West-Eastern Divan Ensemble Einführungstext von Martin Wilkening Program Note by Harry Haskell
WEST-EASTERN DIVAN ENSEMBLE Sonntag 3.
Oktober 2021 18.00 Uhr
Michael Barenboim Violine und musikalische Leitung Yamen Saadi, David Strongin, Samir Obaido Violine Miriam Manasherov, Sindy Mohamed Viola Assif Binness, Astrig Siranossian Violoncello Gilbert Nouno Electronic Music Design und Live-Elektronik
Franz Schubert (1797–1828) Rondo für Violine und Streicher A-Dur D 438 (1816) Adagio – Allegro giusto
Benjamin Attahir (*1989) Jawb für Streichoktett (2019) Auftragswerk der Daniel Barenboim Stiftung Deutsche Erstaufführung
Pierre Boulez (1925–2016) Anthèmes 2 für Violine und Live-Elektronik (1997) Electronic Music Design: Andrew Gerzso Libre – I. Très lent, avec beaucoup de flexibilité – Libre – II. Rapide, dynamique, très rythmique, rigide – Libre – III. Lent, régulier – Nerveux, irrégulier – Libre – IV. Agité, instable – Rythmiquement stable – De nouveau instable – Libre – V. Très lent, avec beaucoup de flexibilité – Subitement nerveux et extrêmement irrégulier – Lent, très flexible – Libre – VI. 1. Allant, assez serré dans le tempo – 2. Calme, régulier – Agité – Brusque – 3. Calme, sans traîner, d’un mouvement très régulier – Libre
Felix Mendelssohn Bartholdy (1809–1847) Streichoktett Es-Dur op. 20 (1825) I. Allegro moderato, ma con fuoco II. Andante III. Scherzo. Allegro leggierissimo IV. Presto
Keine Pause
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„So bewegt sich die Musik von einem Ort zum anderen …“ Zum Programm des West-Eastern Divan Ensemble
Mar tin Wilkening
Franz Schubert schrieb sein Rondo für Violine und Streichquartett im Alter von 19 Jahren, zu Beginn seines öffentlichen Wirkens als Komponist, in der produktivsten Phase seines Lebens. In den Jahren 1815/16 entstanden vier Symphonien, zwei Streichquartette, zahlreiche Klavierwerke, drei Messen, mehrere unvollendete Bühnenwerke und nahezu 250 Lieder, darunter so bedeutende wie Erlkönig und Der Wanderer – knapp die Hälfte seines Schaffens in diesem Genre. Auch der größte Teil seiner nicht eben zahlreichen Violinwerke stammt aus dieser Zeit: einerseits Kompositionen zum häuslichen Musizieren wie die drei Sonatinen, andererseits Werke für Virtuosen, darunter das Konzertstück D-Dur oder das Rondo A-Dur. Zum Komponieren blieben Schubert nur die Stunden nach der täglichen Arbeit als Gehilfe in der Schule seines Vaters, wo er den Erstklässlern die Grundlagen des Schreibens und Rechnens beizubringen hatte. 1813 hatte der 16-Jährige das Wiener Stadtkonvikt verlassen und anschließend vor allem deshalb die Vorbereitung auf den Schuldienst gewählt, weil er dadurch der drohenden Einziehung zum Militär entgehen konnte. Eine professionelle frühe Musikausbildung war ein wesentlicher Teil der Internatserziehung gewesen, und auch nach seinem Austritt nahm Schubert weiterhin privaten Unterricht bei Antonio Salieri, der ihn in Kontrapunkt und Vokalmusik unterwies. Die Erprobung unterschiedlicher Gattungen und das Erspüren eines eigenen Tons fließen in den Kompositionen dieser frühen Jahre zusammen. Schubert begann, sich in der Musik eine innere Welt aufzubauen und suchte gleichzeitig nach Möglichkeiten, mit der Musik auch seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, um der
