Die Erรถffnungswoche The Opening Week
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Inhaltsverzeichnis / Table of Contents Ein Gespräch mit Daniel Barenboim A Conversation with Daniel Barenboim Boulez Ensemble Jörg Widmann Daniel Barenboim & Radu Lupu Christian Gerhaher & Daniel Barenboim John McLaughlin & The 4th Dimension
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„Musik, die mir etwas zu sagen hat” Ein Gespräch mit Daniel Barenboim
Ein neuer Konzertsaal wird eröffnet im Herzen Berlins. Der Pierre Boulez Saal – benannt nach dem großen französischen Komponisten, Dirigenten und musikalischen Visionär und entworfen von Architekt Frank Gehry – ist Teil der Barenboim-Said Akademie, einem Konservatorium für Studenten aus dem Nahen Osten und der ganzen Welt. Saal und Akademie verdanken ihre Entstehung einer Idee, die vor fast 20 Jahren geboren wurde. In Weimar, der damaligen Kulturhauptstadt Europas, luden 1999 Daniel Barenboim und der palestinensische Literaturwissenschaftler Edward Said junge Musiker aus Israel, Palestina und anderen arabischen Ländern ein, gemeinsam in einem Orchester zu spielen, im Geist der Gleichberechtigung und interkulturellen Annäherung. Erdacht als einmaliges Experiment, hat sich das West-Eastern Divan Orchestra längst als weltweiter Botschafter der Kunst und des Humanismus etabliert. Im Pierre Boulez Saal soll dieses Erbe fortgeführt werden und wachsen – mit einem experimentierfreudigen Programm, dass die Klassiker mit Meisterwerken des 20. Jahrhunderts, Uraufführungen, Musik aus dem Nahen Osten, Jazz und mehr kombiniert, in einem einzigartigen architektonischen Ambiente. Kurz vor der Eröffnung sprach Daniel Barenboim mit Philipp Brieler, dem Dramaturgen des Pierre Boulez Saals, über seine Vision für dieses neue Konzerthaus und das Ensemble, das dort beheimatet sein wird.
Sie haben sich für das Boulez Ensemble ein ungewöhnliches Programmkonzept einfallen lassen. Ich wollte für diesen neuen Saal ein neues Ensemble gründen, aber eins, das nicht ausschließlich zeitgenössische Musik spielt. Ich glaube nicht, dass viele Musiker das wirklich wollen, sie fühlen sich nicht wohl in einem Ghetto, ob das nun ein Barock-Ghetto ist oder eins der zeitgenössischen Musik. Statt dessen habe ich mir vorgestellt, Programme zu machen, in denen ein klassisches Werk gespielt wird – Mozart, Beethoven, Schubert –, ein Klassiker des 20. Jahr4
hunderts – Strawinsky, Schönberg, Debussy – und ein Auftragswerk oder zeitgenössisches Stück. Das war die Grundidee. Die Musiker engagieren wir für jedes einzelne Projekt hauptsächlich aus dem West-Eastern Divan Orchestra und der Staatskapelle Berlin, und dazu kommen noch einige internationale Gäste. Mittlerweile haben Sie hier geprobt und die Akademie-Studenten spielen gehört.Wie ist Ihr Eindruck: entspricht der Saal dem, was Sie sich erhofft hatten? Mehr als das. Es gibt viele Konzertsäle auf der Welt mit guter Akustik. Aber wovon sprechen wir eigentlich, wenn wir über Akustik sprechen? Es geht um das Verhältnis zwischen Transparenz einerseits und der Substanz des Klanges andererseits. Man kann das fast mit vertikalem Druck und horizontalem Fluss vergleichen: Die Klangschwingungen sind die Horizontale und die Transparenz ist die Vertikale. Das heißt, man braucht ein bestimmtes Maß an Trockenheit, um alle Einzelheiten wahrzunehmen und zu hören, die man hören möchte. Gleichzeitig braucht man aber auch eine Akustik, die es möglich macht, dass der Klang sich auf natürliche Weise ausbreiten kann. Klang bleibt nicht einfach bestehen, er ist vergänglich. Wenn keine Energie mehr da ist, keine Luft, kein Bogenstrich, stirbt der Klang. Und dieses Verhältnis ist hier in diesem Saal für mich auf magische Weise ideal realisiert. Nach allem, was ich bisher gehört habe, kann ich mir keine Musik vorstellen, die hier nicht gut klingen wird. Die Idee für den Saal ging hervor aus dem West-Eastern Divan Orchestra, deshalb war es von Anfang an klar, dass Musik aus dem Nahen Osten hier eine wichtige Rolle spielen würde. Sie haben gesagt, sie würden den Pierre Boulez Saal gern zur europäischen Heimat für arabische Musik machen. Ich bin kein besonderer Anhänger von „Weltmusik“. Aber ich glaube, wir haben eine Verpflichtung, uns mit arabischer Musik zu beschäftigen, aus dem einfachen Grund, dass ein wirkliches Studium dieser Musik bisher praktisch nicht stattgefunden hat. Ich trage diese Idee schon lange mit mir herum und habe sie bisher nie umsetzen können, deshalb hoffe ich, dass uns das hier gelingt. 1931 fand in Kairo eine Konferenz statt, der Cairo Congress, bei dem viele große Komponisten der Zeit anwesend waren, unter anderem Bartók, Kodály und Hindemith. Das war etwas ganz Außer5
ordentliches.Von Bartók sind erstaunliche Bemerkungen überliefert, er fand die Musik, die aus den Dörfern kam, viel interessanter als die aus den Städten, weil in den Städten hauptsächlich pseudo-europäische Musik gemacht wurde. Seitdem ist nicht viel passiert, was die Beschäftigung mit arabischer Musik angeht. Deshalb würde ich diesen Saal gern als europäisches Zentrum dafür etablieren. Ich glaube, in einem Saal wie diesem ist es besonders wichtig, ganz unterschiedliche Arten von Musik zu erleben. Wir werden arabische und iranische Musik haben, und auch Jazz. Ich kenne John McLaughlin seit vielen Jahren, und als ich ihn gebeten habe, hier zu spielen, hat er sofort zugesagt. Ein weiteres wichtiges Leitmotiv der Eröffnungsspielzeit wird das Schubert-Jahr sein. Sie selbst spielen sämtliche Klaviersonaten und dirigieren die Symphonien. Aber zuerst gibt es die Winterreise – den Liederzyklus schlechthin, ein Stück, das jeder kennt... Das denkt man! Es wird ganz sicher anders wirken, wenn es zwischen Musik von Boulez und John McLaughlin steht. Aber diese Winterreise steht auch am Beginn eines Schubert-Zyklus, der sich über mehrere Jahre erstrecken wird. Die Idee dazu geht zurück auf Dietrich Fischer-Dieskau und das Schubert-Jahr 1997. Er hatte den wunderbaren Einfall, sämtliche Lieder aufzuführen. Ich glaube, für jeden Komponisten gibt es ein Genre, das ihm besonders nahe steht, bei dem man das Gefühl hat, es ist wie ein persönliches Tagebuch. Das mag nicht zutreffen für reine Opernkomponisten wie Wagner oder Verdi, aber für diejenigen, die Kammermusik, Symphonien, Instrumentalmusik oder Lieder geschrieben haben. Ich habe zum Beispiel den Eindruck, dass Beethovens intimes Tagebuch in den Klaviersonaten und den Streichquartetten zu finden ist, nicht in den Symphonien. Bei Schubert sind es ganz sicher die Lieder, vielleicht auch die Kammermusik. Deshalb glaube ich, das passt gut hierher. Der Saal hat die richtige Größe, und es werden bekannte Sänger und jüngere Künstler zu hören sein, über die nächsten vier Jahre. Macht es Ihnen manchmal Sorge, sich vorzustellen, dass im Publikum auch Hörer sitzen, die Schubert lieben, sich aber an Schönberg oder Boulez nicht so recht herantrauen? Wissen Sie, da muss man sich zuerst eine andere Frage stellen. Musik war tonal bis Wagner. Natürlich sind auch 6
später noch tonale Werke geschrieben worden, aber das war eigentlich der Endpunkt. Was dann im 20. Jahrhundert passiert ist, Schönbergs Zwölftontechnik und was danach kam – war das ein natürlicher Prozess der Evolution, war das die einzige Richtung, in die es mit der Musik gehen konnte? Hat sie sich weiterentwickelt, oder war es ein Bruch? Es war beides. Richtig – weil jede konstruktive Revolution das Ergebnis von Evolution ist. Man kann keine Revolution machen und sagen: „Vergesst die Vergangenheit!“ Man muss verstehen, wie sich Dinge entwickeln, das ist wie mit einer Überleitung in der Musik. Und dann kann man den revolutionären Schritt tun und es wird einem ganz logisch und natürlich vorkommen. Das war Pierre Boulez’ Maxime, und er hatte völlig recht damit. Klassische, Romantische oder moderne Musik interessieren mich eigentlich nicht. Mich interessiert Musik, die mir etwas zu sagen hat. Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir versuchen, diese Idee umzusetzen und zeitgenössisches Repertoire Seite an Seite zu stellen mit Werken aus der Klassik und dem 20. Jahrhunderts. Und das werden wir tun, gleich im ersten Konzert. Es mag eine Herausforderung für das Publikum sein und für die Musiker genauso, aber es wird sich lohnen. Es ist ein Experiment. Aber ich glaube, in dieser Eröffnungswoche müssen wir alle Karten auf den Tisch legen und sagen: Das ist es, worum es geht in diesem Saal.
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“Music That Speaks to Me” A Conversation with Daniel Barenboim
A new concert hall is opening in the heart of Berlin. The Pierre Boulez Saal—named after the great French composer, conductor, and musical visionary and designed by architect Frank Gehry—is part of the Barenboim-Said Akademie, a conservatory for students from the Middle East and around the world. Both hall and academy were inspired by an idea that began almost 20 years ago in Weimar. During the city’s tenure as Cultural Capital of Europe in 1999, Daniel Barenboim and Edward Said,the Palestinian literary scholar, brought together young musicians from Israel, Palestine and other Arab countries to form an orchestra in the spirit of equality and intercultural understanding. Begun as a one-time experiment, the West-Eastern Divan Orchestra has long become a global ambassador of art and humanism. The Pierre Boulez Saal aims to carry on and expand that mission with an adventurous program combining the Classics with 20th-century masterworks, world premieres, music from the Middle East, jazz, and more, in a unique architectural setting. On the eve of its opening, Daniel Barenboim spoke with Pierre Boulez Saal dramaturg Philipp Brieler about his vision for the new hall and the ensemble that will call it home.
You’ve come up with an unusual programming concept for the Boulez Ensemble. For this new hall I wanted to create a new ensemble, but one that wouldn’t play exclusively contemporary music. I don’t think many musicians really want that, they don’t like to be in a ghetto, whether it’s a Baroque ghetto or a contemporary-music ghetto. So I thought about doing programs that would have one Classical piece—Mozart, Beethoven, Schubert—one classic 20th-century work— Stravinsky, Schoenberg, Debussy—and one commissioned new or contemporary piece. That was the central idea. 8
The musicians will come together for each project primarily from the West-Eastern Divan Orchestra and the Staatskapelle Berlin, with some international guest artists. Now that you’ve rehearsed here and listened to the academy students perform, what is your impression of the space—is it everything you hoped for? It’s more than that. There are many halls in the world with good acoustics. But when we’re speaking about acoustics, what are we actually speaking about? It’s the relationship between transparency on the one hand and sustaining sound on the other. It’s almost like vertical pressure and horizontal flow: the vibration of the sound is the horizontal and the transparency is the vertical. Which means you need a certain amount of dryness to be able to perceive and hear all the details you want to hear, but at the same time you need acoustics that will allow the sound to live its full natural length. Sound doesn’t remain, it is ephemeral. When there’s no more energy, no more air or no more bow, the sound dies. And that proportion, here in this hall, to me is magically perfect. From what I’ve heard so far I can’t think of any music that will not sound good in here. With the idea for this hall coming out of the West-Eastern Divan Orchestra, music from the Middle East was always going to play an important role here.You’ve said that you’d like the Pierre Boulez Saal to become a home for Arab music in Europe. I’m not particularly interested in the concept of “world music.” But I think we have a duty to deal with Arab music, for the simple reason that a real study of it has never been made. I’ve had this idea for a long time and I’ve never been able to realize it, but I hope that we can do it here. In 1931, there was a conference on Arab music in Cairo, known as the Cairo Congress, where many of the great composers of the day were present, including Bartók, Kodály, and Hindemith. It was extraordinary. There are some fascinating comments from Bartók, who said that the music from the villages was far more interesting than that coming from the cities, because in the cities it was mostly fake European music. Not much has happened since then in terms of research about serious Arab music. So I would like this place to become the center for that in Europe. I think for a hall like ours it’s important to have different types of music. We’ll have Arab and Iranian music, and we’ll also have jazz. I’ve 9
known John McLaughlin for many years, and when I asked him to come and play here he immediately agreed. Another major theme of the inaugural season will be the Schubert anniversary.You’re performing the complete piano sonatas and symphonies, but first there is Winterreise—the iconic song cycle, a piece that everybody knows… They think they do! It will certainly take on a different meaning when it’s framed by the music of Boulez and John McLaughlin. But this Winterreise also marks the opening of a Schubert song cycle that will stretch over several years. The idea for this was a study that had been made by Dietrich Fischer-Dieskau in the Schubert year 1997—and I thought it was a marvelous idea—to do the complete songs. I think that each composer has one genre that is closest to him, that makes you feel it’s his personal diary. It may not be true for someone like Wagner or Verdi, who basically only wrote operas, but for those who composed chamber music, symphonies, instrumental music, lieder… I feel, for instance, that the intimate diary of Beethoven is in the piano sonatas and in the string quartets, not in the symphonies. For Schubert it’s definitely in the songs, and maybe in the chamber music. That’s why I thought we should do this here. This hall is the right size, and we’ll have a mixture of world-renowned singers and younger artists, over a period of four years. Do you ever worry that some audience members who love Schubert may not feel ready for Schoenberg or Boulez? You know, there’s another question you have to ask yourself first. Music was tonal until Wagner. Of course there were tonal pieces written after that, but that’s really the end. So, what happened in the 20th century, the twelve-tone system of Schoenberg and what came after that, was that an evolutionary process, was that the only way that music could go? Did it evolve, or was it a break? It was both. Exactly—because every constructive revolution is the result of evolution.You cannot make your revolution and say, “Forget the past!” You have to see how things evolve, like a transition in music. And then you can take the revolu10
tionary step and it seems perfectly logical and natural. That was Pierre Boulez’s maxime, and of course he was right. Basically, I’m not interested in Classical, Romantic, or modern music. I’m interested in music that speaks to me. And that’s why I think it’s important to try and implement the idea of having contemporary repertoire stand side by side with Classical and 20th-century works. That’s why we’ll start doing that in the very first concert. It may be a challenge for audiences, and for the musicians as well, but it should also be very rewarding. It’s an experiment. But I think in the opening week, we have to put all our cards on the table and say, This is what this hall is about.
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Eröffnungskonzerte BOULEZ ENSEMBLE & DANIEL BARENBOIM Samstag Sonntag
4. März 2017 18.00 Uhr 5. März 2017 11.00 Uhr
Daniel Barenboim Musikalische Leitung und Klavier Karim Said Klavier Michael Barenboim Violine Yulia Deyneka Viola Kian Soltani Violoncello Jörg Widmann Klarinette Anna Prohaska Sopran Simone Bodoky-van der Velde, Guy Eshed Flöte Gregor Witt Oboe Cristina Gómez Godoy Englischhorn Jussef Eisa, Kinan Azmeh Klarinette Hartmut Schuldt Bassklarinette Mor Biron Fagott Robert Dräger Kontrafagott Ignacio García, Gil Barak Horn Bassam Mussad, Christian Batzdorf Trompete Filipe Alves, Jaume Gavilán Agulló Posaune Thomas Keller Tuba Lev Loftus, Pedro Torrejón González, Dominic Oelze Schlagzeug Denis Kozhukhin, Michael Wendeberg Klavier Aline Khouri, Susanne Kabalan, Stephen Fitzpatrick Harfe
Das Eröffnungskonzert am 4. März wird ab 18.03 Uhr live übertragen auf rbb Kulturradio, BR-Klassik, SR 2 KulturRadio und NDR Kultur. Zeitversetzte Sendung auf hr2-kultur, WDR 3, MDR KULTUR, SWR2 und Deutsche Welle. Live-Videostream bei ARTE am 4. März ab 18.00 Uhr auf www.concert.arte.tv. Zeitversetzte Sendung im Fernsehen bei ARTE am 5. März um 18.00 Uhr und 23.45 Uhr.
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Pierre Boulez (1925 – 2016) Initiale (1987) für sieben Blechbläser
Franz Schubert (1797 – 1828) Der Hirt auf dem Felsen D 965 für Sopran, Klarinette und Klavier
Wolfgang Amadeus Mozart (1756 – 1791) Quartett Es-Dur KV 493 für Klavier,Violine,Viola, und Violoncello I. Allegro II. Larghetto III. Allegretto
Pause
Alban Berg (1885 – 1935) Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern (1925) I. Thema scherzoso con variazioni II. Adagio III. Rondo ritmico con introduzione Pause
Jörg Widmann (*1973) Fantasie für Klarinette solo (1993)
Pierre Boulez sur Incises (1996 – 98/2006) für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger
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BOULEZ ENSEMBLE Donnerstag
9. März 2017 19.30 Uhr
Lisa Batiashvili, Wolfram Brandl Violine Yulia Deyneka, Miriam Manasherov Viola Sennu Laine, Kian Soltani Violoncello Nabil Shehata Kontrabass Alba Luna Sanz Juanes Flöte / Altflöte Fabian Schäfer Oboe Jussef Eisa Klarinette / Bassklarinette Giuseppe Guarrera Klavier Daniel Cohen Musikalische Einstudierung (Tarnopolski)
Sergej Prokofjew (1891 – 1953) Quintett g-moll op. 39 für Oboe, Klarinette,Violine,Viola und Kontrabass I. II. III. IV. V. VI.
Tema con Variazioni Andante energico Allegro sostenuto, ma con brio Adagio pesante Allegro precipitato, ma non troppo presto Andantino
Vladimir Tarnopolski (*1955) Möbius Strip (2017) für Flöte/Altflöte, Bassklarinette,Violine,Violoncello und Klavier Uraufführung – Auftragswerk der Daniel Barenboim Stiftung Pause
Pjotr Tschaikowsky (1840 – 1893) Souvenir de Florence op. 70 für Streichsextett I. II. III. IV.
