufangen wusste. Debussys Verwendung der Flöte in Syrinx und Prélude à l’après-midi d’un faune markiert diesbezüglich einen Neubeginn. Die erste Blütezeit der Flötenliteratur war spätestens mit Mozarts bekannter Abneigung gegen das Instrument zu Ende gegangen.
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Bachs Partita für Soloflöte – wie die Cellosuiten und Violinpartiten als Folge von Tanzsätzen angelegt – entstand um 1720. Zu dieser Zeit begann die Traversflöte, damals noch aus Holz, mit einfachen Grifflöchern und nur ansatzweise mit Klappen versehen, in Deutschland gerade erst die Blockflöte abzulösen. Ein großer Teil des Flötenrepertoires jener Jahre bestand aus Adaptionen von Werken für Violine, und es ist vermutet worden, dass zumindest der erste Satz von Bachs Partita ursprünglich für dieses Instrument gedacht war. Da das Stück nur in einer einzigen Handschrift überliefert ist, die nicht vom Komponisten stammt, muss die Frage nach seiner Originalgestalt unbeantwortet bleiben. Ungewöhnlich für eine Flötenkomposition ist jedenfalls, dass die ohne Ruhepunkte durchlaufenden Sechzehntel dieses ersten Satzes keine Einschnitte zum Atmen zu gewähren scheinen. Die Atemstellen hat der Flötist durch überlegte Phrasierung und richtige Tempowahl selbst zu bestimmen. Bach bezeichnet den Satz nicht als Präludium, sondern als Allemande, was für ein eher ruhig fließendes Tempo spricht. Dennoch bleibt für die Kunst des richtigen Atmens ein Moment des Utopischen wirksam. „Instrumente benötigen eine lange Zeit, um sich selbst zu transformieren, und sie neigen dazu, hinter der Entwicklung des musikalischen Denkens zurückzubleiben“, bemerkte Luciano Berio. „Es ist eine bezeichnende Schwierigkeit, Gedanken und theoretische Reflektionen an die Wirklichkeit des Instruments anzupassen, das durch die Geschichte, die es inkorporiert, und die Wege und Techniken, durch die es die Geschichte bewohnt, schon aus sich selbst heraus expressiv ist. Aber wie immer ist es nicht das musikalische Denken, das sich dem Instrument zu unterwerfen hat; vielmehr ist es der Gedanke selbst, der ein bewusstes Gefäß für das Instrument und sein physisches Vermächtnis werden muss.“ Metall: Edgard Varèse Der Klangcharakter einer Querflöte wird insbesondere durch die innere Formung der Röhre und ihre Wandstärke bestimmt. Doch auch das Material des Instrumentenkörpers spielt eine Rolle. Hierauf bezieht sich der Titel von Edgard Varèses Density 21.5: Er bezeichnet das spezifische Gewicht des Elements Platin. Platin ist schwerer und vor allem härter als Silber und Gold, die beim Flötenbau nur unter Beimischung anderer Metalle verwendet werden
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können. Entstanden ist Density 21.5 im Jahr 1936 als Auftragswerk zur Vorstellung eines neuen Instruments, einer Platin-Flöte, die sich der Flötist Georges Barrère hatte anfertigen lassen. Die Wahl des Metalls beeinflusst die Farbe, Dichte und das Ansprechen des Tons – der Klang der Platin-Flöte wird als voluminöser, direkter und kerniger empfunden. Für Varèse war dieser materialhafte Aspekt des Klangs nicht nur eine unverbindliche Zutat. Zum einen beziehen sich mehrere seiner Werktitel (etwa Hyperprism) auf physikalische Eigenschaften. Zum anderen berührt das Metall Platin, das in Europa erst spät bekannt wurde, in