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Enge und Bedrückung im Haus seines Vaters zu entkommen, was ihm dann 1818 auch gelang. Schon vorher hatte er eine zeitweise Beurlaubung vom Schuldienst durchgesetzt und auch probeweise immer wieder bei Freunden oder Verwandten gewohnt – der Beginn seiner Existenz als Dauergast oder Untermieter, die sein weiteres Leben bestimmen sollte. In das Jahr 1816, die Entstehungszeit des Rondos D 438, fällt Schuberts erfolglose Bewerbung um die Stelle des Musikdirektors im slowenischen Laibach, und am 17. Juni 1816 notiert er in seinem Tagebuch: „An diesem Tag komponierte ich das erste Mal für Geld.“ Das Honorar für die (verschollene) akademische Kantate über den Prometheus-Stoff ist ebenfalls vermerkt, und es konnte ihm Mut machen – es war mehr, als er in einem Jahr in der Schule verdiente. Im Juni 1816 entstand auch, wie ein Vermerk im Autograph zeigt, das A-Dur-Rondo. Frühe Aufführungen des Stückes sind nicht belegt, doch ist es wahrscheinlich, dass es, ebenso wie Schuberts Symphonien und Ouvertüren aus dieser Zeit, bei den wöchentlichen Zusammenkünften gespielt wurde, die als familiäre Quartettabende im Hause Schubert begonnen hatten und später an wechselnden Orten in größerer Besetzung fortgeführt wurden. Schubert spielte hier die Bratsche. Dem Rondo selbst ist eine ausgedehnte langsame Einleitung vorangestellt, deren Fanfarenmotiv eines aufsteigenden Dur-Dreiklangs schon im ersten Takt seine Verwandlung in schattenhaftes Moll erlebt. Den Moll-Bereich öffnen dann im Rondo vor allem die Zwischenspiele. Den Refrain legt Schubert als Doppelthema an: Ein erstes Thema, das durch Vorschlagsnoten, synkopische Betonung und stark differenzierte Rhythmik einen kapriziösen Charakter trägt, wird von einem jovialen, leicht an einen Gassenhauer erinnerndes zweites Thema abgelöst. Nach dem ersten Moll-Zwischenspiel kehrt Schubert die Themenfolge um und nach einem weiteren groß angelegten Zwischenspiel mit ausgedehnter Rückführung folgen wieder beide Refrain-Themen, wobei sich das zweite mit einer Wiederholung triumphierend durchsetzt.
Der 1989 in Toulouse geborene Benjamin Attahir studierte ioline und Komposition in seiner Heimatstadt und in Paris. Seine V Komposition Jawb für Streichoktett entstand als Auftragswerk der Daniel Barenboim Stiftung und wurde im Februar 2020 im Rahmen
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einer USA-Tournee des West-Eastern Divan Ensemble uraufgeführt. In Attahirs Schaffen dominiert eine Nähe zu Streichinstrumenten, darunter auch solche, die der zeitgenössischen Musik fernstehen, wie die Gambe. Ihre Verwendung verweist auf das grundsätzliche Interesse des Komponisten an der Auflösung fester kultureller Rahmen. So hat er etwa auch ein Konzert für den in Deutschland kaum bekannten, in Frankreich am Rand der Orchestertradition existierenden Serpent (ein historisches Blechblasinstrument im Tuba- Register) geschrieben. Solche Umwertung von Hierarchien ist der Ausdruck einer umfassenderen kulturellen Offenheit der Musik Attahirs: Der Komponist mit libanesischen Wurzeln sucht in vielen seiner Stücke auch nach Möglichkeiten einer Fortschreibung der traditionellen arabischen Musik in den Raum der europäischen Tradition hinein. Diese kulturelle Überlagerung bestimmt die grundsätzliche Gestik und Struktur seiner Musik. „Das Rückgrat meines Schreibens ist die ausgezierte Monodie, frei inspiriert von der Musik des Nahen Ostens“, erläuterte Attahir anlässlich der Aufführung seines Ersten Streichquartetts. Diese Aussage lässt sich auch auf das Oktett beziehen, auf dessen ausdrucksvolle chromatische Linienführung, die sich in der Mehrstimmigkeit gleichsam in verschiedene Schichten