A Charles Lloyd Celebration Einführungstext von / Program Note by Stuart Nicholson
A CHARLES LLOYD CELEBRATION Samstag 4.
Dezember 2021 19.00 Uhr
LOVE LONGING LOSS
At Home with Charles Lloyd During a Year of the Plague Ein Film von Dorothy Darr (2021) In englischer Sprache mit deutschen Untertiteln Im Anschluss Publikumsgespräch mit Charles Lloyd & Dorothy Darr Moderation: Ole Bækhøj
Sonntag 5.
Dezember 2021 19.30 Uhr
CHARLES LLOYD, ZAKIR HUSSAIN & MARVIN SEWELL A Meeting along the River Charles Lloyd Saxophon Zakir Hussain Tabla Marvin Sewell Gitarre
Dienstag 7.
Dezember 2021 19.30 Uhr
CHARLES LLOYD, BILL FRISELL & THOMAS MORGAN Chapel Trio Charles Lloyd Saxophon Bill Frisell Gitarre Thomas Morgan Bass
Die Konzerte finden ohne Pause statt. Das musikalische Programm wird von den Künstlern angesagt.
3
Der Kommunikator Zu Ehren von Charles Lloyd
Stuart Nicholson
Wie kaum ein anderer Künstler im zeitgenössischen Jazz r eflektiert der Tenorsaxophonist und Flötist Charles Lloyd in seiner Musik die eigene musikalische Vergangenheit. Erlebte Momente seiner erfüllten künstlerischen Karriere führen ein zweites Leben, ein Leben in der Erinnerung, aus der sie auftauchen, um seine Musik im Hier und Jetzt zu inspirieren und zu beeinflussen. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass das Verständnis von Lloyds Vergangen heit dazu beitragen kann, seine gegenwärtige Musik zumindest in Ansätzen besser zu begreifen. Angesichts seiner konsequenten Orientierung an der Gegenwart mag dies wie ein Widerspruch er scheinen, doch Lloyds Improvisationen kommen aus seinem tiefsten Inneren, aus einer Erfahrungsweisheit, die seine Kreativität prägt und inspiriert. Wie die Scheherazade der nahöstlichen Dichtung ist Lloyd der ewige Geschichtenerzähler, der aus einer nie versiegenden Quelle der Inspiration zu schöpfen scheint. Seine Geschichten können bezaubern und betören und sind gleichzeitig von tiefem Sinn und großen Gefühlen durchdrungen. Wenn man jedoch ein wenig genauer hinsieht, stellt man fest, dass sein musikalisches Erzählen vom Blues geformt und beseelt ist. 1938 in Memphis, Tennessee, geboren, stammt Lloyd aus dem Kernland des Blues und stand in
5
seinen prägenden Jahren unter dem Einfluss der Bands von Blues meistern wie Howlin’ Wolf, B. B. King und Bobby „Blue“ Bland. „Der Blues geht mir nicht aus dem Sinn, weil er zu meiner Ver gangenheit gehört“, sagt Lloyd. „Es war schon ein Erlebnis, mit diesen Jungs zu spielen, mit Howlin’ Wolf zum Beispiel – niemand hat je ein Gebäude so zum Beben gebracht wie er … Und ich war gerade mal ein Teenager, da sagte mir Bobby ‚Blue‘ Bland, ich spielte seinen Song Peaches besser als jeder andere, der ihn jemals gespielt hätte.“ Die wichtigste Lektion, die Lloyd von diesen Musikern gelernt und nie vergessen hat, ist, welche Bedeutung die Kommunikation mit dem Publikum hat. „Als ich mit ihnen zusammen auftrat, staunte ich, wie sie die Wände wackeln ließen. Sie waren Kommuni kationskünstler. Diese Art und Weise, das Publikum zu bewegen, hat wiederum mich sehr bewegt. Viele können gut spielen, aber ihre Musik findet nur auf der Bühne statt, während diese Jungs jedes Mal noch die hinterste Ecke des Saals erreichten. Das ging mir unter die Haut und faszinierte mich, und irgendwie wurde ich davon angesteckt – ich verstand, dass es wichtig ist zu kommunizieren, wenn man das Glück hat, etwas zu sagen zu haben.