Cantus Cölln Einführungstext von Kerstin Schüssler-Bach Program Note by Harry Haskell
CANTUS CÖLLN Mittwoch
11. Mai 2022 19.30 Uhr
Konrad Junghänel Musikalische Leitung Magdalene Harer, Karin Gyllenhammar Sopran Elisabeth Popien, Alexander Schneider Alt Hans Jörg Mammel, Georg Poplutz Tenor Wolf Matthias Friedrich, Markus Flaig Bass Priska Comploi, Peter Tabori, Olga Johana Marulanda Guzman Oboe Adrian Rovatkay Fagott Ulla Bundies, Anette Sichelschmidt Violine Volker Hagedorn Viola Jarosław Thiel Violoncello Matthias Müller Violone Carsten Lohff Orgel
Johann Sebastian Bach (1685–1750) Singet dem Herrn ein neues Lied Motette für Doppelchor BWV 225 (1726–27) Lobet den Herrn, alle Heiden Motette für Sopran, Alt, Tenor und Bass BWV 230 Fürchte dich nicht, ich bin bei dir Motette für Doppelchor BWV 228 (um 1708-17?/1726?) Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf Motette für Doppelchor BWV 226 (1729)
Pause
Jesu, meine Freude Motette für zwei Soprane, Alt, Tenor und Bass BWV 227 (vor 1735) Komm, Jesu, komm Motette für Doppelchor BWV 229 (vor 1731/32)
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Eine Feier des Lebens und des Todes Bachs Motetten
Ker stin Schüssler-Bach
Bei aller Ehrfurcht gegenüber dem Genie Johann Sebastian Bachs kann es manchmal auch recht erfrischend sein, YouTube- Kommentare zu seinen Werken zu lesen. Da postet etwa „Emma Louise“ zur Aufnahme der Motette Singet dem Herrn ein neues Lied mit Cantus Cölln: „Probz the best 12 minutes of my life“ – wahrscheinlich die besten 12 Minuten meines Lebens. In seiner spontanen Begeisterung ist das gar nicht so weit entfernt vom Bericht des Komponisten Ernst Ludwig Gerber, der 1767 der Aufführung einer Bach’schen Motette – leider wissen wir nicht, welcher – durch den Leipziger Thomanerchor lauschte und von der unvergleichlichen „Hoheit, Erhabenheit und Pracht“ dieser Musik schwärmte. Lange war unbekannt, wann und zu welchem Anlass Bach seine Motetten geschrieben hat, wie viele er insgesamt komponierte und ob sie ohne oder mit Instrumentalbegleitung aufzuführen sind. Cantus Cölln stellt im heutigen Konzert jene sechs Werke vor, für die die Autorschaft Bachs als unzweifelhaft gilt, oder – wie im Falle von Lobet den Herrn, alle Heiden – zumindest über viele Jahrzehnte als sehr wahrscheinlich vermutet wurde. Im Laufe der Zeit konnte die musikwissenschaftliche Forschung Entstehungszeit und -anlass der Motetten zumindest eingrenzen. Im Wesentlichen wurden sie wohl während Bachs 1723 begonnener Amtszeit als Thomaskantor
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in Leipzig als Trauermusiken komponiert und von den Thomanern bei Beerdigungen hochgestellter Persönlichkeiten aufgeführt. Der gesangstechnische Anspruch der Stücke legt den Schluss nahe, dass Bach sie auch im Unterricht für die Zöglinge der Thomasschule verwendete. Für den sonntäglichen Gottesdienst dagegen wurden sie zu seinen Lebzeiten nicht eingesetzt. Hierfür bediente sich der Thomaskantor des Florilegium Portense, einer älteren Sammlung deutscher und italienischer Kompositionen aus dem frühen 17. Jahrhundert. Selbstbewusst stellte Bach sich also einer großen Tradition von vier- bis zehnstimmigen Motetten, als er seine eigenen Gattungsbeiträge schuf – mit deren Komplexität und Kunstfertigkeit er die älteren Vorbilder freilich umgehend hinter sich ließ.