aufspreizt. Aber auch der schon aufgrund der Besetzung unumgängliche Bezug auf das Mendelssohnsche Vorbild ist auf hintergründige Weise präsent. Hier noch stärker ausgeprägt als bei Mendelssohn ist der konzertante Charakter, der der ersten Violine eine Sonderstellung einräumt. Und so wie Mendelssohn seinen Schlusssatz als Fuge beginnen lässt, entwirft auch Attahir den Schlussteil seines einsätzigen Werks auf einer deutlich wahrnehmbaren fugenartigen Matrix, die in mehreren Anläufen zu immer neuen Steigerungen und retardierenden Momenten führt und schließlich mit einer kraftvollen Geste aus einem Motivsplitter des Fugenmotivs abschließt. Als traumartig verbogener Reflex des vorbeihuschenden Mendelssohnschen Scherzos lässt sich schließlich auch eine der Grundgesten von Attahirs Stück verstehen: der vibrierende Puls von schnellen Noten, der in unterschiedlichen Texturen des achtstimmigen Satzes erscheint. Er bestimmt den Charakter ebenso wie die engräumig ausdrucksvolle Chromatik, die sich oft im Rahmen einer kleinen Terz konzentriert. Im Vorfeld der amerikanischen Premiere erklärte Attahir zur Entstehung des Stücks: „Die Partitur geht auf den Wunsch zurück, eine musikalische und menschliche Freundschaft zu erweitern. Als Michael Barenboim mir den Vorschlag machte, etwas für eine Gruppe
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Jawb J’ai traversé des paysages comme on traverse une frontière un océan fer et cendres
Ich habe Länder durchquert wie man eine Grenze überquert ein Ozean aus Eisen und Asche
Embrasé
Glühend
Jamais se retourner
Niemals zurückkehren
Je m’étais dit jamais plus se retourner sur ces paysages que mes yeux
Ich habe mir gesagt niemals zurückkehren in diese Lande, die meine Augen
Embrassaient
Küssten
Liaient, reliaient, relisaient sans jamais leur donner sens
Banden, verbanden, nochmal lasen ohne ihnen jemals Sinn zu geben
S’avancer
Vorwärt gehen
Simplement dans l’épaisseur du noir Jamais le même noir je me suis dit je reconnais ce noir et mes yeux me disaient le contraire
Einfach ins Dickicht der Dunkelheit Nie dieselbe Dunkelheit habe ich mir gesagt ich erkenne diese Dunkelheit wieder und meine Augen sagten mir das Gegenteil
Oublie
Vergessen
Maintenant j’ai tout oublié les attaches, le port, la barque il ne reste plus que nous nous que cette mer toujours sépare.
Jetzt habe ich alles vergessen die Verbindungen, den Hafen, das Boot nur wir bleiben noch wir, die dieses Meer immer trennt.
Benjamin Attahir
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von Musikerinnen und Musikern des West-Eastern Divan Orchestra zu schreiben, rief das sofort das Echo einer Fülle von Dingen hervor, die mir am Herzen liegen. Dazu gehörte auch die Vorstellung, die Position der ersten Violine, die Michael ja bereits mit dem Orchester verkörpert, in der inneren Organisation des Werkes fundamental zu reflektieren.“ Die besondere Form von Jawb beschrieb er so: „Anders, als es sonst in meinen Werken üblich ist, nimmt dieses Stück keine Zuflucht zu formalen Strukturen. Mir stellte sich hier die Aufgabe, einen langen musikalischen Durchgang zu schaffen, der auf beschränktem Material aufbaut, das sich immer wieder in unterschiedlichen Aspekten zeigt. So bewegt sich die Musik von einem Ort zum anderen voran, ohne die Möglichkeit der Rückkehr, und es sind Orte, die auf geheimnisvolle Weise verbunden sind durch ihr inneres Wesen.“ Einige dieser Gedanken und Assoziationen fasste Attahir in einem Gedicht zusammen, das er der Partitur voranstellte.