Allegro con spirito Adagio cantabile e con moto Allegro moderato Allegro vivace
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BOULEZ ENSEMBLE & DANIEL BARENBOIM Montag
13. März 2017 19.30 Uhr
Daniel Barenboim Musikalische Leitung Michael Barenboim Violine Yulia Deyneka Viola Kian Soltani Violoncello Nabil Shehata Kontrabass Gregor Witt, Omer Idan Oboe Cristina Gómez Godoy Englischhorn Matthias Glander, Miri Saadon, Jussef Eisa Klarinette Jussef Eisa, Hartmut Schuldt Bassetthorn Ingo Reuter, Zeynep H. Köylüoğlu Fagott Radek Baborak, Merav Goldman, Ignacio García, Hagai Shalom, Jonas Finke Horn Dominic Oelze Vibraphon Lev Loftus Marimba Michael Wendeberg Klavier Aline Khouri Harfe
Pierre Boulez (1925–2016) Dérive 2 (1988–2006/2009) für elf Instrumente Pause
Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791) Serenade B-Dur KV 361 (370a) „Gran Partita“ für zwei Oboen, zwei Klarinetten, zwei Bassetthörner, zwei Fagotte, vier Hörner und Kontrabass I. II. III. IV. V. VI. VII.
Largo – Molto Allegro Menuetto – Trio I – Trio II Adagio Menuetto. Allegretto – Trio I – Trio II Romance. Adagio – Allegretto – Adagio Tema con variazioni. Andante Finale. Molto Allegro
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„Eine fremde, anziehende Welt“ Die ersten Konzerte des Boulez Ensembles
Wo l f g a n g S t ä h r
Tradition – oft nur ein Erbe von Manierismen
Boulez Ensemble – der Name ist Programm,Versprechen. Und auch Tradition? „Es gibt ein Spiel, das wir als Kinder geliebt haben“, erzählte Pierre Boulez in einem Gespräch. „Man setzt sich um einen Tisch, der Erste flüstert seinem Nachbarn einen Satz ins Ohr: ‚Das Taschentuch ist in meiner Jackentasche.‘ Der Satz wandert, von Ohr zu Ohr, immer schneller, wie heißt er am Ende? ‚Die Katze isst Schokolade.‘ Tja. Das ist Tradition – oft nur ein Erbe von Manierismen. Man imitiert die Geste, ohne den Geist zu verstehen.“ So lautete eine erste Antwort: Das Ensemble mit Namen Boulez will den Geist verstehen, nicht die Geste imitieren. Vor allem aber will es dem Provinzialismus des Ortes und der Zeit entkommen, der Beschränkung im Lokalen wie im Historischen. Als Daniel Barenboim 2006 den Ernst von Siemens Musikpreis empfing, hielt Pierre Boulez die Laudatio – und lobte ausdrücklich die Repertoirevielfalt des Preisträgers: „Es ist so einfach – hätte für Daniel so einfach sein können –, sich immer mit denselben hundert Jahren zu begnügen. Im Gegenteil aber habe ich festgestellt, dass er, ohne das große Repertoire zu vernachlässigen, stets der zeitgenössischen Musik einen bedeutenden Platz eingeräumt hat.“ Daniel Barenboim sei nicht bloß ein ausgezeichneter Dirigent, er sei ein echter Musikdirektor: „Eine Spielzeit ins Auge zu fassen, die ihre Spuren nicht nur durch die Qualität der Aufführungen hinterlässt, sondern durch die Kraftlinien, die ihr die inneren Spannungen verleihen, das bleibt eines seiner dringendsten Anliegen.“ In den ersten Programmen sind sie, getreu der Gründungs idee des Boulez Ensembles, alle gegenwärtig: die Klassiker (im weitesten Sinne), die Klassiker der Moderne, die Modernen. Die inneren Spannungen, zwischen Tschaikowsky und Prokofjew, Mozart und Berg, Schubert und Boulez sorgen für musikhistorische Irritationen (vielleicht auch für 19
kreatives Chaos, den schöpferischen Urzustand) und ziehen die Kraftlinien entlang der Reiserouten, der Sehnsuchtsziele, der kleinen und der schicksalhaften Fluchten: mit Mozart, Schubert und Berg nach Wien, mit Tschaikowsky nach Sankt Petersburg und Florenz, mit Prokofjew ins Exil, mit Widmann zu Boulez. Und mit Tarnopolski zu Gast im Pierre Boulez Saal. Wien, Wien, nur du allein
„Ich versichere sie, daß hier ein Herrlicher ort ist“
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„Ich versichere sie, daß hier ein Herrlicher ort ist – und für mein Metier der beste ort von der Welt“, hatte Mozart seinem Vater aus Wien berichtet. Sein „Heimatgefühl“ war zuallererst, ja ausschließlich professionell begründet: ein Reflex der künstlerischen Erfolge, der Aufträge und Auftritte, die Mozart verbuchen (oder wenigstens erhoffen) durfte. Und Wien bot als Tummelplatz der besten Sänger und Virtuosen, mit der internationalen Theaterszene, den Akademien, dem Instrumentenbau und Verlagswesen, den adligen Mäzenen und bürgerlichen Musikenthusiasten einem zugereisten Komponisten aus Salzburg fürwahr „herrliche“ Aussichten, die Mozart, ab 1781 als „freier Künstler“ in der habsburgischen Metropole ansässig, mit erstaunlicher Anpassungsfähigkeit zu nutzen verstand. Nur wenige Wochen nach der Uraufführung seiner Opera buffa Le nozze di Figaro in Wien vollendete er das Quartett für Klavier,Violine,Viola und Violoncello in Es-Dur KV 493, das er am 3. Juni 1786 in seinem eigenhändigen „Verzeichnüß aller meiner Werke“ notierte. 1788 beklagte ein anonymer Autor im Weimarer Journal des Luxus und der Moden die „Unbesonnenheit“, Mozarts Es-Dur-Quartett in „großen, lärmenden Concerten zu produciren [...]. Welch ein Unterschied, wenn dieses vielbemeldete Kunstwerk von vier geschickten Musikern, die es wohl studirt haben, in einem stillen Zimmer, wo auch die Suspension jeder Note dem lauschenden Ohr nicht entgeht, nur in Gegenwart von zwey oder drey aufmerksamen Personen, höchst präcis vorgetragen wird!“ Ganz ähnlich äußerte sich 1800 Johann Friedrich Rochlitz, der Chefredakteur der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung, als er über Mozarts Klavierquartette schrieb: „In diesen Kompositionen, durchaus nur für erwählte kleinere Zirkel, geht der Geist des Künstlers in seltener, fremdartiger Weise, groß und erhaben einher wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt.“
Die B-Dur-Serenade KV 361 (370a) in der ungewöhnlichen Besetzung mit je zwei Oboen, Klarinetten, Bassetthörnern und Fagotten, vier Hörnern und einem Kontrabass komponierte Mozart offenbar für ein Konzert, eine „Musikalische Akademie“, seines Freundes, des Klarinettisten Anton Stadler, am 23. März 1784: „Heut wird Herr Stadler der ältere in wirklichen Diensten Sr. Majestät des Kaisers, im k.k. National-Hoftheater eine musikalische Akademie zu seinem Vortheil geben, wobey unter anderen gut gewählten Stücken eine große blasende Musik von ganz besonderer Art, von der Composition des Hrn. Mozart gegeben wird.“ Die Serenade gehört in die Tradition der reinen Bläsermusik, der „Harmonie“, wie sie damals genannt wurde, zu der Mozart auch ein Sextett und zwei Oktette beitrug. Überdies wurden im Wien des späten 18. Jahrhunderts viele „Hits“ aus seinen neuesten Opern „auf die Harmonie gesetzt“. Am 26. März 1828, genau ein Jahr nach Beethovens Tod, veranstaltete Franz Schubert in Wien ein exklusiv seinem Werk vorbehaltenes „Privat Concert“, das einzige Konzert dieser Art in seinem ganzen Leben. Die Lokalpresse ignorierte es fast vollständig, da sie ganz dem Bann eines PaganiniGastspiels erlegen war. Auf dem Programm stand auch die eigens für jenen Abend verfasste Liedkomposition Auf dem Strom. In diesem wenig bekannten Stück stellt Schubert der Gesangsstimme eine gewissermaßen duettierende Hornpartie zur Seite, eine experimentelle Konstellation, deren Leitbild in der Oper zu erkennen ist, in der Form der Arie mit obligatem Soloinstrument. Man könnte beispielsweise an die Arie des Sesto denken, „Parto, parto, ma tu ben mio“, aus Mozarts La clemenza di Tito, die seinem Freund Anton Stadler Gelegenheit gab, sich als Virtuose auf der neuartigen Bassettklarinette zu profilieren.Vielleicht dachte auch Schubert daran, als er einer Bitte der legendären Sängerin Anna Milder (Beethovens erster Leonore) nachkam und für sie Der Hirt auf dem Felsen komponierte, dessen Text verschiedene Gedichte von Wilhelm Müller, dem Autor der Winterreise, und Karl August Varnhagen von Ense, einer Galionsfigur der Berliner Salonkultur, zitiert und kombiniert. In der Wahl der Klarinette kündigt sich die Vorliebe der Romantiker für dieses Holzblasinstrument an. Dass Schubert sie der pastoralen Oboe vorzog, liegt sicher auch an ihrem gutturalen Klang, der gut zu den stilisierten Jodelrufen passt. Im Oktober 1828 entstanden, konkurriert Der Hirt auf dem Felsen mit 21
Die Taubenpost um die Ehre, als Schuberts „letztes Lied“ in die Geschichte einzugehen. Die Aufbruchsstimmung der cabalettaartigen Schlussstrophe („Der Frühling will kommen“) jedenfalls lässt nicht erahnen, dass die Wanderschaft des Franz Schubert nur noch wenige Tage währen sollte. Idol mio
Zwischen virtuosem Spieltrieb und notierter Ernsthaftigkeit
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In ihrer strengen elitären Ausrichtung, der geistigen Hierarchie, dem Personenkult um den Meister, der reinen Lehre, dem strikten Freund-Feind-Denken erinnert die Wiener Schönberg-Schule auffallend an eine Sekte, eine KunstBruderschaft: ein romantisches „Bündnis verwandter Geister“. Der allen gemeinsame Hang zu Okkultismus, Schicksalsglauben und Zahlenmystik trieb die ursprünglich musikalisch begründete Erneuerungsbewegung stärker noch in die Richtung einer Weltanschauung, einer Privatreligion mit Berufungserlebnissen, Geboten, Heiligenverehrung und historischer Mission – in jeder Hinsicht ein typisches Phänomen der Jahre um 1900. Eine Zeitlang trug sich Alban Berg mit dem Gedanken, seiner Freundschaft zu Arnold Schönberg in einer Oper Vincent ein Denkmal zu setzen, einem Drama, das die Beziehung zwischen van Gogh und Paul Gauguin zum Inhalt haben sollte. Auch wenn er dieses Projekt nicht verwirklichte, hat Berg gleichwohl ein musikalisches Monument der Freundschaft errichtet: mit dem Kammerkonzert, das er seinem Lehrer zu dessen 50. Geburtstag zueignete (endgültig fertig wurde es allerdings erst einige Monate danach, am 23. Juli 1925). Dem ersten Satz dieses für Klavier, Geige und ein Ensemble aus 13 Bläsern konzipierten Werks stellte Berg ein kurzes musikalisches Motto voran, in dessen fünf Takten er die Namen des Dreigestirns Schönberg – Webern – Berg auf die Weise zum Klingen brachte, dass er ihre Buchstaben, soweit dies möglich ist, in Noten übersetzte: ArnolD SCHönBErG, Anton wEBErn, AlBAn BErG. Berg schwärmte für Mahler und Schönberg – Jörg Widmann für Miles Davis und Pierre Boulez: „Idole, die gleichberechtigt über meinem Bett hingen! Für mich war nicht das eine das Verkopfte und das andere das Gegen modell“, betont der 1973 in München geborene Komponist und Klarinettist. „Mit 15 Jahren bin ich mit meinem Vater zum Festival Musica nach Straßburg gefahren. Dort habe ich mein erstes Boulez-Konzert gehört. Das war ein Schlüs-
selerlebnis und hat meine Entscheidung zu komponieren ganz wesentlich beeinflusst. Wir sind mit dem Auto hingefahren, kamen ein bisschen zu spät. Als ich in den Saal kam, habe ich nur gestaunt.“ Auf dem Programm stand Boulez’ Dialogue de l’ombre double für Klarinette und Tonband. „Ich verfolgte das Konzert mit offenem Mund – wie andere ihr erstes Pop-Konzert“, erzählt Widmann. „Das war eine fremde, anziehende Welt für mich.“ Unter dem Eindruck des Boulezschen Dialogue komponierte er 1993 seine Fantasie für Klarinette solo, für sein eigenes Instrument. Auch Widmanns Fantasie geistert durch imaginäre Dialoge, beschwört Szenen und Masken der Commedia dell’arte herauf. Sie gleiche einer aufgeschriebenen Improvisation, sagt Widmann: „Sie bewegt sich zwischen virtuosem Spiel trieb und notierter Ernsthaftigkeit.“ Russen auf Reisen Deutsche und Russen: „Das sind zwar sehr verschiedene Mentalitäten, aber doch komplementär“, erklärt der 1955 im ukrainischen Dnipro (Dnepropetrowsk) geborene Vladimir Tarnopolski, der seit 1992 als Professor für Komposition am Moskauer Konservatorium unterrichtet. „Wenn ich in Russland bin, fehlt mir immer die deutsche Rationalität, nicht nur im alltäglichen Leben, sondern auch in der Kunst. Die deutsche Lust am Experiment in der Kunst zum Beispiel fehlt in Russland vollkommen: Wir schauen immer gerne auf eine alte, gute Tradition zurück.“ Die Katze isst Schokolade? Sein neues Werk schuf Tarnopolski nicht bloß formell zur Eröffnung des Pierre Boulez Saales, vielmehr sals bewusste Reflexion über den Raum und seine Eigenart: „Ich möchte sehr, dass dieses Stück die individuellen Besonderheiten der Architektur des Saales spiegelt. Ich war von der Idee des sphärischen Raums, der eine vollständige 360-Grad-Schleife vollzieht, sehr begeistert und bin auf den Gedanken gekommen, mein Stück als klangliches Äquivalent zu dieser Schleife zu komponieren. So kam ich zu dem Titel Möbius Strip, ‚MöbiusBand‘. Das Stück ist eine Art sehr virtuoses Perpetuum mobile für Altflöte, Bassklarinette, Geige, Cello und Klavier.“ „Aber gibt es ein wunderbareres Wechselspiel der Stimmen als in einem Streichsextett!? Wie anziehend alles erscheint, wie reich an Klangfarben“, schwärmte Pjotr Tschaikowsky, ein Russe aus der guten, alten Zeit, nachdem 23
er im Sommer 1890 für die Petersburger Kammermusik gesellschaft die Erstfassung seines Opus 70 Souvenir de Florence für zwei Violinen, zwei Bratschen und zwei Violoncelli vollendet hatte. Der Titel verdankte sich wohl dem Umstand, dass Tschaikowsky das Hauptthema des langsamen Satzes in Florenz in den Sinn gekommen war, während der Arbeit an seiner Oper Pique Dame. An Florenz, „eine reizende und sympathische Stadt“, bewahrte Tschaikowsky die angenehmsten Erinnerungen: „Wie sehr vermag ich das Leben wieder zu lieben, wenn es sich in dieser Üppigkeit und Kraft offenbart wie in Italien.“ Als in Russland die neue und ziemlich ungute Zeit anbrach, wählte Sergej Prokofjew den Weg ins Exil, gen Westen (kehrte allerdings 1936 wieder zurück). Der Tänzer Boris Romanow, ebenfalls aus der Sowjetunion emigriert, erbat von ihm 1924 für seine Wandertruppe eine Kammermusik, die zu einem im Zirkusmilieu angesiedelten Ballett mit dem Titel Trapèze gespielt werden sollte. Prokofjew entschied sich für eine unorthodoxe Besetzung: Oboe, Klarinette,Violine,Viola und Kontrabass. Mit der Quintettformation kam er den praktischen Bedürfnissen des reisenden Choreographen entgegen – von der Komposition selbst lässt sich das allerdings nicht behaupten. Prokofjew hat später angemerkt, dass sich an seinem Quintett op. 39 „auch er fahrene Künstler die Zähne ausgebissen“ hätten. Obendrein befrachteten die Komplexität, die subtile Kontrapunktik und die rhythmische Vertracktheit des Werkes die Tänzer mit kaum lösbaren Schwierigkeiten. Prokofjew interessierte sich wenig für das Sujet, er schrieb kein dankbares Tourneestück, er erdachte abstrakte Musik für den Konzertsaal. Es ist ein Kraut gewachsen „Sie finden es vielleicht merkwürdig, was ich jetzt sage, denn man behauptet ja immer, dass die Kultur der eigenen Nation einen entscheidenden Einfluss ausübt; aber mich hat – sozusagen aus der Ferne – die deutsche Musik am stärksten beeinflusst, und zwar vom Formalen her“, bekannte Pierre Boulez, der im vergangenen Jahr, am 5. Januar 2016, verstorbene Komponist und Dirigent. Das „Formale“ stellte sich Boulez freilich nicht wie ein solides Gebäude vor, in das die lachenden Erben nur noch einziehen müssten mit ihrem Mobiliar. Pierre Boulez sprach in biblischen Gleichnissen: „Für mich ist eine musikalische Idee wie ein Samen24
Wachstum, Verzweigung, Verästelung und Wucherung
korn: Man pflanzt es in eine bestimmte Erde und plötzlich vermehrt es sich wie ein Unkraut. Dann muss man jäten.“ Als sein Vorbild im Pflanzen und Jäten benannte er Johann Sebastian Bach, aber nicht den Bach der Kunst der Fuge, sondern den Bach der Choralbearbeitungen, der für Boulez das musikalische Ideal der frei entfalteten, unvorhersehbaren Form repräsentiert: Wachstum,Verzweigung,Verästelung und Wucherung. Dieses Wort wählte Boulez ausdrücklich: Wucherung. Und das Werk wucherte über Jahre und Jahrzehnte: „So lange wie ich das Material eines Stückes nicht vollständig aufgebraucht habe, nutze ich es weiter, bis es erschöpft ist. Daher sind in gewissem Sinne alle meine Kompositionen ein ‚work in progress‘.“ Dérive 2 für elf Instrumente entstand, schritt fort, erweiterte und wandelte sich von 1988 bis schließlich 2009: Boulez beschrieb es als die „beinahe theoretische Arbeit über das Problem der Periodizität, um systematisch ihre Überlagerungen, ihre Verschiebungen und ihren Austausch zu untersuchen“. Und aus Incises, einem Klavierstück von 1994, wurde über die Zeit, bis 2006, sur Incises für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger, auf die mehr als vierfache Spieldauer verlängert „durch die unterschiedlichsten Formen von Multiplikation, angefangen von der einfachen bis hin zur sechs- und mehrfachen Spiegelung“, erläuterte Boulez. „Ich bin mit den Klangkombinationen in diesem Stück wirklich sehr zufrieden, auch übrigens mit der Art und Weise, wie die gewissermaßen exotischen Instrumente sich integrieren.“ Aber die Initiale, die Pierre Boulez 1987 als Fanfare für sieben Blechbläser zur Einweihung eines Museums, der Menil Collection in Houston, erdachte, blieb ein work ohne progress, ein Anfangsbuchstabe, dem kein Wort, kein Satz, keine Schrift mehr folgten. Ein Samenkorn, in die Erde gepflanzt. Doch heute weist die Initiale in die Zukunft: eines Konzertsaales, eines Ensembles, die beide den Namen Pierre Boulez tragen, ins Offene tragen, auf dass der Geist weht und wuchert, wo er will.