Südamerika aber viel früher schon bei den Inkas im Gebrauch war, einen geographischmythologischen Assoziationskreis, der zentral für Varèses Denken war. Auf die Auseinandersetzung mit indianischen Kulturen beziehen sich Werke wie Déserts und Ecuatorial, aber auch Amériques – die beiden Amerikas –, das mit seinem Flötensolo zu Beginn unverkennbar Debussys Flöte des Fauns und des Pan in Erinnerung ruft. (Georges Barrère war in der Uraufführung von Prélude à l’après-midi d’un faune der Solist gewesen.) Varèses Density 21.5 ist beides: eine Aneignung und Übertragung des Pan- und Syrinx-Mythos in den neuen Horizont amerikanisch- indianischer Kultur und eine Wendung zum klingenden Material selbst, jenseits von Mythos und Geschichte. Ersteres erschließt sich unmittelbar durch die ausdrucksvollen, kleinzellig entwickelten melodischen Gesten, die ganz in der Tradition des impressionistischen Flöten-Idioms stehen. Letzteres ist musikalisch am deutlichsten im Mittelteil des Werks zu fassen: Dort wird der melodische Fluss unterbrochen, und Varèse kombiniert stattdessen kurze Töne mit Klappengeräuschen, in denen tatsächlich die Resonanz des metallischen Hohlkörpers direkt hörbar ist. Aufgrund dieser material bezogenen Dimension bezeichnete der Flötist Aurèle Nicolet das Stück geradewegs als „Anti-Syrinx“. Für solche perkussiven, pizzicato- ähnlichen Klänge ist die Platin-Flöte deutlich besser geeignet als die Silber-Flöte. Mittlerweile gehören Techniken wie diese zum Standardvokabular neuer Flötenmusik, doch für die damalige Zeit stellten sie etwas Neues dar, und Varèse verleiht ihnen durchaus poetische Bedeutung. Mit seinen wiederholten, leicht veränderten Gesten wirkt das Stück wie eine Anrufung, eine Evokation. Der Mittelteil dagegen öffnet mit seinen Pausen die Weite des Raums, im Lauschen auf Antwort, auf Erhörung – die in Form einer fast wörtlichen Reprise auch erfolgt.
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Übersetzung: Elliott Carter Mit dem Titel seines Stücks rückt Elliott Carter einen anderen Aspekt von Flötenmusik in den Vordergrund: Scrivo in vento („Ich schreibe in den Wind“) thematisiert die schwingende Luft und den gestoßenen Atem, der diese Schwingungen anregt. Als Metapher weist der Ausdruck hin auf Vergänglichkeit, Vergeblichkeit des Tuns, und enthält damit zugleich eine Aussage über das Wesen des Klanges selbst, der nicht im Raum zu fassen ist, sondern nur als flüchtige Erscheinung in der Zeit. Die Worte stammen aus einem Sonett von Petrarca, das auch der Partitur vorangestellt ist. In vielfältigen Paradoxien und Antithesen besingt es die Erfüllung durch unerfüllte Liebe: in der Lust am Leiden, der Freude im Traum, dem Bauen auf Sand, dem Schwimmen in einem Meer ohne Grund und Ufer. Carter übersetzt die starken Spannungen der Sprachbilder Petrarcas aus dem 14. Jahrhundert in musikalische Kontraste von 1991. Als Initiale erscheinen gehaltene Töne in tieferer Lage, aus denen sich in kleinen Schritten Melodieansätze formen – eine Gestik, die auch in den Werken von Widmann, Varèse und Takemitsu den Ausgangspunkt bildet, und die als klingende Repräsentation des Instruments selbst, der schwingenden Luft in der Röhre unmittelbar einleuchtend erscheint. Carter unterbricht diese Bewegung aber sehr bald durch hohe, gestoßene Töne. Die Kontraste