Pierre Boulez’ Anthèmes zählt zu jenen seiner Werke, die in mehreren Varianten existieren. 1991 veröffentlichte er unter diesem Titel zunächst ein Stück für Violine solo. Vier Jahre später nahm er die Arbeit an der Komposition wieder auf, und es entstand Anthèmes 2 für Violine und Live-Elektronik. Der Gedankengang des ursprüng lichen Werks wird durch die Live-Elektronik in eine räumliche Dimension hinein aufgefächert und das natürliche Klangspektrum des Instruments erweitert – die Violine wird so zu einem Meta- Instrument, das Klangveränderungen, harmonische Ausweitungen und die Vervielfältigung der Klänge in Raum und Zeit ermöglicht. Im Aufbau orientiert sich das Stück mit Elektronik unmittelbar an der ersten Version, doch die räumliche Dimension der Gestalten, die höhere Dichte im Inneren, erzeugt auch eine Verlängerung der äußeren Proportionen: Anthèmes 2 ist mit etwa 19 Minuten Spiel dauer mehr als doppelt so lang wie sein Vorgänger. Aus dem Monolog ist eine Art Dialog mit sich selbst geworden, ein Gespräch mit dem eigenen (Klang-)Schatten, wie es Boulez schon 1985 in Dialogue de l’ombre double für Klarinette und Tonband entworfen hatte. Der Titel des Stückes ist ein Wortspiel aus dem englischen „anthem“ (Antiphon) und dem französischen „en thèmes“. Als Antiphone werden in der liturgischen Musik die Kehrverse bestimmter Wechselgesänge bezeichnet. Ihre gliedernde Funktion übernehmen bei Boulez kurze variierte Zwischenspiele, die dadurch
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deutlich erkennbar sind, dass sie nur aus gehaltenen Flageolett klängen bestehen, denen in den mittleren Refrains noch Glissandi angehängt werden. Der Ausdruck „en thèmes“ (in Themen, auf thematische Weise) verweist auf zweierlei: zum einen auf die Dichte der thematisch-motivischen Arbeit, in der durch die Verarbeitung kleiner Zellen die einzelnen Abschnitte geradezu klassisch kohärent erscheinen. Zum anderen sind die Abschnitte selbst durch klare, sozusagen thematische Kontraste einander gegenübergestellt. Durch die Refrains werden insgesamt sechs Abschnitte wie Strophen voneinander getrennt. Sie folgen sowohl dem Prinzip des Kontrasts (am deutlichsten wird dies durch den Wechsel zum pizzicato im zweiten Abschnitt) als auch dem der Weiterverarbeitung des Vorausgegangenen. Während die ersten fünf Abschnitte von relativ kurzer Dauer sind, hat der letzte annähernd denselben Umfang wie die vorausgegangenen zusammen. Hier treten unterschiedliche Charaktere unmittelbar einander gegenüber, nicht mehr getrennt durch Zwischenspiele – das theatralische Moment, das diese Musik auch besitzt, gewinnt die Oberhand. Den Abschluss bildet ein Epilog in fließend gleichförmiger Bewegung. Die elektronischen Mittel, die Boulez einsetzt, wirken auf drei Ebenen. Der Klang wird durch vier Harmonizer und zwei Ring modulatoren mit Filtern harmonisch verbreitert. Zwei Sampler gruppieren die in Echtzeit aufgenommenen Violinklänge um, transformieren sie in andere Farben und entwerfen komplexe Texturen der raum-zeitlichen Vervielfältigung. Die hierbei entstehenden Gebilde folgen Zufallsprozessen, so dass jede Aufführung individuell unterschiedlich ist. Ein System zur Verräumlichung verteilt die entstehenden Klänge über sechs Lautsprecher in einer Weise, bei der für die Hörenden eine größere Zahl von imaginären Raumpunkten entsteht. Besonders spannend sind dabei die Übergänge zwischen Phasen der deutlich wahrnehmbaren Gegenüberstellung des direkten Geigenklangs und seiner Spiegelungen zu jenen Augenblicken, in denen sich das reale Instrument kaum mehr unterscheidbar in den multiplen Gestalten der von ihm ausgelösten Klangschatten verliert, sich in ein neuartiges und körperloses Instrument transformiert.