Wolfgang Stähr, geboren 1964 in Berlin, schreibt über Musik und Literatur für Tageszeitungen, Rundfunkanstalten, die Festspiele in Salzburg, Luzern und Dresden, Orchester wie die Berliner und die Münchner Philharmoniker, Schallplattengesellschaften und Opernhäuser. Er verfasste mehrere Buchbeiträge zur Bach- und BeethovenRezeption, über Haydn, Schubert, Bruckner und Mahler.
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Birth of a Performance Space The First Concerts of the Boulez Ensemble
Thomas May
I. Berlin, 1964: it was a vastly different city and culture in which the paths of Daniel Barenboim and Pierre Boulez intersected for the first time. On that occasion, the 21-yearold pianist was making his Berlin Philharmonic debut as the soloist in Bartók’s Piano Concerto No. 1, with the French maestro (then only 39) on the podium. A rich, mutually inspiring professional and personal relationship took root that would continue through the rest of Boulez’s long and remarkably productive life. “Boulez is known to be very uncompromising in all his musical ideas and wishes and the same is true of him as a person … It is the same integrity which has allowed him to fight so many battles against preconceived ideas in music-making, and in music administration,” wrote Barenboim in his memoir A Life in Music—handily summing up both the Frenchman’s persona and his driving force as a progressive artist. The opening concert of the Pierre Boulez Saal pays homage to the spirit of tireless curiosity and the quest for meaningful, intimate music-making that were Boulez’s signature and his inspiration to the emerging generation. The program is fittingly framed by examples of the late master’s own music, beginning with Initiale as a characteristically Boulezian reimagination of the celebratory fanfare. Written in 1987 as one of the composer’s American projects, this brass septet for tuba and pairs of trumpets, horns, and trombones condenses an astonishing variety of ideas within its five-minute span. Among the piece’s sonic exploration s—and hence especially appropriate for the flexible design of the Boulez Hall—is a modernist play on the sort of spatial acoustics in which the Venetian composers of the Late Renaissance reveled. 27
Reinventing Genres: Schubert and Mozart
The issue of musical spaces, of vistas, peaks, and valleys, fired Schubert’s imagination when he composed Der Hirt auf dem Felsen (“The Shepherd on the Rock”) in October 1828, the month before he died. Everything about this creation is extraordinary—including the issue of genre, as the piece, with its unusual scoring for soprano, clarinet, and piano, embodies aspects of a German lied, an aria from Italian bel canto opera, a folk song, even a miniature cantata or music drama. Schubert crafted his own poetic collage from texts by Wilhelm Müller (the poet of Winterreise, on which he was also at work around this time) and Karl August Varnhagen von Ense. The “libretto” evokes musical images of a pastoral landscape and innocent yodels, but also of emotional distance and isolation, with the clarinet sounding a pre-echo, as it were, of the echoes depicted by the singer. Schubert’s reinvention of a genre from familiar components finds its counterpart more than four decades earlier. The Piano Quartet in E-flat major K. 493 by his idol Mozart, which dates from just one month after the premiere of Le nozze di Figaro in 1786, similarly translates aspects of the public piano concerto style—among Mozart’s greatest innovations in Vienna—into the private medium of chamber music. The intimacy of the latter, in turn, acquires something of the brilliance and fecundity of thematic ideas characteristic of Mozart’s piano concertos.
Into the Present: Berg, Boulez, Widmann
Alban Berg’s Chamber Concerto was written between 1923 and 1925 as an homage to his mentor and friend Arnold Schoenberg for his 50th birthday. The composer encoded a dense network of numerological and biographical significations into this piece, which is regarded as a transitional milestone in Berg’s development, moving from a loose Expressionist style toward his twelve-tone period. The theme of the first movement, which is treated in five variations, comprises three mottos derived from the German spellings of the three names Schoenberg (piano), Webern (violin), and Berg (horn).This movement and the palindromic Adagio operate as mini-concertos for the solo piano and violin, respectively; the rhythmically charged finale, which 28
“You see what you hear”
presents material from the first two movements in a simultaneous recapitulation, is also a double concerto in which the pair of soloists joins for the first time with the full ensemble. Jörg Widmann’s career has followed the model of the composer/virtuoso performer exemplified by such predecessors as Mozart. These two threads join together in the wildly stylistically varied Fantasie (1993), which Widmann describes as “my first real piece for my own instrument… Its overexcited virtuosity and basically cheerfully ironic character reflects experiences with Stravinsky’s Three Pieces for solo clarinet from 1919,” notes the composer, as well as the “musical innovations” introduced by “Carl Maria von Weber’s writing for the clarinet.” Like Berg’s Chamber Concerto, Boulez’s sur Incises originated as a tribute to an admired colleague, in this case the new-music patron Paul Sacher (1906–1999), on the occasion of his 90th birthday. The score grew out of the earlier Incises for solo piano, written as a test piece for a competition, and features the unusual configuration of three pianos, three harps, and three percussionists. Boulez is fond of exploiting the tension exposed by oppositions as well as near-similarities. The percussion and harps, he notes,“are at times completely integrated and sometimes play only a minor role.” In one section “the pianos play an elaborate ostinato passage, thus a very strict compositional structural form while the percussionists simultaneously play very free figures. But you also find moments when this role play is divided up, such that one piano and one percussionist play the free structures while the other pianos and percussionists must follow the strict ostinato movement…” The positioning of the instruments is crucial as well: “You see what you hear”—an ideal composition to demonstrate the character of the new Pierre Boulez Saal.
II. The second program in the Boulez Ensemble’s inaugural month presents a triptych of works by Russian composers of three strikingly contrasting eras. We begin with the coolly angular early Modernism of the 1920s as practiced by a cosmopolitan emigré. During his period of peripatetic exile, Sergei Prokofiev went through a bold 29
and colorful period of collaborative adventures. One of these resulted in the Quintet Op. 39, the “companion” piece, so to speak, to the ballet Trapèze. This was the brainchild of a fellow Russian exile, the controversial choreographer Boris Romanov, who with his Russian Romantic Theatre in 1920s Berlin hoped to have an effect akin to what Diaghilev had done in Paris. He commissioned Prokofiev, then living in France, to compose a short ballet as part of a touring bill. When he wrote the score in the summer of 1924, Prokofiev simultaneously planned it as an independent chamber work. He relished the prospect of orchestrating for the unusual combination to which the circumstances had restricted him: oboe, clarinet, violin, viola, and double bass, writing in his diary: “I experience the same pleasure as a child putting color to his drawing.” The six-movement quintet blends striking harmonic, metrical, and timbral ideas and is vintage Modernist Prokofiev. Within a few years the composer would retreat into a “new simplicity” designed to be more in keeping with the aesthetic strictures of the Soviet Union to which this prodigal son would soon return. Tchaikovsky had reasons of his own to escape Russia at several points in his life—and, in characteristic fashion, gave vent to contradictory feelings about the experience of traveling abroad. On his way to Italy in 1878, he wrote: “Every time, as the realization of being abroad is pleasant for the first moment, for me it loses its charm and starts to bring on melancholy.” The late-period String Sextet in D minor, to which Tchaikovsky gave the title Souvenir de Florence, followed close on another trip early in 1890, to complete his opera The Queen of Spades. The literal Florentine connection is simply that it was during this stay that he conceived the D-major Adagio theme. In fact Tchaikovsky had started work on the sextet three years earlier for the Saint Petersburg Chamber Music Society, but then set it aside. Nor was he satisfied with the first version of the score, which he completed in the summer of 1890 but revised in the winter of 1891–92. In a letter to his brother Modest, the composer confided: “I am writing with unlikely effort.” The difficult came not from “the lack of thoughts, but the novelty of form. One must have six independent, generically similar voices. This is improbably difficult.” The final version of Souvenir resorts to readily d iscernible classical forms, infusing these with “learned” contrapuntal writing befitting the intended recipients of the work as well as with Slavic-tinged 30
“…to mirror the individual characteristics of the Pierre Boulez Saal’s architecture”
idioms. “The Italian journey,” notes Tchaikovsky scholar Roland John Wiley, had fascinated the composer, “and the Souvenir may be its timbral embodiment, in the saucy rhythm of the third movement, in the folkish drone of the finale, and not least in song, that fundament of Italy, found in every movement.” The result is “a luminous piece, the ideal of chamber music that seeks only to delight.” Concluding the Boulez Ensemble’s second program is a new composition written for the ensemble by Vladimir Tarnopolski. Born in Dniepropetrovsk (then part of the Soviet Union, now Ukraine) in 1955, Tarnopolski was mentored by Edison Denisov and Nikolai Sidelnikov at Moscow’s Tchaikovsky Conservatory, where he went on to become an influential professor of composition. He was championed early on by Gennady Rozhdestvensky and developed into a highly sought-after composer across Europe. Tarnopolski has also played a major role in shaping Russia’s new-music scene following the collapse of the Soviet Union and in establishing connections between Russian composers and their counterparts in Western Europe. Of his new work, Möbius Strip, the composer writes: “I would very much like this piece somehow to mirror the individual characteristics of the Pierre Boulez Saal’s architecture. I was quite inspired by the idea of this spherical space that encompasses a complete sweep of 360 degrees and came up with the idea of composing my piece as a sonic equivalent of this sweep. And so I arrived at the title Möbius Strip. The piece is a kind of highly virtuosic perpetuum mobile for alto flute, bass clarinet, violin, cello, and piano.”
III. Pierre Boulez never abandoned the stance of the restless questioner. Refusing to settle for an illusion of “completion,” he balanced idealism and perfectionism with the hard-won praxis of a life of music-making under real-time performance conditions. Dichotomy and paradox were at home in Boulez’s musical imagination, generating and feeding off of many productive dialectical tugs-of-war: between “prepared accident” and predetermined constraints, natural 31
acoustics and electronic manipulation, attention to sensual timbral detail and “Germanic” structural rigor—or, put another way, between the thrill of dynamic flux and the discipline of formal logic. Boulez approached each new composition with a perfectionist intricacy, typically alighting on multiple points of entry into constructions he likened variously to labyrinths or family trees. Dérive 2 has its origin in the same core idea that formed the basis for multiple other works of his— a grouping of six pitches, or a hexachord, “spelling” the last name of the new-music benefactor Paul Sacher. Like Boulez’s compositional projects as a whole, Dérive 2 remained a work in progress after its first instantiation as a tribute to American Modernist composer Elliott Carter on his 80th birthday in 1988 (several revisions followed). The Hungarian master György Ligeti is another presence in this music: “When I reflected on some of Ligeti’s compositions,” Boulez explained, “I felt the desire to dedicate myself to some almost theoretical research into periodicity in order to systematically examine its overlays, its shifts, and its exchange. And I was able to discover rhythmic phenomena that previously I would never have noticed—both independent and organized [phenomena].” The sound world Boulez constructed to carry out this exploration calls for a trio of instrumental groupings played by 11 musicians: winds (English horn, clarinet, bassoon, and horn), strings (with the exception of double bass), and tuned percussion instruments (vibraphone and marimba, with piano and harp subsumed into this category). The resulting complexity of layering and process, in another Boulezian paradox, is rooted in a profound sense of clarity and even Classical transparency and unity of design which therefore, in yet another sense, pays homage to the aesthetic ideals of the era of Mozart. “Artifacts of Temps Perdu” The serenades that Mozart composed during his youth in Salzburg embody what biographer Maynard Solomon describes as “a youthful music of yearning but not of grief, imbued with an innocent utopianism, a faith in perfectibility, beauty, and sensual fulfillment.” A few years after leaving Salzburg behind for the riskier but more liberated life of a 32
freelance artist in Vienna, Mozart could still tap into this exquisite serenade style. The immediate catalyst for the seven-movement Serenade in B-flat major K. 361/370a remains debated. It may have been commissioned in late 1783 or early 1784 by Anton Stadler, the legendary clarinetist who later inspired the Clarinet Concerto and Quintet. Mozart wrote the work for pairs of oboes, clarinets, basset horns, and bassoons, along with a horn quartet and a double bass. (The—misspelled—nickname “Gran Partita” did not originate with the composer but was written onto the score by another hand.) This is the last of Mozart’s wind serenades, although Solomon rightly observes that the traits of the earlier serenade style persist in particular movements within the later instrumental music and even in moments from the late oeras—“wherever he seeks to represent currents of nostalgia, elegy, and longing by employing what [has been referred to as] ‘the artifacts of temps perdu.’” Something of that ineffable yearning surely inspired the unforgettable scene in the 1984 film Amadeus (based on Peter Shaffer’s 1979 play), in which Antonio Salieri first encounters the music of Mozart through this work and listens with mingled awe and envy to the third-movement Adagio: “This was a music I’d never heard. Filled with such longing, such unfulfillable longing.”
Thomas May is a freelance writer, critic, educator, and translator whose work has appeared in the programs of the Metropolitan Opera, San Francisco Symphony and Opera, the Juilliard School, the Lucerne Festival, and others. His books include Decoding Wagner and The John Adams Reader.
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Franz Schubert
Der Hirt auf dem Felsen Wenn auf dem höchsten Fels ich steh’, In’s tiefe Tal hernieder seh’, Und singe, Fern aus dem tiefen dunkeln Tal Schwingt sich empor der Wiederhall Der Klüfte. Je weiter meine Stimme dringt, Je heller sie mir wieder klingt Von unten. Mein Liebchen wohnt so weit von mir, Drum sehn’ ich mich so heiß nach ihr Hinüber. In tiefem Gram verzehr ich mich, Mir ist die Freude hin, Auf Erden mir die Hoffnung wich, Ich hier so einsam bin. So sehnend klang im Wald das Lied, So sehnend klang es durch die Nacht, Die Herzen es zum Himmel zieht Mit wunderbarer Macht. Der Frühling will kommen, Der Frühling, meine Freud’, Nun mach’ ich mich fertig Zum Wandern bereit.
Wilhelm Müller (1794–1827) / Karl August Var nhagen von Ense (1785–1858)
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Franz Schubert
The Shepherd on the Rock When I stand on the highest rock, look down into the deep valley and sing, the echo from the ravines rises up from the dark depths of the distant valley. The further my voice carries, the clearer it echoes back to me from below. My sweetheart dwells so far from me, and thus I long so ardently for her. I am consumed by deep sorrow; my joy has gone, my hope on this earth has vanished; I am so alone here. So fervently the song resounded through the forest, so fervently it resounded through the night; it drew hearts heavenwards with its wondrous power. Spring will come, spring, my delight; now I shall prepare to go a-wandering.
Translation: Richard Wigmore
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JÖRG WIDMANN Montag
6. März 2017 19.30 Uhr
„Schöne Stellen“ Über Musik-Momente der Vergangenheit und Gegenwart Vortrag mit musikalischen Beispielen am Klavier
Jörg Widmann – Komponist, Klarinettist und Inhaber der Edward Said Professur an der Barenboim-Said Akademie – widmet sich einem Thema, dessen Faszination der Philosoph Theodor W. Adorno in den 60er-Jahren in einem Radiobeitrag eindringlich zur Sprache gebracht hat: „Schöne Stellen“ in der Musik. In einem Vortrag mit musikalischen Beispielen am Klavier begibt sich Widmann auf die Suche nach dem „Urstoff“ der Musik, ihrem Wesen und ihrer Essenz.
Jörg Widmann—composer, clarinetist, and Edward Said Professor at the Barenboim-Said Akademie—explores a subject that philosopher Theodor W. Adorno astutely commented on in a radio feature in the 1960s: “Beautiful Passages” in music. In a German-language lecture with musical examples at the piano, Widmann examines the very fabric of music, its character and essence.