der Lagen, der Artikulation und der Dynamik werden dann auf vielfältige Weise entwickelt, vertauscht, neu kombiniert. Doch die Musik kehrt immer wieder zu dem ruhig bewegten Anfangsgestus zurück, wie die stets neuansetzenden Zeilen oder Strophen eines Gedichts, so dass die Musik gleichsam den Charakter einer Rezitation erhält, einer musikalischen Lektüre des Petrarca- Sonetts. Transkription: Marin Marais Traversflöte, Silber-Flöte oder Platin-Flöte? Die Frage nach der Verbindung zwischen Notentext und spezifischem Instrument zu dessen Realisierung kann unter verschiedenen Vorzeichen gestellt werden. Und sie führt zu der sehr viel grundsätzlicheren Frage nach dem Verhältnis von musikalischer Idee und Notentext. Ferruccio Busoni hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts die platonisch inspirierte These aufgestellt, dass eigentlich jede Komposition schon eine
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Transkription darstelle, die Transkription einer Idee. Berio spricht von der Aufgabe des Komponisten, „einen Dialog zu schaffen, wie metaphorisch auch immer, zwischen ‚Himmel‘ (der Idee) und Erde, zwischen ‚Seele‘ und Körper (dem Instrument), oder zwischen musica mundana, musica humana und musica instrumentalis. Jede Form des Schöpferischen, die unberührt davon ist, diese hartnäckige und bedeutende Lücke zu überbrücken, ist zum Schweigen verdammt.“ Vor diesem Hintergrund relativiert sich nicht nur die Skepsis, die dem Phänomen der Transkription mitunter entgegengebracht wird. Vielmehr lässt sich die gelungene Transkription so geradezu als Brückenschlag zwischen Idee und Instrument begreifen, weil sie die Spannung zwischen beidem neu ins Bewusstsein ruft. Marin Marais, der bedeutende französische Gamben-Virtuose, schreibt selbst im Vorwort zu der 1701 erschienen Ausgabe seiner Kompositionen, die auch die 32-teilige Variationen-Reihe Les Folies d’Espagne für Gambe und Basso continuo enthält: „Ich habe große Sorgfalt darauf verwendet, diese Stücke so zu komponieren, dass sie auf allen möglichen Instrumenten gespielt werden können, darunter Orgel, Cembalo, Laute, Violine und Flöte. Ich wage zu behaupten, dass diese Absicht erfolgreich war, da ich sie selbst auf beiden letztgenannten Instrumenten gespielt habe.“ Schließlich ist es auch die Variationsform selbst, die mit dem immer neuen Umkreisen einer Idee (des Themas) in vielfältigen Erscheinungsformen (den Variationen) jene Spannung zwischen dem Vorgestellten und dem konkret Erklingenden zu ihrem Formprinzip macht. Die ekstatisch sich steigernde Jagd nach der Idee, die das achttaktige, nur durch seine Akkordfortschreitungen und den Dreiertakt definierte „La Foglia“-Thema in unzähligen Versionen von Variationszyklen verschiedener Komponisten auslöste, findet ihr literarisches Gegenstück im Idealismus des Don Quichotte und seinen „spanischen Verrücktheiten“ („les folies d’Espagne“). Anwesenheit/Abwesenheit: Luciano Berio „Mich faszinieren musikalische Vorstellungen, die es ermöglichen, eine Polyphonie von unterschiedlichen Gestaltungen der Bedeutung zu entwickeln – Vorstellungen, die sich nicht der Möglichkeit verweigern, spezifische und konkrete instrumentale Gesten zu benutzen. Sie etablieren dann eine große Spannweite von fernen Echos und Erinnerungen, die es dem Komponisten erlaubt,
