Lautsprache und Klangbilder Ein Kommentar zu Stephan von Huenes Lexichaos
D r. M a r v i n A l t n e r
Wer kennt sie nicht, die ambivalenten Empfindungen und Gedanken, die durch den Anblick der schwindelerregenden Tiefe eines Gebirgstals oder der Ferne des Horizonts einer Meeresoberfläche ausgelöst werden können. Als Angst-Lust charakterisierte Immanuel Kant diese Ambivalenz in seiner Analytik des Erhabenen, als Gefühl der Bedrohung der eigenen Existenz, das von visueller Wahrnehmung hervorgerufen wird, ohne die Physis des Betrachters tatsächlich in Frage zu stellen.¹ Im Pierre Boulez Saal der Barenboim- Said Akademie inmitten des Lexichaos von Stephan von Huene erscheinen die Verhältnisse zwischen Werk und Betrachter auf den ersten Blick nicht als existenzielle Befragung von Mensch und Welt. Und doch findet sich eine Grundkonstante der Ästhetik des Erhabenen auch hier: Der geweitete Blick auf das panoramatisch erscheinende Oval gekrümmter Wandsegmente, die den Betrachter umschließen. Die einheitlich 100 cm hohen mal 70 cm breiten Holztafeln,² die auf ihnen in regelmäßigen Abständen gehängt sind, zeigen schwarze Buchstaben auf weißem Grund, jeweils von oben nach unten in abnehmender Größe, doch innerhalb der Zeilen in unregelmäßigen Abständen und mit differierender Schriftgröße gesetzt. Zu Recht vergleicht Martin Warnke die Buchstaben mit „Testtafeln beim Augenarzt“³ und legt dabei den Akzent auf die gemalten Buchstaben, ihre Schriftstärken und Positionen auf den Flächen. Wir kehren zu ihnen zurück. Zuvor sei jedoch die Position des Teilnehmers an einem Sehtest rekapituliert. Eine heikle Angelegenheit: Für junge Menschen ist er vielleicht einer der ersten Lebensmomente, in dem bewusst wird, dass Sehen (also auch: Erkennen und Verstehen)
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