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Indem ich Ihnen eine Reihe schöner Stellen vorführe, erläutere, Ihnen zu erklären suche, mit welchem Grund sie schön genannt werden dürfen, möchte ich sie nicht bloß gegen die notwendige Kritik am vulgären Begriff der schönen Stelle erretten. Ich möchte auch Clichés widerlegen, eine Bresche schlagen zur Sache, durch die Mauer stilgerechter Zurüstungen hindurch. Walter Benjamins Einbahnstraße enthält das Aphorisma: „Zitate in meiner Arbeit sind wie Räuber am Weg, die bewaffnet hervorbrechen und dem Müßiggänger die Überzeugung abnehmen.“ Von dieser polemischen Kraft eignet einiges auch musikalischen Zitaten; darum mochte Alban Berg einmal eine Musikzeitschrift sich ausdenken, die Stellen aus Kompositionen so zitiert hätte, wie Karl Kraus, strafend, mit der Presse in der Fackel verfuhr. Der strafenden Gewalt der zitierten musikalischen Dummheit entspricht aber die strahlende des zitierten musikalischen Namens. Das Licht der Schönheit von Einzelheiten, einmal wahrgenommen, tilgt den Schein, mit der Bildung Musik überzieht und der mit ihrem dubiosen Aspekt nur allzu gut sich versteht: sie sei bereits das glückliche Ganze, das der Menschheit bis heute sich versagt. Deren Bild wird festgehalten eher von dem versprengten Takt als von der sieghaften Totale. Die Auswahl, die ich treffe, hat das Zufällige des biographischen Schicksals. Sie hängt davon ab, was mir, seit den frühesten musikalischen Erinnerungen, an schönen Stellen besonders haften blieb. Andere mögen ganz andere lieben, und über den Vorrang ließe sich nicht streiten. Darf ich eine Vermutung verraten, so ist es die, es seien, von einem zentralen Standpunkt aus, in Musik, die selber emphatisch schön, von schematischem Beiwerk rein ist, eigentlich auch ungezählt viele schöne Stellen schön; nur bedarf es dazu, daß man solcher Schönheit sich versichert, dessen, daß man an Einzelnes, durch nichts anderes Substituierbares ohne Vorbehalt sich verliert, und von solchen Einzelheiten will ich reden. Theodor W. Adorno (1965)
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By presenting to you a number of beautiful passages, by commenting on them, trying to explain to you on what grounds they may be called beautiful, my intention is not merely to rescue them from the necessary critique aimed at the vulgar term of a beautiful passage. I also want to refute clichés, cut a breach into the matter itself, breaking the wall of stylistically appropriate structures. Walter Benjamin’s Einbahnstrasse contains this aphorism: “Quotations in my works are like robbers by the roadside who make an armed attack and relieve an idler of his convictions.” Some part of this polemic power is inherent to musical quotes as well; thus Alban Berg once dreamt up a musical journal that would have quoted passages from compositions in the same punishing manner Karl Kraus used against the press in Die Fackel. The punishing power of the quoted musical stupidity, however, corresponds to the radiant one of the quoted musical name. The light emanating from the beauty of individual detail, once discerned, erases the appearance learning drapes over music, an appearance that is all too well in line with music’s dubious aspect: namely, the idea that it might in fact already be the felicitous whole that humanity has been denying itself to this day. Its image is more likely retained in an individual measure than in the victorious wide shot. The selection I have made is as coincidental as biographical fate. It is dependent on those beautiful passages that have stayed with me from my earliest musical memories. Others may love other moments, and there is no argument to be made about preference. If I may reveal a conjecture, it would be the assumption that, from a central point of view, in all music that is itself emphatically beautiful and free of schematic accessories, there should be a limitless number of beautiful passages. To reassure oneself of such beauty, however, it is necessary to unreservedly lose oneself to individual attributes that will bear no substitution, and it is these individual attributes that I intend to talk about.
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DANIEL BARENBOIM & RADU LUPU Mittwoch
8. März 2017 19.30 Uhr
Daniel Barenboim Klavier Radu Lupu Klavier
Franz Schubert (1797–1828) Sonate B-Dur D 617 für Klavier zu vier Händen I. Allegro moderato II. Andante con moto III. Allegretto Fantasie f-moll D 940 für Klavier zu vier Händen Allegro molto moderato – Largo – Allegro vivace – Tempo primo Pause Divertissement sur des motifs originaux français e-moll D 823 für Klavier zu vier Händen I. Tempo di marcia II. Andantino III. Rondeau. Allegretto
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Hausmusik und verkappte Orchesterwerke Franz Schuberts Kompositionen für Klavier zu vier Händen
Jürgen Ostmann
Klavier zu vier Händen – für diese Besetzung komponierte zwar schon der junge Wolfgang Amadeus Mozart, doch seine eigentliche Blütezeit erlebte das Genre im 19. Jahrhundert. Zuvor hatten neue Produktionstechniken das Klavier für fast jeden bürgerlichen Haushalt erschwinglich gemacht, sodass es zum wichtigsten musikalischen Kommunikationsmittel werden konnte. Weil aber kaum jemand über zwei Instrumente verfügte, teilten sich oft zwei Spieler eine Tastatur. Das gemeinsame Musizieren am Klavier erfüllte gleich mehrere Funktionen: Zum einen konnten Musikliebhaber zu Hause größer besetzte Werke kennen lernen – insofern spielten damals Klavier-Transkriptionen von Opern oder Sinfonien eine ähnliche Rolle wie heute CDs. Zum anderen war im Klavierunterricht das Musizieren von Lehrer und Schüler oder auch das Duospiel zweier Schüler eine beliebte Übung im Blattlesen und Takt halten. Und schließlich galten vierhändige Kompositionen als unverzichtbar für die abendliche Unterhaltung im Salon, das gesellige Zusammensein im Freundeskreis. All das mag erklären, warum die Gattung zwar kommerziell sehr erfolgreich, künstlerisch jedoch weit weniger angesehen war. Und es macht auch den allmählichen Niedergang der Musik für Klavierduo im 20. Jahrhundert verständlich: Orchestermusik im Konzert wurde immer breiteren Publikumskreisen zugänglich – von Rundfunkübertragungen und Plattenaufnahmen ganz zu schweigen. Das häusliche Musizieren verlor dagegen an Bedeutung, und viele professionelle Pianisten scheuten sich offenbar, ihren Applaus mit einem Kollegen zu teilen. Obwohl Musik für Klavier zu vier Händen in den Verlagskatalogen des 19. Jahrhunderts viel Raum einnahm, war doch Franz Schubert unter den großen Komponisten 42
der Zeit der einzige, in dessen Schaffen sie eine bedeutende Rolle spielte. Schon für sein erstes erhaltenes Werk, die Fantasie D 1 vom April 1810, wählte er diese Besetzung, und unter den Kompositionen seines letzten Lebensjahres 1828 sind Meisterwerke wie die Fantasie f-moll D 940, das Allegro a-moll D 947 (dem ein Verleger den Titel „Lebensstürme“ gab) oder das Rondo A-Dur D 951. Insgesamt schrieb Schubert in seinem kurzen Leben nicht weniger als 35 Werke für Klavierduo, darunter Ouvertüren und Märsche, Polonaisen und Variationen, Sonaten und Divertissements, Fantasien und Rondos. Besonders viele vierhändige Stücke entstanden 1818 und dann wieder 1824. In diesen beiden Jahren war Schubert jeweils mehrere Monate lang als Musiklehrer im damals ungarischen, heute slowakischen Zseliz an der Gran angestellt. Dort besaß Graf Johann Karl Esterházy eine Sommerresidenz, die der Komponist am 8. September 1818 in einem Brief kurz beschreibt: „Unser Schloss ist keins von den größten, aber sehr niedlich gebaut. Es wird von einem sehr schönen Garten umgeben. Ich wohne im Inspektorat. Es ist ziemlich ruhig, bis auf einige 40 Gänse, die manchmal so zusammenschnattern, dass man sein eigenes Wort nicht hören kann. Die mich umgebenden Menschen sind durchaus gute. Selten wird irgend ein Grafen-Gesinde so gut zusammen gehen wie dieses. [...] Der Graf, ziemlich roh, die Gräfin stolz, doch zarter fühlend, die Comtessen gute Kinder.“ Dass die Comtessen Marie und Caroline auch recht gute Pianistinnen gewesen sein müssen, geht aus dem hohen spieltechnischen Niveau der Stücke hervor, die Schubert für sie schrieb.
Theatralik und harmonische Extravaganzen: die Sonate D 617 Die Sonate B-Dur D 617, 1823 in Wien als „Grande Sonate“ op. 30 veröffentlicht, entstand aller Wahrscheinlichkeit nach 1818, in Schuberts erstem Zselizer Sommer. Im Vergleich mit einer zweiten „Grande Sonate“ für Klavier zu vier Händen, dem viersätzigen, fast sinfonisch konzipierten C-Dur-Werk D 812, gibt sich die frühere Sonate bescheidener: Sie enthält nur drei Sätze von überschaubaren Dimensionen, und ihr Klang ist kammermusikalisch transparent. Das eröffnende Allegro moderato beginnt mit einem aufsteigenden Arpeggio des ersten Klaviers, gefolgt von 43
absteigenden, dynamisch zurückgenommenen Sechzehntelpassagen – eine kadenzartige, fast theatralische Geste, die zum gesanglichen, italienisch anmutenden Hauptthema führt. Das zweite Thema steht nicht in der zu erwartenden Dominant-Tonart F-Dur, sondern in Des-Dur – eine erste Kostprobe von Schuberts harmonischem Erfindungsreichtum, der dann auch die Durchführung mit ihren weit ausgreifenden Modulationen und einer ganz neuen Melodie in A-Dur prägt. Der Mittelsatz ist ein Andante con moto in der typischen dreiteiligen Liedform, wobei der Schlussteil das melancholische Moll-Thema des Beginns nach Dur versetzt und ornamentierend umspielt. Weitere Beispiele sowohl für Schuberts Variationskunst als auch für seine harmonischen Extra vaganzen bietet das lebhafte, nach Art eines Sonatenrondos konstruierte Finale: Sein Eingangsthema beginnt in eben jenem D-Dur, mit dem das Andante endete. Sehr schnell und wie nebenbei findet es jedoch mit einer knappen chromatischen Wendung zur Grundtonart B-Dur zurück. Als Durchführung oder zentrale Episode dient ein Abschnitt in d-moll, der durch das kaum vermittelte Nebeneinander gegensätzlicher Ausdrucksbereiche und entfernter Tonarten fast schon eine komische Wirkung gewinnt. Eine kurze kadenzartige Figur im ersten Klavier, ähnlich der zu Beginn des Kopfsatzes, leitet über zur Wiederaufnahme des Hauptthemas. Schubert widmete die Sonate dem ungarischen Grafen Ferdinand Pálffy von Erdöd, der das Theater an der Wien betrieb.Vermutlich stand diese Zueignung in Zusammenhang mit dem Schauspiel Rosamunde, Fürstin von Zypern, das dort am 20. Dezember 1823 mit Schuberts Bühnenmusik uraufgeführt wurde.
„Es ist Ihnen ja ohnehin alles gewidmet“: die Fantasie D 940
Zu Schuberts letzten Kompositionen für Klavier zu vier Händen zählt die Fantasie f-moll D 940, die zwischen Januar und April 1828 entstand, also nur wenige Monate vor seinem Tod. Am 9. Mai 1828 spielten Schubert und Franz Lachner die Fantasie in der Wiener Wohnung ihres gemeinsamen Freundes, des Dramatikers Eduard von Bauernfeld – so berichtet Bauernfeld in seinem Tagebuch. Offenbar versetzte sich der Komponist mit diesem Werk 44
„Je mehr Dur Schubert verwendet, um so trauriger wird man“
gedanklich noch einmal ins sommerliche Zseliz zurück, dachte an seine adelige Klavierschülerin Caroline Esterházy, für die er nach Andeutungen von Zeitgenossen wohl romantische Gefühle hegte. Einmal soll sie ihn halb im Scherz gefragt haben, weshalb er ihr eigentlich noch gar kein Musik stück dediziert habe, worauf Schubert erwiderte: „Wozu denn – es ist Ihnen ja ohnehin alles gewidmet!“ Ein einziges Werk, diese Fantasie, sollte dann doch ihren Namen tragen – Schubert verlangte das in einem Brief an seinen Verleger Diabelli, und das Stück erschien denn auch im März 1829 im Druck, unter der Opusnummer 103 und „dédiée à Mademoiselle la Comtesse Caroline Esterházy de Galántha“. Heute gilt die Fantasie f-moll als eines der bedeutendsten Werke der gesamten Literatur für Klavier zu vier Händen. Beeindruckend ist schon ihre außergewöhnliche Form, die sie mit der noch bekannteren „Wanderer-Fantasie“ D 760 für Klavier zu zwei Händen teilt: Man kann sie als vollständige viersätzige Sonate interpretieren; allerdings sind die Sätze oder Abschnitte ohne Unterbrechung zu spielen und miteinander durch wiederkehrende Themen und Motive verknüpft. Im Fall der Fantasie D 940 leisten neben dem mehrfach wiederkehrenden Eröffnungsthema vor allem das Motiv der aufsteigenden Quart, Trillerornamente, Dur-MollWechsel und punktierte Rhythmen Beiträge zur zyklischen Einheit. Die Fantasie beginnt im Allegro molto moderato mit einem elegischen Moll-Thema über einer monoton wiederholten Begleitfigur. Im weiteren Verlauf wird das Thema nach Dur umgedeutet, doch tröstlicher wirkt es dadurch kaum.Vielmehr lässt die Stelle an eine Beobachtung des amerikanischen Komponisten Morton Feldman denken: „Je mehr Dur Schubert verwendet, um so trauriger wird man. Man hat das Gefühl: ‚Aufhören, ich kann’s nicht mehr ertragen, es ist zu traurig!‘“ Der zweite Teil, das Largo in fis-moll, soll durch Niccolò Paganinis Wiener Auftritt im März 1828 inspiriert worden sein. Der pompöse, doppelt punktierte Rhythmus erinnert an den einer französischen Ouvertüre der Barockzeit. Das folgende Allegro vivace, weiterhin in fis-moll, nimmt die Stelle eines Scherzos ein. Seinen Trioteil wollte Schubert ursprünglich als Marsch gestalten, doch stattdessen entschied er sich für eine zarten, eleganten Mittelabschnitt, dessen Kanon-Elemente bereits auf die kontrapunktischen Künste des Fugenfinales vorausweisen. Dieser vierte Teil beginnt nach einem dramatischen 45
Tonartwechsel und einer Generalpause mit einer ausführ lichen Reprise des Eröffnungsthemas. Danach folgt die Fuge, deren Thema, ein viertöniges Marcato-Motiv, ebenfalls bereits aus dem ersten Teil bekannt ist. Nach einem mächtigen Höhepunkt und einer weiteren Generalpause erklingt ein letztes Mal das wehmütige Eröffnungsthema, das dann in eine überraschend dissonante Schlusskadenz mündet. Wie nur wenige andere Werke für Klavier zu vier Händen sprengt Schuberts Fantasie durch ihren extremen Ausdrucksgehalt, aber auch durch ihren fast schon orchestralen Klang den Rahmen häuslicher Gebrauchsmusik. Robert Schumann erklärte in einer Rezension eines verwandten Werks, des „Grand Duo“ D 812, er höre darin „Saitenund Blasinstrumente, Tutti, einzelne Soli, Paukenwirbel“ – und diese Bemerkung lässt sich ohne weiteres auf die Fantasie übertragen. Wenn Schubert sie nicht wirklich für Orchester komponierte, mag das darin liegen, dass er nur sehr selten Aufführungsmöglichkeiten mit größeren Ensembles fand. Kein Wunder, dass die Fantasie eine ganze Reihe von Dirigenten des späten 19. und des 20. Jahrhunderts zu mehr oder minder gelungenen Instrumentierungen anregte.
Marschrhythmus und Klangpoesie: das Divertissement D 823
Unter dem Titel „Divertissement“ (französisch für Zeitvertreib oder Unterhaltung) komponierte Schubert zwei Werke für Klavier zu vier Händen. Das erste, das „Divertissement à la hongroise“ D 818, geht auf eine Anregung während des zweiten Zseliz-Aufenthalts von 1824 zurück: Eine Küchenmagd des Grafen Esterházy soll eines der von Schubert verarbeiteten Themen vor sich hin gesungen haben. Wenig ist über die Ursprünge des zweiten Stücks bekannt, des „Divertissement sur des motifs originaux français“ D 823. Seine drei Sätze wurden ursprünglich noch nicht einmal zusammen veröffentlicht. Schuberts Verleger Thaddäus Weigl gab vielmehr im Jahr 1826 unter der Opusnummer 63 ein „Divertissement en forme d’une Marche brillante et raisonnée sur des motifs originaux français“ heraus und ließ 1827 als op. 84/1 und 2 noch ein „Andantino varié et Rondeau brillant sur des motifs originaux français“ folgen. Zweifellos bewegten ihn rein kommerzielle Gründe zu diesem Vorgehen. Dass Schubert selbst die drei Sätze als Teile 46
eines einzigen Werks ansah, ergibt sich nicht nur aus den ähnlich formulierten Titeln, sondern auch aus der Tonartenfolge e-moll, h-moll und e-moll. Der breit ausgeführte erste Satz versammelt in sich eine ganze Reihe typischer Marsch-Elemente. Sein pathetisches erstes Thema ist von einem punktierten Rhythmus geprägt; Triller lassen an Trommelwirbel denken. Hinzu kommen gleichmäßige Staccato-Viertel, dann Achteltriolen, die an Fanfarenstöße erinnern. Gar nicht marschartig klingt zunächst das innige zweite Thema in G-Dur, über dem sich im Diskant perlende Sechzehntelketten spannen. Bald merkt man jedoch, dass sein gleichmäßig schreitender „Wanderer- Rhythmus“ durchaus auch Marschcharakter annehmen kann. Das zentrale Andantino ist gelegentlich auch separat im Konzert zu hören. Es bietet vier Variationen über ein ruhig-melancholisches, von Motivwiederholungen geprägtes Thema, das eingangs akkordisch vorgetragen wird. Ungarische Assoziationen weckt die erste Variation, neapolitanische die zweite. Die dritte verbindet das akkordisch ausgeführte Thema mit Sechzehntel-Umspielungen, und die vierte, etwas langsamer zu spielende in H-Dur erzielt mit mancherlei unerwarteten Wendungen eine besonders poetische Wirkung. Ein Rondo-Finale, geprägt von einem hartnäckig durch gehaltenen Rhythmus und dennoch voller geistreicher Überraschungen, bringt das Divertissement klangmächtig und virtuos zum Abschluss.
Jürgen Ostmann studierte Musikwissenschaft und Orchestermusik (Violoncello). Er lebt als freier Musikjournalist und Dramaturg in Köln und arbeitet für verschiedene Konzerthäuser, Rundfunkanstalten, Orchester, Plattenfirmen und Musikfestivals.