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einen Dialog spezifischer An- und Abwesenheiten zu entwerfen: einen musikalischen Raum, bewohnt durch die bedeutungsvolle Anwesenheit des Abwesenden und das Echo des abwesend Anwesendem.“ Berios Gedanke eines Dialogs von An- und Abwesenheiten gehört zu den Grundbedingungen von Kunst. Er wird bereits im Mythos von Pan und Syrinx benannt, in dem das Schilfrohr mit seinem Klang an die Stelle der Nymphe tritt. Er entfaltet sich im Zwiegespräch zwischen Werken, in der historischen Akkumulation eines spezifisch instrumentalen Vokabulars, in den Echos der Transkriptionen und Bearbeitungen und schließlich (eigentlich: zu allererst) auch innerhalb der Form- und Strukturprozesse jedes einzelnen Werks. Ein Beispiel dafür ist die Idee einer Mehrstimmigkeit in der Einstimmigkeit, der sogenannte lineare Kontrapunkt, bei dem in einer melodischen Linie durch Brechung der Lagen die Illusion eines mehrstimmigen Geflechts entsteht: die Anwesenheit des Abwesenden. Diese Kunst hat Bach in seinen Solowerken für Melodieinstrumente konsequent entwickelt, und Berio knüpft in der Reihe seiner Sequenze daran an – insgesamt 14 Stücke für Soloinstrumente (bzw. in einem Fall Sopranstimme), die über einen langen Zeitraum hinweg zwischen 1958 und 1983 entstanden. Den Anfang machte die Flöte. Die Sequenza I ist virtuos, bis hin zu theatralisch aufgeladener Hysterie: schnelle, sprunghafte Lagenwechsel, staccato-Artikulation und Flatterzunge prägen den äußeren Eindruck. Sie erscheint wie ein Gegenbild zu den ruhig atmenden Gesten, mit denen Widmann, Varèse, Carter und auch Takemitsu den Flötenklang gleichsam naturhaft einsetzen lassen. Dies ist der Auftritt einer eigentlichen „Anti-Syrinx“. Doch Berios Stück ist voller Doppelbödigkeit. So wie sich in den sprunghaften Artikulationen ein mehrstimmiges Denken verbirgt, das sich im Verlauf des Stückes weiter entfaltet, so dient die Virtuosität der Entwicklung eines komplexen Beziehungsreichtums und einer dramatisch gespannten Form, die sich nach einer großen Steigerung im letzten Viertel ganz nach innen zu wenden scheint. Berio erfindet gerade hier, in der Zurücknahme, höchst unkonventionelle virtuose Ausdrucksmittel, etwa simultane Verläufe von crescendo und decrescendo, eine echte Zweistimmigkeit zwischen trillerartigen Klängen und Klappengeräuschen, die schließlich den Triller übertönen. Und dann folgen, zum ersten Mal in der Geschichte der Flötenliteratur, durch Überblasen erzeugte Mehrklänge, wie sie bald darauf fast zum Stereotyp avantgardistischer Virtuosität werden sollten. Hier aber sind sie mit poetischer Bedeutung
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aufgeladen, als Schattenklang wie eine Chiffre der Erinnerung an die „pan“-ische Erregung zuvor, nun doch wieder wie eine zarte Klage im raschelnden Schilf. Auch Berios Virtuosenstück entkommt diesem Ursprungsmythos der Kunst nicht – es läuft vielmehr direkt auf ihn zu. Wind: Tōru Takemitsu Air, entstanden 1995, ist die letzte Komposition, die der japanische Komponist Tōru Takemitsu vollendete. Von den experimentellen Ansätzen seiner früheren Flöten-Soli sind hier nur mehr Spuren zu finden. In Voice hatte Takemitsu 1971 ausgiebig Gebrauch von Mehrklängen gemacht und auch die Stimme des Flötisten mit einbezogen. Itinerant von 1989 überträgt