Wie Schuberts Rondo ist Felix Mendelssohns Oktett ein J ugendwerk: Der Komponist war zum Zeitpunkt der Entstehung 16 Jahre alt. Im Gegensatz zu Schubert musste Mendelssohn sich mit
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seinen ersten Werken allerdings nicht aus einer anderen, als unan gemessen empfundenen Existenz herausarbeiten, vielmehr erfuhr er von Anfang an bei allen musikalischen Versuchen Förderung und Resonanz. Bereits der Zwölfjährige konnte durch Vermittlung seines Lehrers Carl Friedrich Zelter die Bekanntschaft Goethes machen, und in seinem weltoffenen, begüterten Berliner Elternhaus verkehrten nicht nur ebenso einflussreiche wie inspirierende Persönlich keiten, sondern es herrschte auch eine intensive Musikpflege, bei der der junge Felix vor allem von seiner ebenso begabten älteren Schwester Fanny angespornt wurde. Die großen Ereignisse des Jahres 1825 waren für Felix seine Reise nach Paris, wo er sich zahlreichen Künstlern vorstellen konnte, und der Umzug der Familie in ein großzügiges Stadtpalais in der Leipziger Straße. Das neue Haus verfügte über einen geräumigen Gartensaal, wo von nun an die musikalischen Zusammenkünfte stattfanden, bei denen nicht nur Kammermusik, sondern auch Orchesterstücke gespielt wurden. Hier fand wahrscheinlich auch die erste Aufführung des Oktetts statt, das Mendelssohn als Geburtstagsgeschenk für seinen Geigenlehrer gedacht hatte. Das Werk hat keine gattungsgeschichtlichen Vorbilder – der junge Komponist verschmilzt hier ganz aus seiner eigenen Phantasie heraus symphonisches, kammermusikalisches und (vor allem im ersten Satz) konzertantes Denken. Vor dem Hintergrund dieser Neuartigkeit ist auch die Ausdrucksweise zu verstehen, die der zunächst wohl skeptische Zelter für sein trockenes Lob wählte, als er seinem Freund Goethe im November 1825 berichtete: „Mein Felix fährt fort und ist fleißig. Er hat soeben wieder ein Oktett für acht obligate Instrumente vollendet, das Hand und Fuß hat.“ Das überwältigende Glücksgefühl, das dieses Werk auch heute beim Spielen wie beim Hören auslösen kann, hängt wohl mit der Unbefangenheit zusammen, dem ebenso schwungvollen wie geistreichen Zugriff, der die unterschiedlichen Welten verbindet, aus denen sich die Inspiration des 16-Jährigen speist. Im ersten Satz ist es vor allem der berauschende Klang der Streichinstrumente selbst, der die seelenvollen Themen trägt, die feurige Emphase der ersten Violinstimme und das hymnische Auskosten harmonisch- melodischer Schlusswendungen. Zu diesen kehrt das gesamte Stück am Ende noch einmal zurück. Vor dieser Reminiszenz lässt Mendelssohn im Schlusssatz nicht ohne Ironie seine eigenen Fugenstudien noch einmal aufleben und steigert sie zu einer enthusiastischen Zusammenschau der Musikgeschichte bis in seine unmittelbare
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egenwart hinein. Über der Fuge, die in grummelnder Tiefe beG ginnt, erhebt sich wie ein Cantus firmus zunächst in der ersten Violine ein Zitat aus Händels Messias, das bald darauf von einem nur kurz auftretenden, fast gassenhauerartigen Gedanken abgelöst wird. Im weiteren Verlauf des Satzes wird auch das Scherzo noch einmal notengetreu aufgenommen. Es tritt bald mit der Fuge und dem Messias-Thema in einen Wettstreit, wobei sich die charakteristische Quart-Quint-Motivik des Händel-Zitats immer mehr durchsetzt. Die größte Beachtung unter den vier Sätzen