“ Lloyds Fähigkeit, sein Publikum durch die magische Kraft der Improvisation zu berühren, zieht sich wie ein roter Faden durch seine gesamte Karriere – von der frühen Arbeit mit Chico Hamilton und Cannonball Adderley bis in die 1960er Jahre zu seinem ersten großartigen Quartett mit Keith Jarrett und Jack DeJohnette, das 1966 Forest Flower: Charles Lloyd at Monterey aufnahm, einen der ersten Millionen-Seller im Jazz. Doch auf dem Höhepunkt seiner Popularität zog Lloyd sich für eine Weile aus dem Geschäft zurück. Seine Rückkehr zum Jazz in den 1980er Jahren stand dann im Zeichen der Quartettauftritte mit dem Pianisten Michel Petrucciani, denen eine Reihe ebenso denkwürdiger Quartettprojekte mit Bobo Stenson, Brad Mehldau, Geri Allen und Jason Moran folgte. Dazu kamen Duette mit dem Schlagzeuger Billy Higgins, die Zusam menarbeit mit der griechischen Sängerin Maria Farantouri und seine jüngste Gruppe, The Marvels. „Wissen Sie“, erklärt Lloyd, „man bringt großartige Musiker zusammen, und wenn die Chemie und die Einstellung stimmt, wenn die Hingabe an die Musik da ist, kann eine große Magie entstehen.“ Diese Magie hat sich in Charles Lloyds Karriere immer wieder eingestellt. Ein Grund dafür ist seine Bereitschaft zu experimentieren und sich selbst in herausfordernde musikalische Situationen zu
b egeben, die ihn ganz offensichtlich dazu inspirieren, eine höhere Ebene des kreativen Musizierens zu erreichen. In den letzten 20 Jahren, in einem Alter, in dem die meisten Jazzmusiker ihr Arbeits pensum reduzieren, hat er sich selbst mit einer zunehmenden Band breite musikalischer Konstellationen immer neu gefordert. Diese beiden Auftritte im Pierre Boulez Saal mit zwei Trios, deren musi kalische Charakteristiken, Ambitionen und Perspektiven vollkommen unterschiedlich sind, veranschaulichen das auf ideale Weise. Im ersten Ensemble mit dem Tabla-Virtuosen Zakir Hussain und dem Gitarristen Marvin Sewell stehen die Möglichkeiten der Ver bindung von klassischer indischer Musik und Jazzimprovisation im Mittelpunkt – ein Interesse, das Lloyd schon lange verfolgt und das bis in seine Studienzeit an der University of Southern California zurückreicht. Begonnen hat das Trio im Jahr 2001 zunächst als Duo, nachdem Lloyd zu einem Auftritt in der Grace Cathedral in San Francisco eingeladen worden war. „Sie wünschten sich ein Duo und beauftragten mich, für diesen Anlass ein neues Stück zu schreiben. Ich hatte Zakir im Jahr zuvor kennengelernt – wir hatten einen guten Draht zueinander, und ich wusste, dass es musikalisch eine ganz besondere Begegnung werden könnte. Also hielt ich immer nach Gelegenheiten zur Zusammenarbeit Ausschau. Marvin kommt aus Chicago und dem Delta, er ist sehr gefühlvoll und wandlungsfähig, und er hat eine große Affinität zur Musik Indiens.“ Das zweite Konzert markiert das Europa-Debüt des Chapel Trio, mit Bill Frisell an der Gitarre und Thomas Morgan am Bass. Es ist erst das zweite Mal, dass die drei zusammen auftreten. „Ich wurde gebeten, ein besonderes Konzert in San Antonio zu geben, in der Coates Chapel“, erinnert sich Lloyd. „Ich kannte den Raum, und mir war klar, dass die Akustik für ein Schlagzeug nicht geeignet war. Ich wusste auch, dass Bill engen Kontakt zu Thomas hat, also schlug ich vor, ihn dazu zu holen.“ Vor fünf Jahren veröffentlichte die Zeitschrift The Atlantic einen Artikel mit dem Titel The Re-Flowering: Charles Lloyd’s Second Golden Age („Die neue Blüte: Charles Lloyds zweites goldenes Zeit alter“), in dem es hieß, der Saxophonist produziere gegenwärtig „die beste Musik seiner Karriere“. Das tut er immer noch und sagt schmunzelnd: „Ich verstehe mich nicht als ‚alten Mann‘“. Was für ihn zählt, ist die Musik. Bei Charles Lloyd geht es immer um die Musik. Übersetzung: Sylvia Zirden
7
Prof. Stuart Nicholson hat acht Bücher über Jazz geschrieben, die in 13 Sprachen übersetzt wurden. Mehrere davon wurden zu Bestsellern und von der New York Times Review of Books als „Notable Book of the Year“ ausgezeichnet. Er ist der einzige Jazzkritiker außerhalb der USA, dessen Biographie im Grove Dictionary of American Music verzeichnet ist.