den geräuschhaften Klang der japanischen Shakuhachi-Flöte auf die europäische Querflöte. In Air dagegen finden sich nur wenige Momente von Flageolettklängen, Flatterzungen-Artikulation, Portamento oder Trillern auf einem Ton, die mit speziellen Griffen gespielt werden. Das Stück kreist in ruhiger Bewegung, die fünfmal von ganztaktigen Pausen unterbrochen wird, um wenige Motive und Gesten und kehrt am Schluss zum Anfang zurück. Die Melodik ist durch pentatonische Skalen und Ganztonleitern geprägt, die ebenso wie die Dehnungen und Stauchungen der rhythmischen Werte den schwebenden, beständig sich verformenden Charakter der Gestaltung bestimmen. Mit diesem beständigen Transformationsprozess, in dem einzelne Motive immer wieder aufleuchten, werden Schönheit und Flüchtigkeit in einem beschworen. Dies betrifft gleichermaßen die Dimensionen von Raum und Zeit. An mehreren Stellen notiert Takemitsu als Spielanweisung „lontano“ (aus der Ferne), und in den Pausen öffnet sich der von der Flöte definierte Klang zu seiner Umgebung, zu einem Dialog mit dem umgebenden Raum, ebenso wie zu einem undefinierten Sprung in der Zeit, wenn das Geschehen danach von einem neuen tonalen Zentrum aus wieder einsetzt. So strebt diese Musik tendenziell in einem Akt konzentrierter Wahrnehmung nach der Aufhebung ihrer selbst. „Ist Ihnen bewusst“, so formulierte es Takemitsu einmal mit Bezug auf die japanische Flöten-Kunst, „dass der Ton nach dem der Shakuhachi-Meister bei seinem Spiel letztlich strebt, der Ton ist, der erzeugt wird, wenn der Wind durch ein altes Bambusdickicht bläst?“
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Martin Wilkening, geboren 1959 in Hannover, lebt seit 1977 in Berlin, unterbrochen von Âmehrjährigen Aufenthalten in Korea und Albanien. Er studierte Musik und Literaturwissenschaft und arbeitet seit 1981 als Autor, Musikkritiker, Dozent, Lektor und Verleger.
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Writing on the Wind Music for Solo Flute
Thomas May
In the Swabian Alps in Baden-Württemberg, paleolithic instruments with hand-holed bores have been found dating back more than 40,000 years—making the ancestral flute the oldest known musical instrument. Moving ahead a considerable stretch to one of the earliest surviving works of literature, the Epic of Gilgamesh (dating from c. 1800 BCE) makes reference to a “flute” of the semiprecious stone carnelian, and the Biblical figure Jubal is sometimes described as the inventor of the flute. Claude Debussy drew on the flute’s associations with a timeless and pastoral antiquity at the beginning of Prélude à l’après-midi d’un faune—which, at the same time, announced for Pierre Boulez the beginning of Modernism in music. For his recital program, Emmanuel Pahud explores the dramatic transformations in the image of the instrument from the Baroque to the present. But the revolution imagined by Modernist and contemporary composers involves not just abstract concepts but their realization by embodied performers playing physical instruments. Thus, another theme threaded through Pahud’s selection of works is the contribution made by masters of the instrument and their role as mentors. The entire program is framed by pieces inspired by the artistry of Aurèle Nicolet, a legendary modern flutist and Pahud’s own mentor.