hat von jeher das Scherzo gefunden, das jenen Typ des huschenden Elfentanzes schon vollkommen ausbildet, der wenig später in der Sommernachtstraum- Musik wieder erscheinen wird. Auf diesen Hintergrund und die Walpurgisnacht-Szene in Goethes Faust verweist schon die lebendige Beschreibung des Satzes durch Fanny Mendelssohn: „Das ganze Stück wird staccato und pianissimo vorgetragen, die einzelnen Tremulando-Schauer, die leicht aufblitzenden Pralltriller, alles ist neu, fremd und doch so ansprechend, so befreundet, man fühlt sich so nahe der Geisterwelt, so leicht in die Lüfte gehoben, ja man möchte selbst einen Besenstiel zur Hand nehmen, der luftigen Schar besser zu folgen. Am Schlusse flattert die erste Geige federleicht auf – und alles ist zerstoben.“ Als Felix Mendelssohn 1832 wieder einmal Paris besuchte, wurde dort sein zwischen walpurgisnächtlicher Ausschweifung und messianischer Verkündigung schillerndes Oktett im Rahmen einer Gedenkfeier zu Beethovens fünftem Todestag aufgeführt – in einer Kirche, was der Komponist in einem Brief an seine Familie belustigt an kündigte: „Dies ist das Dümmste, was die Welt gesehn hat, aber es war nicht abzuschlagen, und ich freue mich einigermaßen, es zu erleben, dass während des Scherzos eine stille Messe gelesen werden soll.“ Einige Tage später blickt er auf die Aufführung zurück: „Mein Oktett am Montag in der Kirche hat aber an Absurdität alles übertroffen, was die Welt bis jetzt gesehn und gehört hat. Wie die Priester während des Scherzo am Altar fungierten, da klang es wirklich ganz wie Fliegenschnauz und Mückennas’, verfluchte Dilettanten, die Leute fanden es aber, wer weiß wie kirchlich, und sehr schön.“
Martin Wilkening, geboren 1959 in Hannover, lebt seit 1977 in Berlin, unterbrochen von mehrjährigen Aufenthalten in Korea und Albanien. Er studierte Musik und Literatur wissenschaft und arbeitet seit 1981 als Autor, Musikkritiker, Dozent, Lektor und Verleger.
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Vive la différence Schubert—Attahir—Boulez—Mendelssohn
Har r y Haskell
Linked in ways both subtle and salient over a span of two c enturies, the four works on tonight’s program have more in common than meets the ear. Each invites us to consider the essential contrasts—of musical material, instrumentation, form, genre, and so forth—that give variety and meaning to the listening experience. Where, for instance, does one draw the line between chamber music and orchestral music? Is it simply down to the size of the ensemble, or is some music intrinsically one kind or the other? How we answer that question will influence not only what we hear in the distantly related string octets by Mendelssohn and Benjamin Attahir, but how we hear them. What effect does the use of live electronics, as in Pierre Boulez’s Anthèmes 2, have on the act of making music, for both audience and performers? And what about the impact of musical form, the idiosyncratic path a particular piece of music traces through time and space? Some works (like the Mendelssohn) unfold more or less linearly, some in a cyclical fashion (like Schubert’s Rondo), and some in a more organic, evolutionary process (like the two contemporary works in the middle of the program). For Boulez, no less than for his 19th-century forebears, such carefully calibrated “differentiations” of structure, sonority, and character were the lifeblood of music.
