12./13. April 2022
DAS KONZERT IM EXPERIMENT Yubal Ensemble Ensemble Epitaph
Pierre Boulez Saal Saison 2021/22
DAS KONZERT IM EXPERIMENT
Dienstag
12. April 2022 19.30 Uhr
YUBAL ENSEMBLE Charlotte Chahuneau Violine Larissa Cidlinsky Violine Friedemann Slenczka Viola Karolina Errera Viola Raphaela Paetsch Violoncello
Mittwoch
13. April 2022 19.30 Uhr
ENSEMBLE EPITAPH Baiba Skride Violine Gergana Gergova Violine Micha Afkham Viola Amihai Grosz Viola Alban Gerhardt Violoncello
Ludwig van Beethoven (1770–1827) aus Streichquintett c-moll op. 104 (1817) I. Allegro con brio
Brett Dean (*1961) Epitaphs für Streichquintett (2010) I. Only I will know (…in memory of Dorothy Porter) II. Walk a little way with me (…in memory of Lyndal Holt) III. Der Philosoph (…in memory of Jan Diesselhorst) IV. György meets the “Girl Photographer” (…in memory of Betty Freeman, hommage à György Ligeti) V. Between the spaces in the sky (…in memory of Richard Hickox)
Johannes Brahms (1833–1897) Streichquintett Nr. 2 G-Dur op. 111 (1890) I. II. III. IV.
Allegro non troppo, ma con brio Adagio Un poco allegretto Vivace ma non troppo presto
Eine Veranstaltung des Forschungsprojekts „Experimental Concert Research“ Das Projekt wird maßgeblich gefördert durch die VolkswagenStiftung. Die Konzertreihe wird gefördert durch die Aventis Foundation und mit weiteren Terminen im April und Mai 2022 im Radialsystem fortgesetzt.
Feine Linien und orchestrales Tutti Streichquintette von Beethoven, Brahms und Dean
Die Gattung des Streichquintetts musste seit ihren Anfängen in den 1770er Jahren immer wieder als ein „Anhängsel“ des Streichquartetts herhalten. Als (zweifelhafter) Kronzeuge dafür wurde aus gerechnet Joseph Haydn angeführt, der selbst keine Quintette komponiert hat und auf die Frage nach dem Warum geantwortet haben soll, er habe immer mit „vier Stimmen genug gehabt“ und könne „eine fünfte Stimme nicht finden“. Und noch 1837 beschränkte sich Gustav Schilling in seiner Encyclopädie der gesammten musikalischen Wissenschaften auf eine unfreiwillig komische Kurzdefinition: „Das Quintett unterscheidet sich vom Quartett nur dadurch, daß es ein Tonstück von fünf Stimmen ist, während das Quartett nur vier Stimmen enthält.“ Aha. Die kompositorische Praxis dagegen spricht eine andere Sprache. Viele bedeutende Musiker widmeten sich seit dem späten 18. Jahrhundert dem Streichquintett und erkannten gerade in der Fünfstimmigkeit mit ihren vielfältigen Möglichkeiten der Klangkombination eine besondere Herausforderung. Im Gegensatz zum Quartett ließ sich hier eine satztechnisch reizvolle Aufgliederung der Stimmen in eine hohe und eine tiefe Gruppe vornehmen. Schließlich ergab sich im Tutti – obwohl im Vergleich zum Streichquartett nur ein Instrument ergänzt wurde – ein beinahe kammerorchestraler Klangeindruck. Robert Schumann äußerte sich fasziniert von diesem Effekt: „Man sollte kaum glauben, wie die einzige hinzugekommene Bratsche die Wirkung der Saiteninstrumente, wie sie sich im Quartett äußert, auf einmal verändert; hat man im Quartett vier einzelne Menschen
gehört, so glaubt man jetzt eine Versammlung vor sich zu haben.“ Ludwig van Beethoven hat sich der noch jungen Gattung des Streichquintetts nur am Rande gewidmet. Ein einziges Werk ist von ihm genuin für diese Besetzung geschrieben worden, das Quintett C-Dur op. 29. Gleichwohl existieren noch einige weitere Kompositionen für zwei Violinen, zwei Bratschen und Violoncello, bei denen es sich jedoch um Bearbeitungen anderer Kammermusikwerke h andelt. Zu dieser kleinen Gruppe zählt auch das Quintett c-moll op. 104, das Beethoven 1817 nach dem frühen Klaviertrio op. 1 Nr. 3 arrangiert hat. Aufgewachsen in Bonn, hatte Beethoven am dortigen kurfürst lichen Hof seine musikalische Ausbildung erhalten und bereits eine stattliche Anzahl von Kompositionen verfasst. Auf Betreiben seines Arbeitgebers, des Erzherzogs und Kurfürsten Maximilian Franz, begab