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Schubert for Four Hands On the Works for Piano Duet
Paul Thomason
It is not surprising that Franz Schubert wrote more piano duets than any other major composer. In fact, in Otto Deutsch’s listing of his works, the earliest composition, D 1, is the Fantasie in G Major for piano four hands, written in April and May of 1810 when the 13-year o ld Schubert was still a student. Music-making in the home was very much a part of life among the growing middle class, both within the family itself and with friends during social occasions. Piano lessons were part of the education of almost every young lady, and so music for piano duet was in demand. Playing duets would have been something expected of Schubert when he was hired by Count Johann Karl Esterházy as music teacher for his two daughters during the summer of 1818. Though only distantly related to the branch of the Esterházys who were Haydn’s patrons, the Vienna family was very musical. The Count sang bass, the Countess contralto, 16-year-old Marie was considered a very good soprano, and 13-year-old Caroline a passable contralto. Both girls were deemed good pianists. The family was spending the summer at their home in Zseliz on the river Gran, then in Hungary, about 125 miles from Vienna, so Schubert needed to get his first passport. “The count is rather rough, the countess haughty but more sensitive; the little countesses are nice children,” Schubert wrote back to Vienna, ignoring the youngest child, five-yearold Albert. “So far I have been spared dining with the family. Our castle is not one of the largest, but very pretty. It is surrounded by a most beautiful garden. I live in the manager’s house. It is fairly quiet, save for some 40 geese, which at time cackle so lustily together that one cannot hear oneself speak.” But Schubert was a city boy, born and raised in Vienna, and that summer in Zseliz was the 21-year-old’s first trip away. Despite the fact he had always loved taking long walks in the country around Vienna, it was not long before the 48
“I am obliged to rely wholly on myself ”
rustic surroundings began to lose a bit of their charm. “Here in Zseliz I am obliged to rely wholly on myself. I have to be composer, author, audience, and goodness knows what else,” he wrote to friends halfway through his stay. “Not a soul here has any feeling for true art, or at the most the countess now and again (unless I am wrong). So I am alone with my beloved [his muse] and have to hide her in my room, in my pianoforte and in my bosom. Although this often makes me sad, on the other hand it elevates me the more. Have no fear then, that I shall stay away longer than is absolutely necessary.” Schubert’s muse served him well, since that summer yielded a number of songs, the German Requiem for his brother Ferdinand, and a variety of piano music, both solo and duets, among which is the delightful B-flat Sonata D 617 in three movements. The first, an Allegro moderato, opens with a cadenzalike flourish before settling into the first theme that could easily be mistaken for Mozart. But soon Schubert’s distinct voice takes over with its enticing melodies, and his inventiveness in working out the musical material, not the least of which is his sudden shifts in harmony—characteristics of the second and third movements, as well. The charming second movement is marked “Andante con moto” and its rather melancholic theme at first seems to be setting up a theme and variations. Instead Schubert uses an ABA construction, with the repeat of the opening theme delightfully embellished. The last movement is an Allegretto in a gently rocking 6/8 time, its rather serene mood interrupted by a series of quick explosive chords before settling back into the pastoral tone of its opening. It’s an enchanting end for a piece that must have delighted the two young countesses as it does audiences today.
Idealized Love
At the end of Schubert’s tragically short life he composed a number of works that are among the greatest in the history of music, as deeply profound as they are transcendentally beautiful. The Fantasie in F minor is one of these, and it was dedicated to Countess Caroline Esterházy. Long after Schubert’s death, one of his friends, Eduard von Bauernfeld, said that “while he was fairly realistic in regard to certain things, Schubert was not without his infatuations. 49
“Everything is dedicated to you anyway“
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Actually, he was head over ears in love with one of his pupils, a young Countess Esterházy. Fortunately in our friend’s case an idealized love was at work, mediating, reconciling, compensating, and Countess Caroline may be looked upon as his visible, beneficent muse.” The countess’s great-niece, Countess Coudenhove, wrote, “It never occurred to Caroline to feel more than a warm friendship for Schubert, although in the family it was admitted that he had a slight crush on her.” Certainly there is no indication that the family took Schubert’s feeling seriously or ever thought for a moment of keeping her and Schubert apart. (Caroline did not marry until she was 38, when she became the wife of Count Carl Folliot von Crenneville, who was five years her junior. The marriage was later annulled.) A mutual friend of both the composer and the countess, Karl von Schönstein, relates a poignant conversation he witnessed. After confirming Schubert’s deep feelings for her he added, “Caroline had the greatest regard for him and for his talent but she did not return this love; perhaps she had no idea of the degree to which it existed. I say the degree for that he loved her must surely have been clear to her from a remark of Schubert’s—his only declaration in words. Once, namely, when she reproached Schubert in fun for having dedicated no composition to her, he replied, ‘What is the point? Everything is dedicated to you anyway.’” The extraordinary F-minor Fantasie was composed between January and April 1828 and published the following year. It is a continuous piece with four sections, or movements, the first and last of which share material. The outer two are in F minor, the inner ones in F-sharp minor. The Fantasie’s haunting opening theme is strongly reminiscent of the first violin at the beginning of the slow movement of the C-Major String Quintet, written the same year. In both cases Schubert begins with the dotted rhythms of a repeated note which he varies—first with an upward jump of a fourth and then of a second (both preceded by a grace note). Somehow Schubert makes this rather simple melodic line seem poignant to the point of being otherworldly, hesitant almost to the point of fragility, yet devastating in its emotional impact. The explosive second theme returns in the work’s last section, where it appears as a double fugue after Schubert repeats much of the Fantasie’s opening. In between these two is a slow section (Largo) that, unlike most slow movements, is an aggressive fortissimo, characterized by double
dotted rhythms and strong trills and triplets. The impish scherzo, marked “Allegro vivace,” gives way (momentarily) to a delicate trio in D major before returning, then leading into a series of fortissimo chords, cries of defiance. These in turn are followed by a repeat of the work’s elegiac opening theme that begins, and then ends, the last movement. One can only agree with Maurice J. E. Brown who said of the Fantasie, “It has, in the highest degree, all those characteristic qualities of the composer which have endeared him to generations of music lovers.”
Creative Ambitions and Public Taste
In October 1825 Schubert returned to Vienna after having been away for five months, traveling around Upper Austria with the famous singer Johann Michael Vogl.Vogl had championed Schubert’s songs at a time they were virtually unknown outside of his intimate circle and had also introduced Schubert to a number of important people who could help him. Upon arriving back in Vienna Schubert reconnected with a slightly new version of his circle of close friends. Three years before the circle had been rather high minded, reading and discussing literature, exploring the best in music, poetry, and painting. In general, its members had been seeking to improve themselves. Now the group was more dedicated to having a good time. Schubert was delighted to find his intimate friend Franz von Schober had returned from Breslau, where he had been an actor in a theater for two years. The painter Moritz von Schwind and Eduard von Bauernfeld (the friend quoted above) were also members of the group. Schubert was concerned with making money and so during the winter of 1825–26 he concentrated on writing songs and piano duets, works publishers were more interested in than larger compositions. During the summer of 1825 Schubert had received a letter from the head of the Anton Pennauer publishing firm who expressed interest in piano duets, as long as they were “fairly brilliant work of not too large dimensions, such as a grand polonaise, or rondo, with an introduction, or a fantasy.” The Divertissement D 823, written during the autumn of 1825, eventually was not published by Pennauer but by Thaddäus Weigl, who showed he was interested in the same 51
type of work by splitting up the three-movement Divertissement into three separate pieces, all with lavish French titles to appeal to his customers. The first, for instance, became a “Divertissement en forme d’une Marche brillante et raisonnée.” “Everything about this procedure,” declared the Schubert scholar John Reed, “even the passing salute to sonata form implied in the word ‘raisonnée,’ smells of sales promotion, and clearly indicates the widening gap between Schubert’s creative ambitions and the trend of public taste.” The first movement (Tempo di Marcia) has a haunting second theme that bears a striking resemblance to Am Meer, the 12th song in Schubert’s Schwanengesang. The composer explores this melody during the movement, often surrounding it with ripples of 16th notes. It is not hard to understand why the second movement (Andantino) inspired the Polish virtuoso Carl Tausig to transcribe it into a piece for piano solo. The pensive theme retains its character throughout the inventive variations, even when the tempo becomes more expansive and the harmony shifts from B minor into B Major. The movement ends beautifully with a return of the original theme. The final Rondeau begins with a jaunty Allegretto that become more militant when it suddenly shifts into E Major and adopts a pulsating long-short, short-long rhythm that returns again and again, bringing the piece to a virtuosic close.
Paul Thomason writes for numerous opera companies, symphony orchestras, and cultural institutions in the U.S. and Europe. He is based in New York City.
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CHRISTIAN GERHAHER & DANIEL BARENBOIM 10. März 2017 19.30 Uhr Sonntag 12. März 2017 11.00 Uhr Freitag
Christian Gerhaher Bariton Daniel Barenboim Klavier
Franz Schubert (1797–1828) Winterreise Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller D 911 Gute Nacht Die Wetterfahne Gefrorne Tränen Erstarrung Der Lindenbaum Wasserflut Auf dem Flusse Rückblick Irrlicht Rast Frühlingstraum Einsamkeit Die Post Der greise Kopf Die Krähe Letzte Hoffnung Im Dorfe Der stürmische Morgen Täuschung Der Wegweiser Das Wirtshaus Mut Die Nebensonnen Der Leiermann
„Du fändest Ruhe dort“ Wohin führt Franz Schuberts Winterreise?
Susanne Ziese
I. Ziemlich geschwind, unruhig
Im August 1824 schrieb Franz Schubert seinem Bruder Ferdinand aus dem ungarischen Zseliz, wo er den Töchtern des Grafen Johann Karl Esterházy für die Sommermonate als Musiklehrer diente: „So wohl es mir geht, so gesund als ich bin, so gute Menschen als es hier gibt, so freue ich mich doch unendlich wieder auf den Augenblick, wo es heißen wird: Nach Wien, nach Wien! Ja, geliebtes Wien, Du schließest das Theuerste, das Liebste in Deinen engen Raum, und nur Wiedersehen, himmlisches Wiedersehen wird dieses Sehnen stillen.“ Eine erstaunliche Sehnsucht, bedenkt man, dass es nicht das idyllische, unter der aufgeklärten Reformpolitik Josephs II. florierende Wien war, in das Schubert sich zurückwünschte, sondern das Wien, in dem die bittere Enttäuschung über die gescheiterte Revolution und die anschließende Restauration tiefe Wunden in den freiheitlich denkenden Kreisen hinterlassen hatte, die sich jetzt der scharfen Zensur Clemens von Metternichs ausgesetzt sahen. Die Auswirkungen der politischen Umwälzungen der Jahre vor und nach dem Wiener Kongress 1815/16 waren in der Donaumetropole bis in alle Lebensbereiche hinein spürbar, dabei bildete auch der Freundeskreis Schuberts keine Ausnahme. Der noch bei Beethoven spürbare unerschütterliche Glaube an die politische Macht der Kunst – per aspera ad astra! – erstickte in resignativer Leere, die verheißungsvoll leuchtenden Sterne schienen in unerreichbare Ferne gerückt: Nur wer die Sehnsucht kennt Weiß, was ich leide! Allein und abgetrennt Von aller Freude, Seh ich ans Firmament Nach jener Seite. 56
Bereits 1816 vertonte Schubert diese Verse aus Johann Wolfgang von Goethes Wilhelm Meister, die in verkürzter Form das Künstlerbild einer ganzen Epoche in sich vereinen, das eines einsam Leidenden, getrieben von einer unstillbaren Sehnsucht nach etwas Höherem. Es ist eine Suche nach Sinnhaftigkeit in einer Zeit, die infolge der Aufklärung gerade hinsichtlich religiöser und transzendentaler Vorstellungen radikal entzaubert erschien. Konsequenterweise führte die Flucht aus der Realität in die Sphäre des Privaten, des Gefühls, der Träume und in die Kunst. In der Dichtung fand das eskapistische Sehnen seinen ureigenen Topos in der Wanderung durch die erhabene Natur. O Täler weit, o Höhen, O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen Andächt’ger Aufenthalt. Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäft’ge Welt, Schlag noch einmal die Bogen Um mich, du grünes Zelt. In der Natur, wie sie hier Joseph von Eichendorff 1810 beschrieb, war es möglich, der „geschäft’gen Welt“ eine Zeitlang zu entfliehen; der einsame Mensch und die ihn schützend umschlingende Natur verschmolzen – so das Ideal – im innigen Einklang. Das Bild der glücklichen Verbundenheit zeichnet auch der Dessauer Gymnasiallehrer und Bibliothekar Wilhelm Müller in seinem 1821 publizierten Gedichtzyklus Die schöne Müllerin, in dem er seinen wandernden Müllerburschen sich am „frisch und wunderhell“ rauschenden Bächlein ergötzen lässt. Das personifizierte Bächlein wird dem Wanderer sogar zum engsten Vertrauten, an den er seine heimliche Frage richtet: Liebt ihn die schöne Müllerin? Am Ende ist es ebendieses Bächlein, das den vom Schmerz der verschmähten Liebe gepeinigten Müller in sich aufnimmt, ihm tröstend ein Wiegenlied singt und die letzte Ruhestätte bietet – eine erlösende Union von Mensch und Natur in schönster Verklärung. So licht und einladend wird die Natur in Müllers 1823/24 gedichteter Winterreise nicht mehr erscheinen. Mag es die Folge politischer Frustration des engagiert für die Befreiung Griechenlands eintretenden Dichters oder die reale schmerz57
volle Erfahrung einer enttäuschten Liebe sein – oder beides –, dem hellen Frühling der Schönen Müllerin steht in der Winterreise eine tiefdunkle Eiszeit gegenüber. II. Mäßig, in gehender Bewegung „Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur, ‚Nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.‘ Eines Tages sagte er zu mir, ‚Komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen.‘“ Ob Schuberts Freund Josef von Spaun die Worte des Komponisten in seinen Aufzeichnungen aus dem Frühjahr 1827 tatsächlich getreu wiedergegeben hat, ist zwar fraglich, doch scheint es nicht undenkbar. Tatsache ist, dass Schubert im Februar des Jahres seinem Verleger Haslinger das Autograph eines Zyklus von zwölf Liedern unter dem Titel Winterreise zukommen lässt. Er hatte die Gedichte des fast gleichaltrigen Müller, dessen Schöne Müllerin er bereits 1823 vertonte hatte, in der Zeitschrift Urania entdeckt, dabei allerdings nicht ahnen können, dass der Dichter seinen Zyklus noch einmal um zwölf Gedichte erweitern würde. Erst 1828 wird Schubert auf diese zweite Fassung der Winterreise aufmerksam und gerät in ein Dilemma, denn seine Komposition ist bereits nach einer klaren musikalischen Logik angeordnet; das hindert ihn daran, die von Müller zwischen die Gedichte des ersten Teils eingefügten Neudichtungen dort einzugliedern. Stattdessen beschließt Schubert, seinen ersten Teil beizubehalten, and so weicht die Reihenfolge seiner Winterreise in erheblicher, aber in sich überaus schlüssiger Form von der Müllerschen ab. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh’ ich wieder aus“ – schon die ersten Verse des Zyklus benennen das emotionale Klima. Isolation und Ziellosigkeit bestimmen die Reise des vor seiner enttäuschten Liebe aus der Stadt geflohenen Wanderers. Die Natur, in die es ihn treibt, ist eine zutiefst lebensfeindliche. Eis und Schnee prägen das trostlose Bild, Sturm, Dunkelheit und bedrohliche Geräusche wie das Heulen „irrer Hunde“. Diese Natur ist keine schützende mehr, sie ist erbarmungslos unwirtlich, mitunter sogar tödlich für den Wanderer. „Mäßig, in gehender Bewegung“ schreibt Schubert über das Manuskript von Gute Nacht. Auch die fröhliche Wanderschaft in der Schönen Müllerin (das volksliedhafte 58
Das Wandern) beginnt „mäßig geschwind“ in gehendem Duktus, doch der Tonfall der Winterreise ist ein radikal anderer. Das im gesamten ersten Teil dominierende Tongeschlecht Moll dunkelt die Stimmung ab, die Bewegung des Gehens scheint gedrosselt – die bedrückende Fremde der „trüben Welt“ ist von Beginn an evident. Erst in der letzten Strophe des Eröffnungslieds („Will dich im Traum nicht stören“) wendet sich die Musik nach Dur, allerdings ein Dur, das nach den drei vorangegangenen Strophen geradezu verklärt, unwirklich klingt. Tatsächlich dient Schubert die Verwendung der Tongeschlechter in der Winterreise vielerorts zur Unterscheidung zweier Wahrnehmungsebenen: Während das dunklere Moll für die reale, die den Wanderer umgebende „trübe Welt“ steht, führt das hellere Dur häufig in die Sphäre der (leidvollen) Erinnerung, der Fantasie und des Traumes. Paradigmatisch offenbart sich diese Dichotomie im Lindenbaum, dem ersten Lied, das in einer Durtonart beginnt. Auffallend volksliedhaft setzt Schubert die Verse über den Baum, der traditionell als Symbol für Geselligkeit und Liebesglück steht – schon in Walther von der Vogelweides Unter den Linden wurde „wohl tausendmal“ geküsst –, und zeichnet so eine musikalische Idylle, eine nostalgische Erinnerung an bessere Zeiten: Ich träumt’ in seinem Schatten So manchen süßen Traum. Die regelmäßige Strophenstruktur der Traumkulisse in Dur bricht Schubert erst in der fünften Strophe („Die kalten Winde bliesen“) auf. In geradezu opernhafter Dramatik schildert seine Vertonung die „kalten Winde“, die dem Wanderer den Hut vom Kopf wehen, doch dieser „wendete sich nicht“ – an Umkehr ist nicht zu denken. Warum? Das offenbart die letzte Strophe, wiederum in auffällig traumverklärtem Dur: Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör’ ich’s rauschen: Du fändest Ruhe dort!