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Jörg Widmann: Petite Suite When Aurèle Nicolet died a week after his 90th birthday in January 2016, Emmanuel Pahud organized a memorial concert to pay tribute to his former teacher, who had been an enormously influential inspiration—a figure once described by the novelist Günter Grass as a “spitfire, his curly hair ablaze.” As part of the program of indispensable works for his instrument by such composers as Boulez, Debussy, Bach, and Varèse, Pahud asked his contemporary Jörg Widmann to contribute a piece. Petite Suite, dedicated to Nicolet’s memory, condenses the solo flute part from Widmann’s earlier work for flute and orchestra, Flûte en Suite. Pahud was impressed by the latter’s “numerous references to Bach, but also to Mozart, Mahler, Puccini, Strauss, and Berio, ultimately in a very Ligeti-style approach.” Written in 2011 during a residency with the Cleveland Orchestra, Flûte en Suite veers away from Widmann’s larger-scaled concertos and instead takes the form of a quasi-Baroque suite with its array of reworked dance forms plus chorales and a cadenza. The composer notes that he was inspired by the “exciting dark timbre” of Joshua Smith, the ensemble’s principal flutist. “Sunken worlds suddenly emerge here, only to reach the surface, hover in dangerously distorted fashion, and then sink back to the bottom,” says Widmann, adding that the instrument in Flûte en Suite appears in varied lights as “acerbic, pale, and radiant.” Petite Suite is structured as three brief movements—Allemande, Lamento, and Sarabande—that span a vast range, from the dark, brooding opening low in the range to ecstatic heights. The score includes parts for obliggato bass flute and gong, though this evening, as on his recording, Pahud performs the solo part unaccompanied. He calls Widmann’s music “expressive, pure, and intense, but with a wonderful sense of mischief as well—a mix of intensity and vivacity that reminded me of Nicolet.” Johann Sebastian Bach: Partita for Solo Flute in A minor Essential to the flute repertoire, this Partita survived in an 18th-century manuscript—not the autograph—with the heading “Solo p[our une] flûte traversière par J.S. Bach.” It shares with many of Bach’s other chamber compositions the fact that little is known
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of its origins and purpose—including the essential question as to whether the surviving manuscript even represents the original instrumentation the composer had in mind. (Might it have been taken from a piece intended for keyboard?) Like the Cello Suites and Partitas for Solo Violin, the Flute Partita comprises a series of Baroque dance-based movements. But the claim that it was composed during the same period in Köthen (from 1717 to 1723), when Bach focused on secular instrumental genres, is disputed by the expert Christoph Wolff. He does so on the grounds that “the playing technique is much more advanced than, for example, the writing for flute in Brandenburg Concerto No. 5,” and thus posits a later date. In any case, the Partita contains four movements that test the limits of a flutist’s artistry. For example, the opening Allemande, in binary form, demands the utmost in artful breath control as the soloist shapes its ceaseless flow of 16th notes while at the same time negotiating wide register leaps. These are part of Bach’s illusionistic technique of “suggesting” harmony for a solo instrument—or the broken chords may indicate an origin from the keyboard. Bach uses the Italian-style Corrente (as opposed to Courante) for an even more rapid essay in flowing 16th notes, whose apex is a high D sharp. A contrastingly slow and inward-looking Sarabande opens up a different emotional perspective, while the concluding Bourrée angloise reconfigures the more familiar Gigue prototype with a short-short-long rhythmic impulse (associated with the British Isles) in duple meter. Edgard Varèse: Density 21.5 Edgard Varèse was a witness to the birth of Modernism in both Berlin and Paris. He attended the premieres of Pierrot lunaire in 1912 and The Rite of Spring in 1913 and introduced Debussy to Schoenberg’s atonal experiments. In 1915, he made his way to the United States and cofounded the International Composers’ Guild there. Placing his faith in a future of radically novel sonic possibilities, Varèse celebrated the discoveries of “new worlds on earth, in the sky, or in the minds of men” with the orchestral Amériques, the first major work he composed after leaving Europe and his first published score. Back in Paris in the late 1920s through the early 1930s, Varèse worked with Léon Theremin and even anticipated aspects of the electronic medium, waiting for the technology to catch up