er sich dann mit einem großzügigen Stipendium zum weiteren Studium nach Wien. Dort machte sich Beethoven zunächst vor allem als Pianist einen Namen, gleichzeitig bemühte er sich um enge Kontakte in adlige Kreise. Mit der finanziellen Unterstützung eines Mäzens, des Grafen Carl von Lichnowsky, brachte Beethoven dann 1795 seine erste gedruckte Veröffentlichung heraus und entschied sich dabei marktstrategisch für die Gattung des Klaviertrios, die sich besonderer Popularität erfreute. Die Sammlung mit drei Kom positionen wurde rasch zu einem großen Erfolg und brachte dem jungen Komponisten einen Reingewinn von 700 Gulden ein. Beliebt waren Beethovens Erstlingswerke auch noch ein Vierteljahrhundert später, insbesondere das c-moll-Trio. So kam ein junger Komponist namens Kaufmann zu dem inzwischen europaweit be kannten Beethoven und präsentierte ihm eine Streichquintett-Fassung des Trios. Der Meister war jedoch gänzlich unzufrieden mit dem Arrangement und entschloss sich deshalb, selbst Hand anzulegen – auf diese Weise entstand das Streichquintett c-moll op. 104. In für ihn typischer Diktion notierte Beethoven in der Partitur: „Bearbeitetes terzett zu einem 3 stimmigen quintett vom Hr: Gutwillen u. Aus dem schein von 5 stimmen zu wirklichen 5 Stimmen an Tags licht gebracht, wie auch aus größter Miserabilität zu einigem Ansehn erhoben von Hr: Wohlwollen 1817 am 14ten August. Nb: die ursprüngliche 3 stimmige quintett partitur ist den Untergöttern als ein feierliches Brandopfer dargebracht worden.“
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Ein Australier in Berlin – das war über viele Jahre der Bratschist und Komponist Brett Dean. Geboren in Brisbane, studierte er zunächst Viola am Queensland Conservatorium seiner Heimatstadt und machte mit verschiedenen Wettbewerbserfolgen in Australien als außergewöhnlicher Instrumentalist auf sich aufmerksam. 1984 kam er nach Berlin, um seine Ausbildung bei Wolfram Christ – dem Solobratschisten der Berliner Philharmoniker – zu komplettieren. Ein Jahr später bewarb er sich dann selbst auf eine vakante Viola-Stelle im Orchester und erhielt auf Anhieb den Zuschlag. Fünfzehn Jahre lang war Brett Dean Mitglied der Philharmoniker; er erlebte hier die ausgehende Ära Herbert von Karajans ebenso mit wie den Neuanfang in den 1990er Jahren unter Claudio Abbado. Neben seiner Orchestertätigkeit trat Dean in Berlin auch häufig als Solist auf und bestritt zahlreiche Ur- und Erstaufführungen. 1999 verließ er die Berliner Philharmoniker und kehrte in seine australische Heimat zurück, wo er bis heute vielfältigen musikalischen Aktivitäten nachgeht. Als künstlerischer Leiter stand er etliche Jahre der Australian National Academy of Music vor, außerdem kuratierte er die Programme für das Sydney Festival und das Melbourne Festival. Eng arbeitet er mit australischen Musikhochschulen und Orchestern zusammen, gleichzeitig ist er aber auch weltweit als Solist und Artist in residence gefragt. Brett Deans Hinwendung zur Komposition begann in seiner frühen Berliner Zeit. Weitgehend autodidaktisch eignete er sich die entsprechenden Fähigkeiten an und legte 1988 seine ersten Werke vor. Zunächst waren es vor allem Arrangements sowie kleinere, von der Idee der Improvisation geprägte Stücke für Rundfunk- und Filmproduktionen. Den internationalen Durchbruch als Komponist brachte 1995 das Klarinettenkonzert Ariel’s Music, das seinem Bruder, dem Klarinettisten Paul Dean, gewidmet ist. Das Werk erhielt eine Auszeichnung vom International Rostrum of Composers der UNESCO und ist seitdem vielfach aufgeführt worden. Aber auch für seine Berliner Orchesterkollegen war Dean kompositorisch aktiv, so schrieb er 1996 Twelve Angry Men für die zwölf Cellisten der Berliner Philharmoniker. In den folgenden Jahren schuf Brett Dean zahlreiche weitere Werke, vorwiegend für Orchester oder instrumentale Kammer besetzung. Zwischen 2004 und 2009 entstand seine erste Oper Bliss, deren Libretto ein Roman von Peter Carey zugrunde liegt. Die Uraufführung erfolgte 2010 an der Oper Sydney, aber auch an der Hamburgischen Staatsoper war das Werk zu erleben. Die Arbeit an Bliss inspirierte Dean zur stärkeren Einbeziehung von Vokalstimmen