8
The Communicator Celebrating Charles Lloyd
Stuart Nicholson
Perhaps more than with any other artist in jazz today, the music of tenor saxophonist and flutist Charles Lloyd reflects and refracts his musical past. Lived moments experienced during an artistically fulfilling career have gone on to enjoy a second life, a life in the memory, from where they resurface to inspire and inform his music in the here and now. It is no exaggeration to say that understanding Lloyd’s past can help us gain purchase, however slight, on his music in the present. Given his resolutely contemporary outlook, this may seem something of a contradiction, yet his improvisations come from a place deep within where wisdom born of experience shapes and inspires his creativity. Just like Scheherazade in Middle Eastern poetry, Lloyd is the eternal storyteller, weaving tales that seem to flow from a limitless well of inspiration. While they can charm and beguile, they also vibrate with meaning and deeply felt emotion. But probe a little deeper and you will find the blues shaping and informing his musical narrative. Born in Memphis, Tennessee, in 1938, he comes from the heartland of the blues, and his formative years were shaped by the bands of the great blues masters such as Howlin’ Wolf, B. B. King and Bobby “Blue” Bland. “The blues comes and haunts me because it’s part of my background,” Lloyd told me. “It was quite something playing with those guys, Howlin’ Wolf—I mean, no one
11
ever shook a building like he did… And I’m a kid in my teens and Bobby ‘Blue’ Bland told me I played his song Peaches better than anyone who ever played it.” The most important lesson Lloyd took from these musicians was the importance of communicating with the audience, something he has never forgotten. “I had this experience when I played with them, marveling at how they could take the rafters off a building. They were communicators. I was very moved at how they could move an audience. A lot of guys can play, but their music doesn’t leave the bandstand, whereas these guys reached the back of the hall all the time. That was mesmerizing and very touching for me, and somehow I got infected by it—I knew it was important to communi cate when you’re blessed to have something to say.” Lloyd’s ability to touch an audience through the magic of impro visation has been a leitmotif that flows through his whole career— from his early work with Chico Hamilton and Cannonball Adderley to his first great quartet with Keith Jarrett and Jack DeJohnette in the 1960s that recorded Forest Flower: Charles Lloyd at Monterey in 1966, one of the first million-sellers in jazz. But at the peak of his popularity, he took a career break. His return to jazz in the 1980s was marked by his quartet performances with pianist Michel Petrucciani, followed by a series of equally memorable quartet collaborations with pianists Bobo Stenson, Brad Mehldau, Geri Allen, and Jason Moran, interspersed with duets with drummer Billy Higgins, a collaboration with Greek singer Maria Farantouri, and his latest group, The Marvels. “You know,” Lloyd said, “you can have great musicians get together and if the chemistry is right, if the inclination and the dedication to the music is right, great magic can happen.” Great magic has had a habit of recurring throughout Charles Lloyd’s career. Part of the reason is his willingness to experiment and place himself in challenging musical situations that in turn seem to inspire him to reach a higher plain of creative music making. In fact, during the last 20 years, a time when most jazz musicians of his age look to reduce their work schedule, he has continued to challenge himself with an ever-increasing variety of musical combi nations. These performances at the Pierre Boulez Saal perfectly illustrate the point: with two concerts and two trios whose musical personality, ambition, and outlook are entirely different. The first group, with tabla virtuoso Zakir Hussain and guitarist Marvin Sewell, explores ways of integrating classical Indian music
12
with jazz improvisation—a long-standing interest of Lloyd’s that dates back to his college days at the University of Southern California. In fact, the trio began life as a duo in 2001, when Lloyd was invited to perform at Grace Cathedral in San Francisco. “They wanted a duo and had commissioned me to write a new piece for the occasion. I had met Zakir the previous year—we felt a connection and I knew that there could be a very special meeting in the music, so I kept looking for other opportunities for us to get together. Marvin comes out of Chicago and the Delta, he’s very soulful and versatile, with a great affinity for the music of India.” The second concert marks the European debut of the Chapel Trio, with Bill Frisell on guitar and Thomas Morgan on bass. It will be only the second time the three have performed together. “I was asked to present a special concert in San Antonio, and the venue was the Coates Chapel,” Lloyd says. “I knew the place and that the acoustics would not be receptive to having percussion. I also knew that Bill has a close relationship with Thomas, so I suggested we invite him to join us.” Five years ago, The Atlantic published an article entitled The Re-Flowering: Charles Lloyd’s Second Golden Age, which noted that the saxophonist was “now producing the best music of his career.” He still is, and, as he mischievously puts it, “I don’t relate to being an ‘old guy.’” What matters to him is the music. With Charles Lloyd, it is always about the music.
Professor Stuart Nicholson has written eight books on jazz that have been translated into 13 languages. Several of them have become bestsellers and received Notable Book of the Year Awards from the New York Times Review of Books. He is the only jazz commentator outside the United States whose biography appears in The Grove Dictionary of American Music.
13