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with his imagination. He attempted to enlist the support of the Bell Telephone Company, the Guggenheim Foundation, and Hollywood, where he hoped to persuade decision-makers of cinematic potential of electronic music. Varèse returned to the U.S. in search of these new alliances, but lack of interest led to a long fallow period. Density 21.5 dates from 1936 (revised in 1946), shortly after Varèse’s return to America, and is surrounded by long periods of compositional silence (though he was continually planning and sketching ambitious projects that failed to be realized). The meager number of works Varèse completed is a poor indication of his widely spanning influence, which encompasses such figures as Stockhausen, Boulez, Frank Zappa, and John Zorn, among many others. Amériques had given a prominent role to the flute, making idyllic allusions to Debussy’s Prélude à l’après-midi d’un faune throughout its radical course. Varèse composed Density 21.5 for Georges Barrère, the very flutist who had played the iconic solo that begins Debussy’s epochal work at its premiere in 1894. Barrère wanted a solo piece to inaugurate a newly constructed platinum flute at the New York World’s Fair. The title of the piece refers to the density or specific mass of this rare metal, which is 21.5. Density 21.5 concentrates a great deal of compositional and sonic invention within its brief span. Varèse wrote of the sense of tonality that can be established without relying on a traditional tonic hierarchy. What he called “shapes of sound” could accomplish something similar. In Density 21.5, these shapes coalesce in the form of pivotal intervals (such as tritones and minor thirds). The piece also makes use of altered timbre, extremes of register, and percussive clicking in such original ways that Varèse pointed the way toward future radical approaches to the instrument. Elliott Carter: Scrivo in vento As Elliott Carter’s remarkably long career progressed into the 1980s, he began producing a number of relatively short compositions. “At first many of these miniatures sounded like distillations of Carter’s large-scale forms,” writes his biographer David Schiff, “but as the list of short works grew they established aesthetic principles of their own, which in turn recast Carter’s approach to extended forms.” Scrivo in vento (“I Write in the Wind”) comes from this vintage
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of compositions that, according to Schiff, “present themselves more as jeux d’esprit than as cris de coeur.” Carter wrote this piece for his friend Robert Aitken, the Canadian flutist and composer, who premiered it on July 2, 1991 at the Festival of Avignon. The title comes from a poem by Petrarch, who spent a period of his life in and near Avignon, namely Sonnet 212 from Rime sparse (“Scattered Rhymes”), which is titled Beato in sogno (“Blessed in Sleep”): “I plow the waves and build my house on sand and write on the wind.” The flute is used here, the composer explains, “to present contrasting musical ideas and registers to suggest the paradoxical nature of the poem.” Fundamentally, this is the paradox of artistic creation itself: of striving for permanence, for immortality, from our fragile human condition. The musicologist Arnold Whittall argues that Carter reframes this paradox through his subtle calibration of highly contrasting elements (such as register and dynamics) to achieve “equilibrium in the absence of the anchoring force of tonality.” The art—poetry and music—lives on in the present human breath. It delighted Carter that Aitken premiered his piece on Petrarch’s 687th birthday. Marin Marais: Les Folies d’Espagne Les Folies d’Espagne by French viol virtuoso Marin Marais, in a transcription for solo flute, takes us back to the Baroque era. The fascinating phenomenon known as “la Folía,” “la Follia,” or “les Folies” refers to a folk dance, originating in Portugal in the late Renaissance, that became associated with an improvisatory process based on a given chord sequence. By the 18th century, the so-called “Follies of Spain” had taken shape as a specific eight-chord progression in D minor, moving in the stately triple meter of the sarabande. In this incarnation, it became a maddening obsession indeed, an ear worm that spread internationally. Arcangelo Corelli created a sensation with a violin sonata cast as a set of 25 variations on this sequence; closer to our own time, Rachmaninoff made use of it in one of his late works. Marin Marais published his set of variations on “les Folies” in the Second Book of his Pièces de viole in 1701. The French composer was a student of Jean-Baptiste Lully and became a viol virtuoso at Louis XIV’s court in Versailles. In his preface to the publication, Marais—“one of the first French instrumentalists to make his mark