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Die mysteriöse Verheißung einer wie auch immer gearteten Ruhe im Konjunktiv („fändest“), erweist sich, trotz der beschwörenden Wiederholung, im Nachspiel als leeres Rauschen, als Illusion und Wunschgedanke des rast- und heimatlos Wandernden. III. Langsam
Realitätsentlarvendes Moll, naive Traumwelt in Dur
Nach dem Lindenbaum gerät der Schritt des Wanderers hörbar ins Stocken, die Tempi in den folgenden Liedern werden langsamer. Es sind die Lieder, in denen der Wanderer im Spiegel der erstarrten Natur seiner Ausweglosigkeit zunehmend gewahr wird. In den einst „so lustig rauschenden“ Bach, der nun unter einer Eisdecke verborgen liegt, ritzt er den Namen der Liebsten ein, doch um ihn „windet sich ein zerbroch’ner Ring“ – die Reise des Wanderers kennt weder Heimkehr noch Richtung. So kann ihn auch das Irrlicht kaum schrecken, ist er doch das „Irregehen“ gewöhnt. Das veränderliche Wesen des Irrlichts überträgt Schubert in eine Musik voller rhythmischer Varianten des Textmetrums und harmonischer Verwirrspiele. Am Ende steht die Gewissheit, dass selbst der verschlungenste Lebensweg ein unausweichliches Ziel findet, eine Gewissheit, die sich im weiteren Verlauf zur quälenden Sehnsucht steigern wird: Jeder Strom wird’s Meer gewinnen, Jedes Leiden auch sein Grab. Der Tod jedoch erlöst den Wanderer nicht. Zwar sendet er die Krähe als seinen Vorboten, doch des Lebensmüden Zeit ist noch nicht gekommen. Beim Köhler, dem vom Ruß geschwärzten, von den Menschen gefürchteten Aussiedler, findet er eine Raststätte. Er ist ja selbst ein Isolierter – fremd in der Fremde, in der jede Hoffnung begraben liegt (Letzte Hoffnung). Im Dorfe streift er des Nachts umher, feindselig „bellen die Hunde, es rasseln die Ketten“. Das Klaviervorspiel zeichnet die beklemmende Geräuschkulisse nach, in der sich das lyrische Ich als Beobachter bewegt. Wie durch einen Guckkasten schaut er in die Fenster, hinter denen die Menschen, die Ahnungslosen, schlafend in ihre Betten liegen und „sich manches träumen, was sie nicht haben“. Der „Ent-Täuschte“ jedoch weiß, dass alle Träume nur Illusion sind, „und morgen früh ist alles zerflossen“ – der Vers erklingt
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im realitätsentlarvenden Moll, während die drei folgenden Verse in Dur die naive Traumwelt der Schlafenden in sanft wiegendem Gesang nachzeichnen: Je nun, sie haben ihr Teil genossen, Und hoffen, was sie noch übrig ließen, Doch wieder zu finden auf ihren Kissen. Die Hunde bellen den Fremden wieder in die Realität zurück; er ist nun „zu Ende mit allen Träumen“, der Gesellschaft – schon der vom Kopf gewehte Hut hatte es angedeutet – ist er abhanden gekommen. Wohin soll er noch wandern? In Der Wegweiser gestaltet Schubert die bedrängende Ausweg losigkeit bildhaft, indem er den musikalischen Raum der Singstimme in der letzten Strophe sukzessive verengt, wie eine sich zuziehende Schlinge, und dabei schicksalhaft den Ton g beharrlich repetiert zu den eindringlich wiederholten Worten: „Eine Straße muß ich gehen, die noch keiner ging zurück.“ Diese Straße führt den Wanderer nur augenscheinlich zu einem Wirtshaus, wo er ein Bett für die Nacht zu finden hofft. Doch schon das ruhige, in Dur gehaltene Klaviervorspiel des Liedes, das mit der Bezeichnung „Sehr langsam“ das ruhigste des gesamtes Zyklus ist, deutet in seiner kohärenten Logik an, dass es sich wiederum um eine Täuschung handelt – eine Andeutung, die mit Einsatz der Singstimme bittere Gewissheit wird: Auf einen Totenacker Hat mich mein Weg gebracht. Weder hat der Wanderer einen (Rast-)Platz in der Gesellschaft der Wirtsleute, noch hat der Totenacker ein Grab für ihn übrig. Das lyrische Ich ist folglich zu ewiger Wanderschaft verdammt. Das Gewicht dieser Erkenntnis gestaltet Schubert höchst eindringlich unter Einsatz sparsamster musikalischer Mittel. Die Begleitung im pavaneartigen Rhythmus scheint wie eine Last an den Melodietönen der Singstimme zu hängen, sie verweigert ihr jeglichen Bewegungsimpuls, selbst zu den längst in Resignation gekleideten Worten „Nun weiter denn, nur weiter, mein treuer Wander stab!“ Ein anschließender Anflug von Mut – Schubert tilgt hier das von Müller gesetzte Ausrufezeichen hinter dem Titel! – erweist sich als trotzige Geste der Verzweiflung. 61
IV. Etwas langsam Dem lockenden Totenacker („Langsam“) folgt keine weitere Entschleunigung, stattdessen trifft der Wanderer im Leiermann („Etwas langsam“) auf einen weiteren, von der Gesellschaft verstoßenen Fremden, den die Hunde argwöhnisch anknurren. Mit unerbittlicher Monotonie dreht der alte Mann seine Leier, sein Lied klingt bei Schubert so beklemmend und leer wie der terzlose Raum, den die stur wiederholte Bordunquinte umschließt. Wunderlicher Alter! Soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehn?
Selbst der Tod erweist sich am Schluss der Winterreise als Utopie
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Es ist nicht die ersehnte Ruhe, der erlösende Tod, der am Ende dieser Wanderung steht, sondern vielmehr ein Erstarren im ewig Gleichen, einer leidvollen Dauerschleife des Schicksals, versinnbildlicht in der Monotonie der Leier. Selbst der Tod erweist sich am Schluss der Winterreise als Utopie. „Meine Erzeugnisse für die Musik sind durch den Verstand und durch meinen Schmerz vorhanden; jene, welche der Schmerz allein erzeugt hat, scheinen die Welt am meisten zu erfreuen“, notierte Schubert einmal in sein Tagebuch. Tatsächlich soll es vorgekommen sein, dass selbst gestandene Männer sich nach dem Hören seiner Lieder „in die Arme stürzten, und das Übermaß des Gefühls in Tränen sich Bahn brach“. Überhaupt geizte der Mensch in der Romantik selten mit Äußerungen großer Emotionen – man denke nur an die für heutige Begriffe fast unerträglich pathetisch formulierten Briefe, überbordend von Freundschafts- und Liebesschwüren. Auch die rasche Entwicklung eines auf den Friedhöfen gepflegten Toten- und Erinnerungskults steht paradigmatisch für dieses Bedürfnis, seine Gefühle zu veräußern – ein Bedürfnis, das gleichsam daraufhin abzielte, eine durch die Aufklärung entstandene Leerstelle zu füllen: das undenkbare Nichts nach dem Tod. In der gemeinsamen Sehnsucht nach Transzendenz und der zelebrierten Gefühlsveräußerung fand das romantische Individuum im kollektiven Leiden, sei es ästhetisiert oder real, einen Platz in der Gemeinschaft – und war zugleich zutiefst einsam. Ist dieses bedrohliche Paradox der Vereinsamung in der
Gemeinschaft – angesichts des extrem gesteigerten Kommunikationsdrangs der heutigen medialen Zeit, da man in sozialen Netzwerken hunderte von „Freunden“ und „Followern“ vereint, um sich in einem steten Fluss von Statusmeldungen diesem virtuellen Bekanntenkreis mitzuteilen – nicht von geradezu verstörender Aktualität? Die Winterreise, deren zweiten Teil Schubert nur wenige Monate vor seinem Tod komponierte, ist das eindrucksvolle Ergebnis der Entwicklung einer Musik, die in ihrer Fähigkeit, sich nicht nur an die Verse eines Dichters anzuschmiegen, sondern sie gleichsam als eigenständige Sprache zu kommentieren und zu interpretieren, von frappierender Modernität ist.
Susanne Ziese wurde 1983 in Berlin geboren und studierte an der HumboldtUniversität Musikwissenschaft und Spanisch. Neben ihrer freiberuflichen Tätigkeit als Autorin arbeitet sie in einer Berliner Konzertdirektion und für den Europäischen Verband der Konzertagenten.
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“I Like These Songs More Than All the Rest” Schubert’s Winterreise
S u s a n Yo u e n s
The wintry geography of the soul
In early 19th-century Europe, songs were considered trifles meant for amateurs in middle-class households, newly able to afford pianos for their children. Schubert, his ambitions monumental from the start, was not content with those limited parameters and composed songs that challenged pianists and singers alike from the start. Even his early strophic songs are full of gemlike nuances, while his two later song cycles on poetry by his Prussian contemporary Wilhelm Müller are immense. Never again would anyone be able to say that “song” was not the equal of symphonies, operas, or string quartets in size and complexity, especially his last cycle, Winterreise, a journey into the wintry geography of the soul. It seems only fitting to inaugurate the performance of all of Schubert’s songs—more than 600 of them, over the course of the following seasons here at the Pierre Boulez Saal—with a composition that speaks so powerfully of this composer’s Shakespearean insight into the human condition and his astonishing originality. In 1858, Schubert’s oldest friend, Joseph von Spaun, wrote in his Reflections and Notes on My Friendship with Franz Schubert: “For some time Schubert appeared very upset and melancholy. When I asked him what was troubling him, he would say only, ‘Soon you will hear and understand.’ One day he said to me, ‘Come over to [Franz von] Schober’s today, and I will sing you a cycle of spine-chilling songs. I am anxious to know what you will say about them. They have cost me more effort than any of my other songs.’ So he sang the entire Winterreise through to us in a voice full of emotion. We were utterly dumbfounded by the mournful, gloomy tone of these songs, and Schober said that only one, ‘Der Lindenbaum,’ had appealed to him. To this Schubert replied, ‘I like these songs more than all the rest, and you will come to like them as well.’” 65
No wonder his friends were taken aback: Winterreise is not light, not charming, not “pretty.” Its beauty is of a different order, akin to Greek tragedy or Rembrandt’s portraits of his own old age. It seems almost inconceivable that this work—the epitome of existential crisis—was created by someone just approaching 30 years old, but then Schubert was no ordinary man. These are not parlor songs but visions that should leave the listener shattered, shaken to the depths of his or her being. A Voyage of Self-discovery Müller borrowed the subject of his poetic cycle Die Winterreise (Schubert omitted the definite article for a starker title) from the stockpile of standard Romantic themes: a journey by an alienated wanderer with a tragic finale in madness or death. But the poet, only three years Schubert’s senior, varied his chosen subject in original ways, turning it into a psychodrama that goes beyond mourning for lost love—this is how we meet the wanderer—to a voyage of self-discovery. What defines monodrama such as this is the exclusion of any other characters and the near-obliteration of awareness of the poet’s control. Whatever we know in this cycle, we know from the wanderer’s point of view. We are never told his name, occupation, upbringing, personal history, or appearance (except that he has black hair and is therefore not old). Nor is there a narrator, a plot, or events in the external world: instead, we spy on fleeting emotions and states. Long before Freud, this philosopher manqué knows that dreams are wish-fulfillment fantasies—but, in his despair, he is unable to resist the lure of the illusions by which we comfort ourselves, and he probes his inner being for answers to the mystery of the Self. In the first song, Gute Nacht, the wanderer tells us that he came to this place a stranger and departs still a stranger, unsuccessful once more in his quest for belonging. When he is jilted, he loses more than the love of one person: he loses the hope that human bonds are possible for him. At song’s end, he bids the sleeping sweetheart farewell before he leaves; in Schubert’s hands, Müller’s angry sarcasm becomes tenderness made audible in a magical shift from minor to major mode.
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Living torrents beneath the frozen crust
In Die Wetterfahne, we hear the whirligig weather vane, a traditional symbol for infidelity, gusts of icy wind, and most of all, the wanderer’s anger. The tears that come as if from nowhere and freeze on his face in Gefrorne Tränen hint that something even deeper than love’s betrayal is at the heart of the persona’s psychological turmoil. The fourth song, Erstarrung, exemplifies the tug-of-war between reason and emotion in the first half of the cycle: he searches frantically for mementos of her because he knows that without them, her image will eventually vanish from his heart. The linden tree in Der Lindenbaum is where lovers in German literature traditionally have their rendezvous; here, the wanderer recalls his past happiness in love as he passes the tree. Its rustling leaves seem as if saying, “Come to me and find rest”—but the only way to be one with Nature is to die.The wanderer resists and journeys onward, but remembers the promise of rest wistfully for a long time thereafter. In Wasserflut, he imagines rivers of tears flowing all the way to her house, and in Auf dem Flusse, he asks his heart whether living torrents flow beneath its frozen crust. Grief continually “looks back” at what is lost, and that is what the wanderer does in Rückblick. The town that was once so welcoming, so loving, is now a place he has fled in panic, and in the rushed, jostling figures in the piano at beginning and end, we hear ice-crystals falling from the roofs as the crows dislodge them, frantic footsteps, and psychological panic. Twice in this cycle, Müller invokes the will-o’-the-wisp, the ghostly light that appears in bogs, swamps, and marshes to tempt travelers away from the safe pathways. Here, it could symbolize the beloved who lured him into chasms through which he meanders aimlessly in Irrlicht. Illusions and Longings The wanderer pauses in his journey for the first time in Rast, but the trudging footsteps continue in his head. Finally falling asleep in Frühlingstraum, he dreams of springtime and reciprocal love in strains of Mozartean delicacy and clarity, only to be rudely awakened to cold reality not once but twice. The heartsick weariness of Einsamkeit is twice broken near the end by a longing for storms whose violent energy might rouse him from lethargy. 67
Der Wegweiser is the moment of peripeteia, of recognition
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Die Post at the midway point re-energizes the cycle, with its horn-calls and clip-clopping horses’ hooves. But there after, the wanderer longs repeatedly for death: in Der greise Kopf, he hopes that the frost on his hair means that he has grown old overnight and will soon die, and in Die Krähe, he hopes that the crow circling overhead is a death-omen. Letzte Hoffnung inspired Schubert to complex and disorienting rhythmic patterns that tell both of an extremity of despair and of leaves that fall from the trees at random. This spasm of despair is followed by scorn of sleepy smalltown values, of those deluded people who can dream of good things, unlike him. The figures at the beginning of Im Dorfe can be heard both as the dogs’ chains rattling and the villagers’ snoring; at the end, he renounces dreams to neoBaroque strains in which one hears both a solemn farewell to happy delusions of yore and a spice of sarcasm. The next morning, he sees the image of his own heart in the stormtossed clouds and fiery dawn of Der stürmische Morgen, with its “military march” middle section, but the Lear-on-theheath defiance is over almost before we can take in such violence. For Täuschung, the second will-o’-the-wisp song, Schubert borrows from his 1821–22 opera Alfonso und Estrella, where an earlier version of this same music told of a cloud-maiden who lured a hunter to follow her until he tumbled to his death far below. Here, the wanderer knows the will-o’-thewisp is delusory but is so desperate for light and warmth and company that he follows it anyway, his music expressive of mad merriment. The 20th song, Der Wegweiser, is the moment of peripeteia, of recognition. As he asks yet again why his road is so solitary and difficult, he sees a signpost in his mind for the road he must take, a road “from which no man has ever returned.” He does not say what it is: surely death, but we gather from the next song, Das Wirtshaus, that it will take longer to arrive than the wanderer would wish. When he stops at a cemetery and begs for a room at the inn, he is turned away by the pitiless innkeeper Death: he must continue his journey. The false courage he tries to assemble in Mut quickly evaporates, followed by a song of profound resignation: Die Nebensonnen. The mysterious three suns could be Müller’s symbolic use of the atmospheric phenomenon known as parhelion, in which sun refracted through ice-crystals pro-
duces illusory images of the sun on either side. Here, the illusions symbolize the beloved’s eyes, which vanished from his sight. At the “end” of the cycle (not truly an end) in Der Leiermann, the wanderer sees a hurdy-gurdy player in the ice and snow, grinding out music so elemental as to be deprived of all possibility of transcendence. This is living death, and yet, there is something ineluctably moving in the way the hurdygurdy player clings to his music, despite his bleak condition. Epilogue When Schubert set these poems to music, he was confronting his own probable fate. Enough was known in the 1820s about syphilis for Schubert to realize that the disease he had contracted in late 1822 often led to dementia and paralysis before release in death. He might have wondered whether he too would be condemned to suffer what the wanderer confronts: a future with his creative faculties numbed and the capacity to create music restricted to a single phrase, repeated mindlessly over and over. The cycle ends on a question mark for which there is no answer, only the echoing silence following the dyingaway drone of the hurdy-gurdy. Realizing this, one understands what a heroic act it was for Schubert to set this text, of all texts, to music, to fashion transcendent art from the bleakest fear imaginable. Perhaps Death, flattered by Schubert’s many portraits of him in music, spared the composer the fate he most dreaded, taking him swiftly before insanity and paralysis could claim him as their own. Despite the tragedy of his premature death (and we will always wonder what might have been), we can only be grateful that he did not become the wanderer but instead turned him into songs “I like more than all the rest.”
Susan Youens, who teaches at the University of Notre Dame in Indiana, is the author of eight books on German song, including Heinrich Heine and the Lied, as well as more than 60 articles and book chapters.
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Franz Schubert
Franz Schubert
Winterreise
Winter Journey
Liederzyklus nach Gedichten von Wilhelm Müller
Song cycle on poems by Wilhelm Müller
Gute Nacht Fremd bin ich eingezogen, Fremd zieh’ ich wieder aus. Der Mai war mir gewogen Mit manchem Blumenstrauß. Das Mädchen sprach von Liebe, Die Mutter gar von Eh’ – Nun ist die Welt so trübe, Der Weg gehüllt in Schnee.
Good Night I arrived a stranger, A stranger I depart. May blessed me With many a bouquet of flowers. The girl spoke of love, Her mother even of marriage; Now the world is so desolate, The path concealed beneath snow.
Ich kann zu meiner Reisen Nicht wählen mit der Zeit: Muß selbst den Weg mir weisen In dieser Dunkelheit. Es zieht ein Mondenschatten Als mein Gefährte mit, Und auf den weißen Matten Such’ ich des Wildes Tritt.
I cannot choose the time For my journey; I must find my own way In this darkness. A shadow thrown by the moon Is my companion; And on the white meadows I seek the tracks of deer.
Was soll ich länger weilen, Daß man mich trieb’ hinaus? Laß irre Hunde heulen Vor ihres Herren Haus! Die Liebe liebt das Wandern, Gott hat sie so gemacht – Von einem zu dem andern – Fein Liebchen, gute Nacht.
Why should I tarry longer And be driven out? Let stray dogs howl Before their master’s house. Love delights in wandering— God made it so— From one to another. Beloved, good night!
Will dich im Traum nicht stören, Wär’ schad’ um deine Ruh’, Sollst meinen Tritt nicht hören – Sacht, sacht die Türe zu! Schreib’ im Vorübergehen An’s Tor dir gute Nacht, Damit du mögest sehen, An dich hab’ ich gedacht.