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A Family Affair The bravura Rondo in A Major was one of several major pieces that Schubert wrote in 1816 for his violinist brother Ferdinand, including three duos “for piano with violin accompaniment” (numbers 384, 385, and 408 in the Deutsch catalogue) and the Concerto in D major D 345. Although the duos were posthumously published in 1836, the Rondo and Concerto did not appear in print until the Schubert centenary year of 1897. In each of these works, one senses the young but preternaturally mature composer flexing his creative muscles, deftly combining lyricism and drama with an economy of means that he had developed in Erlkönig and other early art songs. The Rondo is cast in a conventional two-part format, with an introductory Adagio followed by a sparkling Allegro giusto in rondo form, in which a recurring theme alternates with episodes of contrasting characters. The entire work is suffused with what Schubert, in a diary entry written around the same time, called “the magical strains of Mozart’s music.” Indeed, echoes of Mozart’s Eine kleine Nachtmusik can be heard in the opening section, in which the string ensemble’s buoyantly rising octave figures are taken up, expanded, and brilliantly elaborated by the solo violin. The jaunty Allegro features not one but three recurring rondo themes. Their dance-like simplicity offsets the soloist’s virtuosic passagework and freely improvisatory cadenzas. Master and Pupil Commissioned by the Daniel Barenboim Foundation and p remiered last year in Chicago, just before the pandemic shuttered global concert halls, Benjamin Attahir’s Jawb was conceived as a companion piece to Mendelssohn’s Opus 20. “The string octet is a very special object,” says the 32-year-old French composer. “Indeed, it can be interpreted in two ways; as a small string orchestra or as a double quartet with a more ‘soloistic’ essence. I began with the second idea, except that I placed the first violin at the front of the stage, like a character who in turn leads and comments on the action.” The dramatic metaphor is underscored by a poem that Attahir— who is also a concert violinist—wrote to supplement the score. In it he tells of having “crossed lands / like one crosses a border … / never again to go back.” Attahir explains that “this piece, unlike my
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usual creations, does not resort to formal structures. It is a question here of creating a long musical crossing based on restricted material always presenting itself under a different aspect. Thus, the music advances from one place to another, without the possibility of returning, places secretly linked by their essence.” This one-way journey into “the thickness of dark” is reassuringly signposted with traditional bar lines, time signatures, and expressive markings, yet the music continually threatens to run off the rails. Short, sharply etched rhythmic and melodic cells ricochet from one voice to another in shifting ensemble permutations, with the concertante-style first violin alternately blazing a path for the other instruments and asserting its independence. Supple, soaring melodies consort with tense, febrile stammerings. Jawb culminates in a jittery section in fugato style marked “selvaggio” (wild). The music surges to a furious climax before being cut short by a sonic thunderclap that foreshadows the equally abrupt ending of the next piece on the program, by Attahir’s teacher. If Jawb is generically related to Mendelssohn’s Octet, Boulez’s Anthèmes 2 is cut from the same virtuosic cloth as Schubert’s Rondo. The protean metamorphic processes at work in much of Boulez’s music evoke Arnold Schoenberg’s concept of “developing variation”: both are predicated on the idea of continuous transformation in lieu of traditional thematic development. The provenance of Anthèmes 2, which dates to 1997, epitomizes Boulez’s approach to composition as an organic process in which germinal ideas are harvested from other works and allowed to proliferate. The original incarnation of the piece, a short violin solo titled Anthèmes 1 (premiered in 1991, with the numeral added to the title later), was itself derived from Boulez’s …explosante-fixe…. In adapting and expanding the solo as an electro-acoustic work, the composer sought to differentiate its constituent musical elements, or “families,” more clearly. To that end, the violin is equipped with a contact microphone used both for amplification and for real-time sound processing via a computer. A technical manual supplied with the score explains that as the piece advances section by section, it is “progressively re-written to varying degrees in order to take advantage of the new musical possibilities offered by the inclusion of electronics.” Both the amplified and the live-processed sound are projected into the concert hall, creating “a virtual sound space surrounding the audience.” (The score contains detailed instructions for positioning the soloist and the multiple sources of “spatialized,” electronically generated sound.) Although Anthèmes 2 is notated with Boulez’s customary lucidity
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Jawb J’ai traversé des paysages comme on traverse une frontière un océan fer et cendres
I have crossed lands like one crosses a border an ocean of iron and ashes
Embrasé
Burning
Jamais se retourner
Never to go back
Je m’étais dit jamais plus se retourner sur ces paysages que mes yeux
I had told myself never again to go back to these lands that my eyes
Embrassaient
Beheld
Liaient, reliaient, relisaient sans jamais leur donner sens
Linked, connected reread without ever giving them meaning
S’avancer
Stepping forward
Simplement dans l’épaisseur du noir Jamais le même noir je me suis dit je reconnais ce noir et mes yeux me disaient le contraire
Simply in the thickness of dark Never the same dark I said to myself I recognize this darkness but my eyes told me the opposite
Oublie
Forget it
Maintenant j’ai tout oublié les attaches, le port, la barque il ne reste plus que nous nous que cette mer toujours sépare.