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in seine Musik. Anlässlich der 800-Jahr-Feier des Leipziger Thomaner chores etwa komponierte er die Festmusik The Annunciation, die zu Weihnachten 2012 in der Thomaskirche uraufgeführt wurde. Mit Epitaphs wandte sich Dean 2010 der Streichquintett-Besetzung zu. Die fünf Sätze des Werks sind Freunden und Berufskollegen gewidmet, die in den Jahren unmittelbar zuvor verstorben waren. Dean schrieb zu seiner Intention: „Trotz der dunklen Tönung in Gegenstand und Absicht des Werkes ist es beabsichtigt, dass diese Folge von Erinnerungsstücken nicht nur als Ausdruck von Verlust und Besinnung, sondern auch als Feier von individuellen Qualitäten, Charakteristika und Errungenschaften gehört werden soll, von erfüllten ebenso wie von zu früh geendeten Lebensläufen.“ Im Einzelnen gelten die Würdigungen der Epitaphs der australischen Schriftstellerin Dorothy Porter, der Anwältin und Autorin Lyndal Holt, dem Philharmoniker-Cellisten Jan Diesselhorst, dem Komponisten György Ligeti, der amerikanischen Fotografin und Kunstmäzenin Betty Freeman und dem britischen Dirigenten Richard Hickox.
Johannes Brahms entwarf bereits 1862 im Alter von 29 Jahren sein erstes Streichquintett. Als er die fertige Partitur seinen Vertrauten Joseph Joachim und Clara Schumann vorlegte, erntete er harsche Kritik: Der Satz sei stellenweise „ohnmächtig dünn“, dann wieder „ununterbrochene Strecken lang zu dick“, monierte der Geiger Joachim. Brahms arbeitete das Werk daraufhin erst zu einer Sonate für zwei Klaviere und schließlich zum Klavierquintett op. 34 um und vernichtete das Original. Zwanzig Jahre später machte er sich – nun als weithin angesehener Komponist und führender Vertreter der Wiener Musikszene – erneut an die Arbeit und schrieb im Frühjahr 1882 das Streichquintett F-Dur op. 88, das allgemein sehr positiv aufgenommen wurde. Acht Jahre später entstand dann das Streichquintett G-Dur op. 111, das damit bereits zum wertvollen kammermusikalischen Spätwerk des Komponisten zählt. Er verzichtet in diesem Stück generell auf allzu dramatische oder gar tragische Töne, wodurch sich insgesamt ein leichter, serenadenhafter Charakter ergibt. Schon im ersten Satz ist dies deutlich hörbar, wenn nach dem lebhaften ersten Themenkomplex im Seitengedanken eine walzerartige Melodie anklingt. Im weiteren Verlauf des Satzes werden die beiden Themen intensiv verarbeitet, wobei Brahms immer wieder mit dem reizvollen Wechsel
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zwischen orchestral wirkendem Tutti und der Auffächerung in Einzelstimmen spielt. Das Adagio lebt von einer schwelgerischen Melodie, die vor allem von der ersten Viola vorgetragen und in drei größeren Abschnitten variiert wird. An der dritter Stelle fügt Brahms ein ländlerähnliches Allegretto ein, das durch seine Moll-Tonalität zwar melancholisch, aber dennoch gefestigt und lebensbejahend wirkt. Den Abschluss des Werkes bildet dann ein lebhafter Satz, der Merkmale eines ungarischen Csárdás trägt. Als Brahms das G-Dur-Quintett 1890 in Bad Ischl vollendet hatte, wollte er es zunächst als sein letztes Werk betrachten und sich vom Komponieren zurückziehen. „Viel zerrissenes Notenpapier habe ich zum Abschied in die Traun geworfen“, schrieb er aus dem idyllischen Ort. Glücklicherweise verwarf er diesen Plan wenig später und erweiterte sein Œuvre noch um die Klarinettensonaten, die späten Klavierstücke und das Klarinettenquintett. Bernhard Schrammek
Bernhard Schrammek lebt als freiberuflicher Musikwissenschaftler, Autor und Radiomoderator in Berlin.
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