I will not disturb you as you dream, It would be a shame to spoil your rest. You shall not hear my footsteps; Softly, softly the door is closed. As I pass I write “Good night” on your gate, So that you might see That I thought of you. 71
Die Wetterfahne Der Wind spielt mit der Wetterfahne Auf meines schönen Liebchens Haus. Da dacht’ ich schon in meinem Wahne, Sie pfiff ’ den armen Flüchtling aus. Er hätt’ es eher bemerken sollen, Des Hauses aufgestecktes Schild, So hätt’ er nimmer suchen wollen Im Haus ein treues Frauenbild. Der Wind spielt drinnen mit den Herzen, Wie auf dem Dach, nur nicht so laut. Was fragen sie nach meinen Schmerzen? Ihr Kind ist eine reiche Braut.
The Weathervane The wind is playing with the weathervane On my fair sweetheart’s house. In my delusion I thought It was whistling to mock the poor fugitive. He should have noticed it sooner, This sign fixed upon the house; Then he would never have sought A faithful woman within that house. Inside the wind is playing with hearts, As on the roof, only less loudly. Why should they care about my grief? Their child is a rich bride.
Gefrorne Tränen Gefrorne Tropfen fallen Von meinen Wangen ab: Ob es mir denn entgangen, Daß ich geweinet hab’?
Frozen Tears Frozen drops fall From my cheeks; Have I, then, not noticed That I have been weeping?
Ei Tränen, meine Tränen, Und seid ihr gar so lau, Daß ihr erstarrt zu Eise, Wie kühler Morgentau?
Ah tears, my tears, Are you so tepid That you turn to ice, Like the cold morning dew?
Und dringt doch aus der Quelle Der Brust so glühend heiß, Als wolltet ihr zerschmelzen Des ganzen Winters Eis.
And yet you well up, so scaldingly hot, From your source within my heart, As if you would melt All the ice of winter.
Erstarrung Ich such’ im Schnee vergebens Nach ihrer Tritte Spur, Wo sie an meinem Arme Durchstrich die grüne Flur.
Numbness In vain I seek Her footprints in the snow, Where she walked on my arm Through the green meadows.
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Ich will den Boden küssen, Durchdringen Eis und Schnee Mit meinen heißen Tränen, Bis ich die Erde seh’.
I will kiss the ground And pierce ice and snow With my burning tears, Until I see the earth.
Wo find’ ich eine Blüte, Wo find’ ich grünes Gras? Die Blumen sind erstorben, Der Rasen sieht so blaß.
Where shall I find a flower? Where shall I find green grass? The flowers have died, The grass looks so pale.
Soll denn kein Angedenken Ich nehmen mit von hier? Wenn meine Schmerzen schweigen, Wer sagt mir dann von ihr?
Shall I, then, take No memento from here? When my sorrows are stilled Who will speak to me of her?
Mein Herz ist wie erstorben, Kalt starrt ihr Bild darin: Schmilzt je das Herz mir wieder, Fließt auch ihr Bild dahin.
My heart is as dead, Her image coldly rigid within it; If my heart ever melts again Her image, too, will flow away.
Der Lindenbaum Am Brunnen vor dem Tore, Da steht ein Lindenbaum; Ich träumt’ in seinem Schatten So manchen süßen Traum.
The Linden Tree By the well, before the gate, Stands a linden tree; In its shade I dreamt Many a sweet dream.
Ich schnitt in seine Rinde So manches liebe Wort; Es zog in Freud’ und Leide Zu ihm mich immer fort.
In its bark I carved Many a word of love; In joy and sorrow I was ever drawn to it.
Ich mußt’ auch heute wandern Vorbei in tiefer Nacht, Da hab’ ich noch im Dunkel Die Augen zugemacht.
Today, too, I had to walk Past it at dead of night; Even in the darkness I closed my eyes.
Und seine Zweige rauschten, Als riefen sie mir zu: Komm her zu mir, Geselle, Hier findst du deine Ruh’!
And its branches rustled As if they were calling to me: “Come to me, friend, Here you will find rest.”
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Die kalten Winde bliesen Mir grad’ in’s Angesicht, Der Hut flog mir vom Kopfe, Ich wendete mich nicht.
The cold wind blew Straight into my face, My hat flew from my head; I did not turn back.
Nun bin ich manche Stunde Entfernt von jenem Ort, Und immer hör’ ich’s rauschen: Du fändest Ruhe dort!
Now I am many hours’ journey From that place; Yet I still hear the rustling: “There you would find rest.”
Wasserflut Manche Trän’ aus meinen Augen Ist gefallen in den Schnee: Seine kalten Flocken saugen Durstig ein das heiße Weh.
Flood Many a tear has fallen From my eyes into the snow; Its cold flakes eagerly suck in My burning grief.
Wenn die Gräser sprossen wollen, Weht daher ein lauer Wind, Und das Eis zerspringt in Schollen, Und der weiche Schnee zerrinnt.
When the grass is about to shoot forth, A mild breeze blows; The ice breaks up into pieces And the soft snow melts away.
Schnee, du weißt von meinem Sehnen; Sag’, wohin doch geht dein Lauf? Folge nach nur meinen Tränen, Nimmt dich bald das Bächlein auf.
Snow, you know of my longing; Tell me, where does your path lead? If you but follow my tears The brook will soon absorb you.
Wirst mit ihm die Stadt durchziehen, Muntre Straßen ein und aus; Fühlst du meine Tränen glühen, Da ist meiner Liebsten Haus.
With it you will flow through the town, In and out of bustling streets; When you feel my tears glow, There will be my sweetheart’s house.
Auf dem Flusse Der du so lustig rauschtest, Du heller, wilder Fluß, Wie still bist du geworden, Gibst keinen Scheidegruß.
On the River You who rippled so merrily Clear, boisterous river, How still you have become; You give no parting greeting.
Mit harter, starrer Rinde Hast du dich überdeckt, Liegst kalt und unbeweglich Im Sande ausgestreckt.
With a hard, rigid crust You have covered yourself; You lie cold and motionless, Stretched out in the sand.
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In deine Decke grab’ ich Mit einem spitzen Stein Den Namen meiner Liebsten Und Stund’ und Tag hinein:
On your surface I carve With a sharp stone The name of my beloved, The hour and the day.
Den Tag des ersten Grußes, Den Tag, an dem ich ging, Um Nam’ und Zahlen windet Sich ein zerbrochner Ring.
The day of our first greeting, The date I departed. Around name and figures A broken ring is entwined.
Mein Herz, in diesem Bache Erkennst du nun dein Bild? Ob’s unter seiner Rinde Wohl auch so reißend schwillt?
My heart, do you now recognize Your image in this brook? Is there not beneath its crust Likewise a seething torrent?
Rückblick Es brennt mir unter beiden Sohlen, Tret’ ich auch schon auf Eis und Schnee, Ich möcht’ nicht wieder Atem holen, Bis ich nicht mehr die Türme seh’.
Backward Glance The soles of my feet are burning, Though I walk on ice and snow; I do not wish to draw breath again Until I can no longer see the towers.
Hab’ mich an jeden Stein gestoßen, So eilt’ ich zu der Stadt hinaus; Die Krähen warfen Bäll’ und Schloßen Auf meinen Hut von jedem Haus.
I tripped on every stone, Such was my hurry to leave the town; The crows threw snowballs and hailstones On to my hat from every house.
Wie anders hast du mich empfangen, Du Stadt der Unbeständigkeit! An deinen blanken Fenstern sangen Die Lerch’ und Nachtigall im Streit.
How differently you received me. Town of inconstancy! At your shining windows Lark and nightingale sang in rivalry.
Die runden Lindenbäume blühten, Die klaren Rinnen rauschten hell, Und ach, zwei Mädchenaugen glühten! – Da war’s geschehn um dich, Gesell!
The round linden trees blossomed, The clear fountains plashed brightly, And, ah, a maiden’s eyes glowed; Then, friend, your fate was sealed.
Kommt mir der Tag in die Gedanken, Möcht’ ich noch einmal rückwärts sehn, Möcht’ ich zurücke wieder wanken, Vor ihrem Hause stille stehn.
When that day comes to my mind I should like to look back once more, And stumble back To stand before her house.
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Irrlicht In die tiefsten Felsengründe Lockte mich ein Irrlicht hin: Wie ich einen Ausgang finde Liegt nicht schwer mir in dem Sinn.
Will-o’-the-wisp A will-o’-the-wisp enticed me Into the deepest rocky chasms; How I shall find a way out Does not trouble my mind.
Bin gewohnt das Irregehen, ’S führt ja jeder Weg zum Ziel: Unsre Freuden, unsre Leiden, Alles eines Irrlichts Spiel!
I am used to straying; Every path leads to one goal. Our joys, our sorrows— All are a will-o’-the wisp’s game.
Durch des Bergstroms trockne Rinnen Wind’ ich ruhig mich hinab – Jeder Strom wird’s Meer gewinnen, Jedes Leiden auch sein Grab.
Down the dry gullies of the mountain stream I calmly wend my way; Every river will reach the sea; Every sorrow, too, will reach its grave.
Rast Nun merk’ ich erst, wie müd’ ich bin, Da ich zur Ruh’ mich lege; Das Wandern hielt mich munter hin Auf unwirtbarem Wege.
Rest Only now, as I lie down to rest, Do I notice how tired I am. Walking kept me cheerful On the inhospitable road.
Die Füße frugen nicht nach Rast, Es war zu kalt zum Stehen, Der Rücken fühlte keine Last, Der Sturm half fort mich wehen.
My feet did not seek rest; It was too cold to stand still. My back felt no burden; The storm helped to blow me onwards.
In eines Köhlers engem Haus Hab’ Obdach ich gefunden; Doch meine Glieder ruhn nicht aus: So brennen ihre Wunden.
In a charcoal-burner’s cramped cottage I found shelter. But my limbs cannot rest, Their wounds burn so.
Auch du, mein Herz, in Kampf und Sturm So wild und so verwegen, Fühlst in der Still’ erst deinen Wurm Mit heißem Stich sich regen!
You too, my heart, so wild and daring In battle and tempest; In this calm you now feel the stirring of your serpent, With its fierce sting.
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Frühlingstraum Ich träumte von bunten Blumen, So wie sie wohl blühen im Mai, Ich träumte von grünen Wiesen, Von lustigem Vogelgeschrei.
Dream of Spring I dreamt of bright flowers That blossom in May; I dreamt of green meadows And merry bird-calls.
Und als die Hähne krähten, Da ward mein Auge wach; Da war es kalt und finster, Es schrieen die Raben vom Dach.
And when the cocks crowed My eyes awoke: It was cold and dark, Ravens cawed from the roof.
Doch an den Fensterscheiben Wer malte die Blätter da? Ihr lacht wohl über den Träumer, Der Blumen im Winter sah?
But there, on the window panes, Who had painted the leaves? Are you laughing at the dreamer Who saw flowers in winter?
Ich träumte von Lieb’ um Liebe, Von einer schönen Maid, Von Herzen und von Küssen, Von Wonne und Seligkeit.
I dreamt of mutual love, Of a lovely maiden, Of embracing and kissing, Of joy and rapture.
Und als die Hähne krähten, Da ward mein Herze wach; Nun sitz’ ich hier alleine Und denke dem Traume nach.
And when the cocks crowed My heart awoke; Now I sit here alone And reflect upon my dream.
Die Augen schließ’ ich wieder, I close my eyes again, Noch schlägt das Herz so warm. My heart still beats so warmly. Wann grünt ihr Blätter am Fenster? Leaves on my window, when will you Wann halt’ ich mein Liebchen, im Arm? turn green? When shall I hold my love in my arms?
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Einsamkeit Wie eine trübe Wolke Durch heitre Lüfte geht, Wenn in der Tanne Wipfel Ein mattes Lüftchen weht:
Loneliness As a dark cloud Drifts through clear skies, When a faint breeze blows In the fir-tops;
So zieh’ ich meine Straße Dahin mit trägem Fuß, Durch helles, frohes Leben, Einsam und ohne Gruß. Ach, daß die Luft so ruhig! Ach, daß die Welt so licht! Als noch die Stürme tobten, War ich so elend nicht.
Thus I go on my way, With weary steps, through Bright, joyful life, Alone, greeted by no one. Alas, that the air is so calm! Alas, that the world is so bright! When storms were still raging I was not so wretched.
Die Post Von der Straße her ein Posthorn klingt. Was hat es, daß es so hoch aufspringt, Mein Herz?
The Post A posthorn sounds from the road Why is it that you leap so high, My heart?
Die Post bringt keinen Brief für dich. Was drängst du denn so wunderlich, Mein Herz?
The post brings no letter for you. Why, then, do you surge so strangely, My heart?
Nun ja, die Post kommt aus der Stadt, Wo ich ein liebes Liebchen hatt’, Mein Herz!
But yes, the post comes from the town Where I once had a beloved sweetheart, My heart!
Willst wohl einmal hinübersehn, Und fragen, wie es dort mag gehn, Mein Herz?
Do you want to peep out And ask how things are there, My heart?
Der greise Kopf Der Reif hat einen weißen Schein Mir über’s Haar gestreuet. Da glaubt’ ich schon ein Greis zu sein, Und hab’ mich sehr gefreuet.
The Hoary Head The frost has sprinkled a white sheen Upon my hair: I thought I was already an old man, And I rejoiced.
Doch bald ist er hinweggetaut, Hab’ wieder schwarze Haare,
But soon it melted away; Once again I have black hair,
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Daß mir’s vor meiner Jugend graut – Wie weit noch bis zur Bahre!
So that I shudder at my youth. How far it is still to the grave!
Vom Abendrot zum Morgenlicht Ward mancher Kopf zum Greise. Wer glaubt’s? Und meiner ward es nicht Auf dieser ganzen Reise!
Between sunset and the light of morning Many a head has turned grey. Who will believe it? Mine has not done so Throughout this whole journey.
Die Krähe Eine Krähe war mit mir Aus der Stadt gezogen, Ist bis heute für und für Um mein Haupt geflogen.
The Crow A crow has come with me From the town, And to this day Has been flying ceaselessly about my head.
Krähe, wunderliches Tier, Willst mich nicht verlassen? Meinst wohl bald als Beute hier Meinen Leib zu fassen?
Crow, you strange creature, Will you not leave me? Do you intend soon To seize my body as prey?
Nun, es wird nicht weit mehr gehn An dem Wanderstabe. Krähe, laß mich endlich sehn Treue bis zum Grabe!
Well, I do not have much further to walk With my staff. Crow, let me at last see Faithfulness unto the grave.
Letzte Hoffnung Hie und da ist an den Bäumen Manches bunte Blatt zu sehn, Und ich bleibe vor den Bäumen Oftmals in Gedanken stehn.
Last Hope Here and there on the trees Many a colored leaf can still be seen. I often stand, lost in thought, Before those trees.
Schaue nach dem einen Blatte, Hänge meine Hoffnung dran; Spielt der Wind mit meinem Blatte, Zittr’ ich, was ich zittern kann.
I look at one such leaf And hang my hopes upon it; If the wind plays with my leaf I tremble to the depths of my being.
Ach, und fällt das Blatt zu Boden, Fällt mit ihm die Hoffnung ab, Fall’ ich selber mit zu Boden, Wein’ auf meiner Hoffnung Grab.
Ah, and if the leaf falls to the ground My hopes fall with it; I, too, fall to the ground And weep on the grave of my hopes. 79
Im Dorfe Es bellen die Hunde, es rasseln die Ketten. Es schlafen die Menschen in ihren Betten, Träumen sich manches, was sie nicht haben, Tun sich im Guten und Argen erlaben; Und morgen früh ist alles zerflossen – Je nun, sie haben ihr Teil genossen, Und hoffen, was sie noch übrig ließen, Doch wieder zu finden auf ihren Kissen.
In the Village Dogs bark, chains rattle; People sleep in their beds, Dreaming of many a thing they do not possess, Consoling themselves with the good and the bad. And tomorrow morning all will have vanished. Well, they have enjoyed their share, And hope to find on their pillows What they still have left to savor.
Bellt mich nur fort, ihr wachen Hunde, Laßt mich nicht ruhn in der Schlummerstunde! Ich bin zu Ende mit allen Träumen – Was will ich unter den Schläfern säumen?
Drive me away with your barking, watchful dogs; Allow me no rest in this hour of sleep! I am finished with all dreams. Why should I linger among slumberers?
Der stürmische Morgen Wie hat der Sturm zerrissen Des Himmels graues Kleid! Die Wolkenfetzen flattern Umher in mattem Streit.
The Stormy Morning How the storm has torn apart The grey mantle of the sky! Tattered clouds fly about In weary conflict.
Und rote Feuerflammen Ziehn zwischen ihnen hin. Das nenn’ ich einen Morgen So recht nach meinem Sinn!
And red flames Dart between them. This is what I call A morning after my own heart.
Mein Herz sieht an dem Himmel Gemalt sein eignes Bild – Es ist nichts als der Winter, Der Winter kalt und wild.
My heart sees its own image Painted in the sky. It is nothing but winter— Winter, cold and savage.
Täuschung Ein Licht tanzt freundlich vor mir her; Ich folg’ ihm nach die Kreuz und Quer; Ich folg’ ihm gern und seh’s ihm an, Daß es verlockt den Wandersmann. Ach, wer wie ich so elend ist,
Illusion A light dances cheerfully before me, I follow it this way and that; I follow it gladly, knowing That it lures the wanderer. Ah, a man as wretched as I
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Gibt gern sich hin der bunten List, Die hinter Eis und Nacht und Graus Ihm weist ein helles, warmes Haus, Und eine liebe Seele drin – Nur Täuschung ist für mich Gewinn!
Gladly yields to the beguiling gleam That reveals to him, beyond ice, night and terror, A bright, warm house, And a beloved soul within. Even mere delusion is a boon to me!
Der Wegweiser Was vermeid’ ich denn die Wege, Wo die anderen Wandrer gehn, Suche mir versteckte Stege Durch verschneite Felsenhöhn?
The Signpost Why do I avoid the roads That other travelers take, And seek hidden paths Over the rocky, snow-clad heights?
Habe ja doch nichts begangen, Daß ich Menschen sollte scheun – Welch ein törichtes Verlangen Treibt mich in die Wüstenein?
Yet I have done no wrong, That I should shun mankind. What foolish yearning Drives me into the wilderness?
Weiser stehen auf den Wegen, Weisen auf die Städte zu, Und ich wandre sonder Maßen, Ohne Ruh’, und suche Ruh’.
Signposts stand on the roads, Pointing towards the towns; And I wander on, relentlessly, Restless, and yet seeking rest.
Einen Weiser seh’ ich stehen Unverrückt vor meinem Blick; Eine Straße muß ich gehen, Die noch Keiner ging zurück.