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as a soloist,” according to the New Grove Dictionary—noted that he “took pains while composing [these variations] to make sure they could be played on all kinds of instruments, including organ, harpsichord, theorbo, lute, violin, or German flute, and I dare flatter myself that I have succeeded in this aim, having tested them on the two latter instruments.” He included a line for basso continuo, yet, as in the Bach Partita, the solo flute is capable of working its illusionist magic to imply the harmonic contours—at least for the 25 variations that are transposed from the full set of 32 published by Marais. Luciano Berio: Sequenza I The term “omnivorous” is often applied to Luciano Berio and his larger-than-life hunger for experience and passion for all kinds of music. Berio was fascinated by the convergences between musical expression and the rest of human culture, high and low, elite and populist. He took inspiration from such sources as literature, theatricality, circus performances, linguistics, anthropology, and politics. His Sequenze, which go back to 1958, continued as a work-inprogress totaling 14 solo compositions by Berio’s death in 2003. Each Sequenza is for a different instrument (including one for female voice), with alternate versions for two of them and various companion pieces acting as satellites. These compositions crowd a density of ideas and experiments within their frames that belies their relative brevity. And there is something labyrinthine—to borrow a term of which Pierre Boulez was fond—about them. The title for the series refers to Berio’s process of constructing most of these pieces from “a sequence of harmonic fields from which the other, strongly characterized musical functions were derived,” according to the composer, with the intention of encouraging “a polyphonic mode of listening.” The earlier Sequenze in particular show Berio working out issues of compositional language, but he also came to explore each instrument as a phenomenon in itself, bringing its cultural history and even physical makeup into play in a sophisticated brand of performance art and self-referential commentary. Sequenza I was written for Severino Gazzeloni, principal flute of the RAI National Symphony Orchestra in Turin and a champion of avant-garde compositions for his instrument. “Writing for a single- voice instrument today means that the composer must thoroughly
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re-establish the relationship between open and concealed, linear and melodic counterpoint from the ground up,” observed Berio. “This touches a central nerve-point of musical invention.” Much the same might be said of Bach—if his Partita was indeed conceived for solo flute—but the context by the late 1950s was so completely different that an utterly new picture of the flute emerges here from the pressures of ultra-virtuosity. Tōru Takemitsu: Air Aurèle Nicolet’s artistry again receives a nod at the conclusion of Emmanuel Pahud’s recital with this piece, which Tōru Takemitsu composed in 1995 to mark the flutist’s 70th birthday. Yasukazu Uemura gave the premiere, in Switzerland, on January 28, 1996. Takemitsu died only a month later. Air was his final published composition. Born in Tokyo and coming of age in the devastation of postwar Japan, Takemitsu was eager to learn about Western musical culture, which until recently had been taboo. He eventually developed a musical language that subtly blended his early experiences of the Western avant-garde—John Cage made an enormous impact on this thinking—with a deepening knowledge of Japanese and other Asian musical traditions. “As a Japanese I want to develop in terms of tradition and as a Westerner in terms of innovation,” Takemitsu once said. Air meditates on an enigmatic motif of four notes, which are transformed through echoes, transpositions, shifting dynamics and register, pauses, and a relatively sparing use of the extended techniques of flutter-tongue and slow glissando. The music unfolds in a gentle rhapsody, or a moment of enlightenment, as organically as the very breath that produces it. Characteristically, the title is layered with suggestive possibility: the breath through which life is sustained is also the breath the flutist uses to make music. On another level, the melody that results, a self-contained song, an “air,” is the product. The note A even serves as an anchor at the beginning of the piece. In his book on the composer, Peter Burt notes that Takemitsu, despite his avant-garde credentials, once remarked: “I probably belong to a type of composer of songs who keeps thinking about melody…” Elsewhere, Takemitsu observed that when “thinking of musical form, I think of liquid form. I wish for musical changes to be as gradual as the tides.”
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Thomas May is a freelance writer, critic, educator, and translator whose work has appeared in The New York Times and Musical America. He regularly contributes to the programs of the ÂLucerne Festival, Metropolitan Opera, and Juilliard School, and his books include Decoding ÂWagner and The John Adams Reader.
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