Now I’ve forgotten everything the ties, the port, the boat there’s nothing left but us us whom this sea always separates.
—Benjamin Attahir
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and precision, the violinist is frequently instructed to play “freely” or “with a great deal of flexibility.” In the first half of the 20-minutelong piece, the sections are set off by brief transitional passages featuring ghostly harmonics and slow, slithering glissandi; in the second half, the differentiation among various musical families is effected through changes in tempo, character, timbre, articulation, and dynamics. Throughout the work, Boulez strikes a well-judged balance between regular and irregular motion, brusqueness and calm. Anthèmes 2 closes with a short, sharp shock: a dissonant double-stop played, or rather struck, with the wood of the bow, in “a deliberate but not ostentatious gesture.” An Octet “in Symphonic Style” Mendelssohn was all of 16 years old in 1825 when he wrote his masterful String Octet in E-flat major, probably for one of the regular Sunday musicales held at the family home in Berlin. That spring Felix’s father had presented him to Luigi Cherubini, the influential director of the Paris Conservatoire. Although Cherubini duly recommended that the boy stay in Paris to complete his musical education, he must have realized that the budding composer’s genius was already fully formed. Instead Felix returned to Germany and resumed his studies at the University of Berlin, attending Hegel’s lectures in philosophy and completing his thesis, a translation of a Latin comedy by the Roman playwright Terence. Somehow he also found time to compose the Octet by mid-October. The work was instantly recognized as a worthy successor to Beethoven’s Septet of 1799 and Schubert’s Octet of 1824, both scored for mixed ensembles of strings and winds. It soon eclipsed the popular double string quartets of Louis Spohr, then one of the most celebrated composers in Europe. Unlike Spohr, Mendelssohn abandoned the conventions of quartet writing and deployed the eight instruments in a dazzling variety of combinations, using techniques that he had honed in his early string symphonies. In addition to being a virtuoso pianist, Mendelssohn was an excellent string player and frequently took part in performances of the Octet as a violist. The brilliance of the first violin part reflects a debt to his violin teacher, Eduard Rietz, to whom the score is dedicated. In keeping with Mendelssohn’s instructions that “this Octet must be played by all the instruments in symphonic orchestral style,” the opening Allegro combines full-bodied sonorities with the
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t ransparency of chamber music. Among this spacious movement’s most striking qualities is its concentrated economy of expression. Mendelssohn cuts straight to the chase, allowing the surging waves of the main theme to sweep over the listener before releasing their latent energy and drama. The Andante flirts with tragedy but, as often with Mendelssohn, never quite crosses the line. Twice its dark-hued lyricism is magically illuminated by shafts of radiance in the form of pearly cascades of notes highlighted against a softly pulsing background. In marking the Scherzo to be played “as lightly as possible,” Mendelssohn anticipated his diaphanous Midsummer Night’s Dream overture of 1826. According to his sister Fanny, the movement was inspired by the Walpurgis Night scene in Part 2 of Goethe’s Faust. “One feels,” she wrote, “so near the world of spirits, carried away in the air, half inclined to snatch up a broomstick and follow the aerial progression. At the end the first violin takes flight with a feathery lightness—and all has vanished.” (The ethereal delicacy is only slightly diminished in the orchestral arrangement of the Scherzo that Mendelssohn made by popular demand.) Witches’ revels give way to sheer bravura in the madcap Presto, a propulsive fugato featuring a broadly striding theme based, somewhat incongruously, on a well-known phrase (“And He shall reign”) from Handel’s “Hallelujah” chorus.
A former performing arts editor for Yale University Press, Harry Haskell is a program annotator for Carnegie Hall in New York, the Edinburgh Festival, and other venues, and the author of several books, including The Early Music Revival: A History, winner of the 2014 Prix des Muses awarded by the Fondation Singer-Polignac.
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