I see a signpost standing Immovable before my eyes; I must travel a road From which no man has ever returned.
Das Wirtshaus Auf einen Totenacker Hat mich mein Weg gebracht. Allhier will ich einkehren: Hab’ ich bei mir gedacht.
The Inn My journey has brought me To a graveyard. Here, I thought to myself, I will rest for the night.
Ihr grünen Totenkränze Könnt wohl die Zeichen sein, Die müde Wandrer laden In’s kühle Wirtshaus ein.
Green funeral wreaths, You must be the signs Inviting tired travelers Into the cool inn.
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Sind denn in diesem Hause Die Kammern all’ besetzt? Bin matt zum Niedersinken Bin tödlich schwer verletzt.
Are all the rooms In this house taken, then? I am weary to the point of collapse, I am fatally wounded.
O unbarmherz’ge Schenke, Doch weisest du mich ab? Nun weiter denn, nur weiter, Mein treuer Wanderstab!
Pitiless tavern, Do you nonetheless turn me away? On, then, press onwards, My trusty staff!
Mut Fliegt der Schnee mir in’s Gesicht, Schüttl’ ich ihn herunter. Wenn mein Herz im Busen spricht, Sing’ ich hell und munter.
Courage When the snow flies in my face I shake it off. When my heart speaks in my breast I sing loudly and merrily.
Höre nicht, was es mir sagt, Habe keine Ohren, Fühle nicht, was es mir klagt, Klagen ist für Toren.
I do not hear what it tells me, I have no ears; I do not feel what it laments. Lamenting is for fools.
Lustig in die Welt hinein Gegen Wind und Wetter! Will kein Gott auf Erden sein, Sind wir selber Götter.
Cheerfully out into the world, Against wind and storm! If there is no God on earth, Then we ourselves are gods!
Die Nebensonnen Drei Sonnen sah ich am Himmel stehn, Hab’ lang’ und fest sie angesehn; Und sie auch standen da so stier, Als wollten sie nicht weg von mir. Ach, meine Sonnen seid ihr nicht! Schaut Andern doch in’s Angesicht! Ja, neulich hatt’ ich auch wohl drei: Nun sind hinab die besten zwei. Ging’ nur die dritt’ erst hinterdrein! Im Dunkeln wird mir wohler sein.
The Phantom Suns I saw three suns in the sky; I gazed at them long and intently. And they, too, stood there so fixedly, As if unwilling to leave me. Alas, you are not my suns! Gaze into other people’s faces! Yes, not long ago I, too, had three suns; Now the two best have set. If only the third would follow, I should feel happier in the dark.
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Der Leiermann Drüben hinter’m Dorfe Steht ein Leiermann, Und mit starren Fingern Dreht er was er kann.
The Hurdy-gurdy Man There, beyond the village, Stands a hurdy-gurdy player; With numb fingers He plays as best he can.
Barfuß auf dem Eise Wankt er hin und her; Und sein kleiner Teller Bleibt ihm immer leer.
Barefoot on the ice He totters to and fro, And his little plate Remains forever empty.
Keiner mag ihn hören, Keiner sieht ihn an; Und die Hunde knurren Um den alten Mann.
No one wants to listen, No one looks at him, And the dogs growl Around the old man.
Und er läßt es gehen Alles, wie es will, Dreht, und seine Leier Steht ihm nimmer still.
And he lets everything go on As it will; He plays, and his hurdy-gurdy Never stops.
Wunderlicher Alter, Soll ich mit dir gehn? Willst zu meinen Liedern Deine Leier drehn?
Strange old man, Shall I go with you? Will you turn your hurdy-gurdy To my songs?
Translations: © Richard Wigmore With thanks to Hyperion Records
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JOHN MCLAUGHLIN & THE 4TH DIMENSION
Samstag
11. März 2017 19.00 Uhr
John McLaughlin Gitarre Gary Husband Keyboards und Schlagzeug Etienne Mbappé Bass Ranjit Barot Schlagzeug Gastmusiker Kinan Azmeh Klarinette
„Musik ist die Sprache der Seele“ John McLaughlin und The 4th Dimension
Karl Lippegaus
„Mahavishnu“ – ein Hindi-Wort, das für „kreativer Geist“steht.
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„Als fünfjähriger Junge erlebte ich, wie meine Mutter eine Platte mit der Fünften Symphonie von Beethoven auflegte. Gegen Ende bekam ich eine Gänsehaut. In dem Alter weiß man noch nichts. Ich fühlte nur, dass Musik diese tiefe Wirkung in mir ausgelöst hatte. Das war wohl der Punkt, an dem ich beschloss, Musiker zu werden. Bewusst oder unbewusst – wer weiß?“ John McLaughlin, 1942 im englischen Yorkshire geboren, erhielt als Kind Klavier- und Geigenunterricht und wählte mit elf Jahren die Gitarre zu seinem Hauptinstrument. Nach einer erfolgreichen Zeit als Studiomusiker in London war es die Begegnung mit Miles Davis und die gemeinsame Arbeit an dessen Album In a Silent Way 1969 in New York, die seiner Karriere den entscheidenden Impuls gaben. Zu diesem Zeitpunkt war McLaughlin bereits mit spirituellen Praktiken wie Hatha Yoga vertraut, die damals im Westen erstmals allgemein bekannt wurden. Durch seinen Lehrer Sri Chimnoy wurde er mit der Vorstellung konfrontiert, dass Musik das „absolut Höchste“ verkörpern könne: „Musik, sagte er, sei die Sprache der Seele“, erinnert sich McLaughlin. Sri Chimnoy war es auch, der ihm den Beinamen „Mahavishnu“ gab – ein Hindi-Wort, das für „kreativer Geist“ steht. Als Miles Davis dem jüngeren Kollegen riet, eine eigene Gruppe zu gründen, nannte McLaughlin sie Mahavishnu Orchestra. Von Beginn seiner Karriere an bewegte den Künstler die Frage, ob „die Entwicklung eines philosophischen, inneren Weges sich durch Musik ausdrücken lässt. Spiritualität ist wertlos, wenn sie nicht praxisorientiert ist! Musik ist meine Arbeit. Ich bin Musiker!“ Durch seine Beschäftigung mit indischer Philosophie und Musik hatte McLaughlin den Zugang zu John Coltranes Album A Love Supreme von 1964 gefunden. „Lange war ich frustriert, was die Rolle der Gitarre im Jazz betraf“, sagt er, „weil ich nichts fand, was den Höhenflügen von Miles Davis und John Coltrane glich. So großartig mein Idol Wes Montgomery war – es reichte nicht an das heran, was mir Miles und Trane gaben.“ Auch der Sufi-Musiker und Philosoph Hazrat Inayat Khan – ein großer Vermittler von Philosophie in Ost und
West im frühen 20. Jahrhundert – prägte McLaughlin und andere Jazzmusiker durch seine Schriften über Musik und Selbstverwirklichung. Es falle ihm leicht, sagt McLaughlin, mit dem Publikum in Kommunikation zu treten, denn Musik bewege sich in Harmonie mit der Art seiner persönlichen Lebensführung: „Ich sehe sie als Geschenk an Gott“, sagt er, und fügt hinzu, dass er ohne religiöse Erziehung aufwuchs – „mit Ausnahme des staubigen Zeugs, das man in der Schule lernt. Ich bin sicher, dass es auch vernünftige Religionslehrer gibt, aber mir hat man dieses Zeug nur eingepaukt, und es bedeutete mir nichts.“ Ende 1973 löste McLaughlin das erste Mahavishnu Orchestra auf. Der Erfolg sei zu rasch gekommen, die Gruppe dem innerlich noch nicht gewachsen gewesen. Der stilistische Umbruch vom monumentalen MahavishnuSound zum akustischen Klangbild seiner nächsten Formation Shakti hätte radikaler nicht sein können. Zusammen mit dem Geiger L. Shankar und dem Tablaspieler Zakir Hussain befasste sich McLaughlin nun mit den Musiktraditionen der hindustanischen (nord-) und karnatischen (südindischen) Schulen und besann sich intensiver denn je auf das Wissen, das er sich durch den bedeutenden Sitarmusiker Ravi Shankar angeeignet hatte. „Ich hatte großes Glück, von ihm und anderen Meistern der Indischen Musik zu lernen“, sagt McLaughlin. „Die Spiritualität liegt in der Musik. Man kann die beiden nicht trennen – wie man das im Westen tut.“ Der interkulturelle Austausch, dem Shakti den Weg ebnete, eröffnete neue Möglichkeiten der spontanen Interaktion über musikalische Grenzen hinweg. Durch intensive Studien in Blues, Flamenco und Jazz erreichte McLaughlin mit Shakti und späteren Ensembles eine Symbiose, bei der alle Aspekte seines Schaffens zusammenkamen. „Als ich John kennenlernte, war ich beglückt, denn er konnte mich an dem Punkt treffen, wo Ost und West sich begegnen und voneinander lernen,“ erklärte L. Shankar. Zakir Hussains Vater Alla Rakha, der legendäre Tabla-Begleiter Ravi Shankars, hatte Jahre zuvor Platten mit amerikanischen Jazzmusikern aufgenommen. Was Shakti spielte, so befand er, „war keine indische Musik, es war keine amerikanische Musik. Sie spielten etwas Anderes.“ McLaughlin liebt es, seine Bands immer wieder umzubesetzen. Nach Erscheinen des fulminanten Albums Industrial Zen im Jahr 2006 und der Gründung seines eigenen Labels Abstract Logix wandte er sich einer jungen Generation indischer Musiker zu – unter ihnen der Gitarrist Debashish Bhattacharya, der E-Mandolinen-Spieler U. Rajesh und der Drummer Ranjit Barot. Durch musikalisches Experimentieren mit Barot entstand schließlich die neue Formation The 4th Dimension. In einigen 87
Titeln aus den folgenden Jahren sind Anklänge an das Mahavishnu Orchestra nicht zu überhören. Doch bei The 4th Dimension geht es erdiger und entspannter zu – auch wenn der unermüdliche Perfektionist McLaughlin kein bisschen langsamer und gemächlicher geworden ist. Das durch Gary Husband (Keyboards und Schlagzeug) und Etienne Mbappé (E-Bass) komplettierte Ensemble stößt klanglich in orchestrale Dimensionen vor. Doch ist diese Musik der oft zitierte große Brückenschlag zwischen den Stilen, Genres und Kulturen? East meets West? Okzident trifft Orient? „Mein Metier ist grundsätzlich die Jazzmusik“, erklärte McLaughlin 1979. „Jazz ist wirklich eine Kunstform für mich, aber eine, die sehr breit angelegt ist und die Fähigkeit hat, die verschiedensten Impulse, kulturelle wie kosmische, zu verbinden. [...] [Aber] ich glaube nicht, dass man in der Musik von einer ost-westlichen Fusion reden kann. Man kann nur in persönlichen Begriffen sprechen – es geht um Menschen. Wer eine ost-westliche Fusion anstrebt, wird kläglich scheitern.“ Sich frei bewegend zwischen den musikalischen Welten lässt McLaughlin mal das Bluesfeeling eines Jimi Hendrix aufleben, mal huldigt er seinem Freund Carlos Santana oder dem experimentellen Geist von Miles Davis. Sein Rat an junge Musiker: „Wer sich verliert, wird sich finden.“ Zu den 50-Jahr Feiern der indischen Unabhängigkeit 1997 gründete er gemeinsam mit dem allzu früh verstorbenen Mandolinen Virtuosen U. Shrinivas, dem Schlagzeuger V. Selvaganesh und wiederum Zakir Hussain eine neue Gruppe, die er Remember Shakti nannte. Deren Europa-Tournee von 1999 sorgte mit dem Album The Believer für einen Höhepunkt in McLaughlins Diskographie. Wer sich ganz in diese erstaunliche Musik hineinversenkt, erlebt Fusion ohne Konfusion. Im Grunde ist jedes der Ensembles, die John McLaughlin im Laufe der vergangenen 45 Jahre ins Leben gerufen hat, vom Geist des inspirierten Dialogs mit Anderen getragen gewesen. Für ihr Berliner Konzert begrüßen McLaughlin und The 4th Dimension als Gast Kinan Azmeh. Der syrische Klarinettist, Komponist und Improvisationsmusiker – der als „Artist in Focus“ eine zentrale Rolle in der ersten Saison des Pierre Boulez Saals spielt – ist seinerseits als musikalischer Grenzüberschreiter bekannt. Es dürfte eine spannende Begegnung werden.
Karl Lippegaus ist der Autor von John Coltrane: Biografie (2011).
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“Music Is the Language of the Soul” John McLaughlin and The 4th Dimension
Karl Lippegaus
The spirituality is in the music
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“As a five-year-old boy I saw my mother putting on a record with Beethoven’s Fifth Symphony. Near the end of the music I really got goose-bumps. At this age, one doesn’t know anything. I just felt that music caused this deep reaction in me. That must have been the moment I decided to become a musician. Conscious or unconscious—who knows?” John McLaughlin, born in Yorkshire, England, in 1942, received piano and violin lessons as a child and chose the guitar as his main instrument at the age of 11. After a successful stint as a studio musician in London, it was an encounter with Miles Davis and their shared work on Davis’s album In a Silent Way in New York in 1969 that gave his career the decisive impulse. At the time, McLaughlin was already familiar with spiritual practices such as hatha yoga, which were only just beginning to be noticed generally in the Western world. His teacher Sri Chimnoy confronted him with the notion that music might embody the “absolutely highest”: “Music, he said, was the language of the soul,” McLaughlin recalls. Sri Chimnoy was also the one to give him the sobriquet “Mahavishnu”—a Hindi term meaning “creative spirit”. When Miles Davis advised the younger colleague to found his own ensemble, McLaughlin called it the Mahavishnu Orchestra. From the outset of his career, McLaughlin has pondered the question whether “the development of a philosophical, interior way [could] be expressed in musical terms. Spirituality is worthless if it isn’t practical! Music is my work. I’m a musician!” Thanks to his exploration of Indian philosophy and music, the British performer had felt a connection to John Coltrane’s 1964 album A Love Supreme. “For a long time, I was frustrated by the guitar’s role in jazz,” says McLaughlin, “because I couldn’t find anything comparable to the heights that Miles Davis and John Coltrane ascended to. Great as my idol Wes Montgomery was—he didn’t come close to what Miles and Trane gave me.” The early 20th-century Sufi musician and philosopher Hazrat Inayat Khan—a great teacher of philosophy in the East and the West—influenced McLaughlin and other jazz musicians through his writings on music and self-realization. McLaughlin
finds it easy to communicate with his audiences, explaining that music harmonizes with his personal lifestyle: “I think of my music now as an offering to God,” he says, adding that he was raised without any religious education—“apart from the dust they serve you up at school. I’m sure there are some enlightened teachers, but for me, the dust was just pushed down my throat and didn’t mean anything.” McLaughlin dissolved the first Mahavishnu Orchestra at the end of 1973, claiming that success had come too suddenly, when the group had not been ready for it. The stylistic break between the monumental Mahavishnu sound and the acoustic soundscape of his next formation, Shakti, could not have been more radical. Together with the violinist L. Shankar and the tabla player Zakir Hussain, McLaughlin now studied the musical traditions of the Hindustani (Northern Indian) and Carnatic (Southern Indian) schools, more than ever drawing upon the knowledge he had acquired from the renowned sitar player Ravi Shankar: “I was so lucky to have lessons from Ravi Shankar and other masters of Indian music,” says McLaughlin. “The spirituality is in the music.You can’t separate the two—like you can in the West.” The intercultural exchange made possible by Shakti opened new possibilities of spontaneous interaction, transcending musical borders. Through intensive studies of blues, flamenco and jazz, McLaughlin and Shakti—and other ensembles that would follow—reached a symbiosis uniting all aspects of his oeuvre. “When I met John, I was happy, because he was able to meet me at the point where East and West encounter and learn from each other,” L. Shankar explained. Zakir Hussain’s father Alla Rakha, Ravi Shankar’s legendary tabla accompanist, had recorded with American jazz musicians years before. What Shakti played, he found, “was not Indian music, it was not American music. They made something else.” McLaughlin loves to tinker with the personnel of his bands. After the release of his landmark album Industrial Zen in 2006 and the founding of his own label, Abstract Logix, he turned towards a younger generation of Indian musicians—including guitarist Debashish Bhattacharya, electric mandolin player U. Rajesh, and drummer Ranjit Barot. Eventually, The 4th Dimension emerged from musical experimentation with Barot. Some of the songs of subsequent years clearly hearken back to the sound of the Mahavishnu Orchestra. The 4th Dimension, however, is earthier and more relaxed—even if the indefatigable perfectionist McLaughlin has grown no slower or more comfortable with age. Completed by Gary Husband (keyboards and drums) and Etienne Mbappé (electric bass), the ensemble 91
reaches orchestral dimensions in its sound. But is this music the often-evoked great bridging of styles, genres, and cultures? East meets West? Occident meets Orient? “My fundamental discipline is jazz music. Jazz is truly an art form for me, but one that is very broad and has the possibilities to embrace many different impulses, cultural and planetary impulses. … I don’t believe one can talk about East-West fusions in music. One can only speak in personal terms—that’s people. If you try to make an East-West fusion you’re going to be a miserable failure right away.” Moving freely between the musical worlds, McLaughlin at times references the bluesy mood of Jimi Hendrix, at others he pays tribute to his friend Carlos Santana or to the experimental spirit of Miles Davis. His advice to young musicians: “Lose yourself, and you will find yourself.” For the 50th-anniversary celebrations of Indian independence in 1997 he founded a new group, together with the late mandolin virtuoso U. Shrinivas, drummer V. Selvaganesh, and, once again, Zakir Hussain, which he named Remember Shakti. Its European tour in 1999 produced a highlight of McLaughlin’s discography, the album The Believer. Listening to this remarkable music is to experience fusion without confusion. Fundamentally, each of the musical formations John McLaughlin has assembled over the course of the past 45 years has been carried by the spirit of inspired dialogue with others. For their concert in Berlin, McLaughlin and The 4th Dimension are joined by Kinan Azmeh. The Syrian clarinetist, composer and improviser—who as “artist in focus” will play a central role in the first season of the Pierre Boulez Saal—is known himself for crossing musical borders. It should prove to be a fascinating encounter.
Karl Lippegaus is the author of a John Coltrane biography, published in 2011. Translation: Alexa Nieschlag
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