In dem latinisierten Begriff „Motette“ steckt das altfranzösische Wort „mot“ (Wort, Strophe, Vers). Bis ins 13. Jahrhundert, die erste Blütezeit der mehrstimmigen Musik an der Kathedrale von Notre- Dame in Paris, reichen die Wurzeln der Gattung zurück, die bis ins 19. Jahrhundert hinein aktiv gepflegt wurde. So vielfältig ihre Ausprägungen auch sind – immer steht das Verhältnis von Wort und gesanglicher Ausdeutung im Zentrum. Seit dem späten 15. Jahrhundert gilt die Motette als Herzstück der geistlichen Vokalmusik. Höhepunkte sind im 16. Jahrhundert die polyphonen Motetten der Niederländer und der kunstvolle, vielgestaltige Klangstrom des Italieners Palestrina, der für eine lange Zeit zum Stilvorbild avancierte. Ein Jahrhundert später erlebte die Motette auch in Deutschland eine Blütezeit mit den Werken von Johann Hermann Schein, Samuel Scheidt und Heinrich Schütz. Dabei reicht die Spannweite von solistischen Werken mit instrumentaler Generalbassbegleitung bis hin zu prachtvollen doppelchörigen Festmusiken. Gerade in Sachsen und Thüringen wurde die Chormotette besonders gepflegt, wovon auch das Florilegium Portense (dessen Titel sich auf die Fürstenschule zu Schulpforta bezieht) Zeugnis ablegt. Bachs Zeitgenosse Johann Gottfried Walther beschrieb die Motette in seinem 1732 erschienenen Musicalischen Lexicon als „eine mit Fugen und Imitationibus starck ausgeschmückte, und über einem Biblischen Spruch bloß zum Singen ohne Instrumente (den General-Baß ausgenommen) verfertigte musicalische Composition;
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doch können die Sing-Stimmen auch mit allerhand Instrumenten besetzt und verstärckt werden“. In der Tat sind die „Fugen und Imitationibus“ in Bachs Motetten ebenso wenig zu überhören wie die „biblischen Sprüche“. Ebenso hat sich in der modernen Aufführungspraxis durchgesetzt, sie mit Basso continuo oder einem kleinen Instrumentalensemble zu begleiten. Das früher gepflegte a-cappella-Singen dieser Werke geht auf die Romantik zurück, die sich ihrerseits auf die Aufführungspraxis der Sixtinischen Kapelle und ihre gelebte Tradition der rein vokalen Darbietungen berief. Zumindest teilweise sind zu Bachs Motetten aber Instrumentaloder Orgelstimmen überliefert. Vermutlich verfuhr der Thomaskantor in dieser Frage sehr pragmatisch: Standen für einen repräsentativen Anlass Instrumente zur Verfügung, wurden sie eingesetzt, wenn nicht, ließ man sie eben weg. Anders als in Fall von Bachs Orchesterwerken oder Passionen besteht für die Motetten eine fast ununterbrochene Aufführungs tradition. Im Repertoire des Thomanerchors behielten sie ihren festen Platz, auch in der Berliner Singakademie wurden sie ein studiert, und schon 1802 erschienen sie im Druck.
Singet dem Herrn ein neues Lied bildete dabei so etwas wie ein Paradestück für die Thomaner. Als Mozart 1789 in Leipzig Station machte, sangen ihm die Knaben diese Motette vor. Mozarts Biograph Friedrich Rochlitz, der selbst als Chorist dabei gewesen war, überliefert dessen Reaktion: „Kaum hatte der Chor einige Takte gesungen, so stutzte Mozart – noch einige Takte, da rief er: ‚Was ist das?‘ – und nun schien seine ganze Seele in seinen Ohren zu seyn. Als der Gesang geendigt war, rief er voll Freude: ,Das ist doch einmal etwas, woraus sich was lernen läßt!‘“ Tatsächlich reißt die extrovertierte musikalische Überfülle gerade dieser Motette mit, und sie bildet so einen würdigen Auftakt für das heutige Programm. Virtuose Koloraturketten, tänzerische Anmut und glänzende Doppelchoreffekte lassen das „neue Lied“ in aller Lebendigkeit erklingen. Das Autograph von Singet dem Herrn hat sich ebenso erhalten wie der originale Stimmsatz. Anhand der Wasserzeichen im Papier konnte die Bachforschung die Komposition auf die Zeit zwischen
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Juni 1726 und April 1727 datieren. Ob das vor klanglichem Selbstbewusstsein geradezu strotzende Stück für einen Geburtstag oder Festtag entstand, ob damit gekrönte Häupter oder reiche Patrizier geehrt wurden, ob das Werk das neue Jahr einläutete oder die Thomaner damit eine harte Nuss für die Chorproben zu knacken bekamen – für all diese Hypothesen sind mehr oder weniger überzeugende Argumente angeführt worden. Da einige von Bachs Motetten erwiesenermaßen als Sterbemusik zu Trauerfeiern gesungen wurden, liegt nahe, dass auch dieses Stück für einen ähnlichen Anlass entstand. Aber steht der jubelnde Ton des Lobgesangs nicht konträr zu unserer Erwartung an ein Totengedenken? Repräsentieren die brillanten Fugen des ersten und vierten Satzes, die stereophonen Effekte der wechselseitig sich zurufenden Chöre nicht eher eine Feier des Lebens? Kaum, wenn man sich den barocken „Vanitas“Gedanken vor Augen hält: Die Nichtigkeit und Unbeständigkeit des Lebens war ständiger Begleiter. „Memento Mori“ – bedenke, dass du sterben musst, und lebe die Gegenwart bewusst, so hallt es als Aufforderung durch die Gedichte von Andreas Gryphius oder Paul Fleming. Bach selbst hat diesen Antagonismus immer wieder in Musik gefasst, etwa in der virtuosen Arie „Ich freue mich auf meinen Tod“ aus der Kantate Ich habe genug, deren grimmig entschlossene Koloraturketten im beschwingten Dreiertakt nichts mit moderner Lebensmüdigkeit zu tun haben. Der Tod wird als Erlösung von den Mühen des irdischen Daseins empfunden und entsprechend euphorisch besungen. Der Organist und Musikwissenschaftler Meinolf Brüser formulierte jüngst die These, dass Singet dem Herrn als Trauermusik für ein Mitglied des Thomanerchors entstanden sei. Zentrales Argument hierfür ist der zweite Satz, in dem ein Choral („Wie sich ein Vater erbarmet“) beständig von Versen einer Aria („Gott, nimm dich ferner unser an“) unterbrochen wird. Bachs Anweisung im Autograph lautet: „Der 2. Vers ist wie der erste, nur das die Chöre ümwechseln, und das 1ste Chor den Choral, das 2dere die Aria singe.“ Brüser deutet dies als Aufforderung (zu der seinerzeit völlig unüblichen Praxis), die beiden Chöre bei identischem Text die Rollen tauschen und somit alle Sänger die sehr persönliche Aussage des unbekannten Dichters der Aria – war es Bach selbst? – reflektieren zu lassen. Diesen Selbstbezug interpretiert Brüser als unmittelbare Reaktion auf den Tod des Thomaners Heinrich Ludwig Zornitz im Mai 1726. Zornitz war der erste Schüler gewesen, den Bach in seinem neuen Amt selbst angenommen hatte. Wie die
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Bachforschung schon länger weiß, sind in diesen zweiten Satz auffällige Bezüge zur Tradition der Thomaner eingearbeitet: Die Strophe „Wie sich ein Vater erbarmet“ stammt aus dem Choral Nun lob, mein Seel, den Herren des ehemaligen Rektors der Thomasschule Johann Gramann. Und am Schluss der Aria zitiert Bach die Melodie eines Trauerchorals von Johann Hermann Schein, einem seiner Amtsvorgänger in Leipzig. Der Trauergestus des Satzes wäre demnach eine persönliche Aussage Bachs zum Tod eines Schutz befohlenen („Wie sich ein Vater erbarmet“). Das gemeinsame Gedenken findet dann im kollektiven „Zusammenstehen“ der nurmehr vierstimmigen Fuge „Alles, was Odem hat“ mit ihrem jubilierenden „Halleluja“ einen geradezu aufmunternden Abschluss. „Sehr viele Motetten“ habe Bach für die Thomaner geschrieben, berichtet sein früher Biograph Johann Nikolaus Forkel im Jahr 1802, die meisten seien aber „nun zerstreut“ und nur „noch 8 bis 10“ vorhanden. Was gäbe man darum, die fehlenden zwei oder drei zu finden! Zuschreibungen zum Bach’schen Werkkanon hat es im Laufe der Jahrhunderte ebenso gegeben wie Aberkennungen der Authentizität. Von der vierstimmigen Motette Lobet den Herrn, alle Heiden nimmt man heute eher an, dass sie nicht von Bach stammt. Früheste Quelle für das Werk ist eine Druckausgabe von 1821, mehr als 70 Jahre nach Bachs Tod. Der durchgängig virtuose Charakter des Werks verzichtet auf reflektierende oder choralhafte Einschübe, und das markant sich aufschwingende Dreiklangsmotiv weist ebenso wie einige Eigenheiten in der Stimmführung eher auf instrumentale Melodik hin. Möglicherweise stammt das kurze Stück aus einer verschollenen Kantate. Vielleicht hat Bach – wenn es denn jemals ein Autograph gegeben hat, auf das sich der erste Herausgeber beruft – auch das Werk eines anderen Komponisten neu textiert und bearbeitet, wie er das nachweislich mit Motetten von Johann Kuhnau oder Sebastian Knüpfer getan hatte. Oder aber Bachs Autorschaft wurde schlicht gefälscht. Jedenfalls preisen die Verse aus Psalm 117 den Herrn in überschwänglichen Worten, und mit ausgestelltem Jubel fallen die Singstimmen ein. In breiten Pfundnoten wird die anhaltende „Ewigkeit“ beschworen, bevor das abschließende „Halleluja“ im schwingenden Dreiertakt wieder in fast übermütiger Freude das Gotteslob verkündet.
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Auch über die Entstehungsgeschichte der doppelchörigen Motette Fürchte dich nicht lässt sich bis heute nur spekulieren. Ist sie 1726 für die Beerdigung des Leipziger Stadthauptmanns Winkler entstanden? Oder liegen ihre Wurzeln in der Weimarer Zeit zwischen 1708 und 1717? Stilistische Vergleiche zu der ebenfalls achtstimmigen Motette Fürchtet euch nicht von Johann Michael Bach, dem Vater von Johann Sebastians erster Frau Maria Barbara, lassen eine frühere Entstehungszeit zumindest vermuten. Das dialogische Wechselspiel der beiden chorischen Gruppen ist ein wirkungsvolles Beispiel für die prächtige Mehrchörigkeit oder Antiphonie, wie sie aus der venezianischen Musik des 16. Jahr hunderts bekannt war. Eine dreistimmige Doppelfuge („Ich habe dich bei deinem Namen gerufen“) deutet den Erlösungsgedanken musikalische aus: hier schmerzvolle Chromatik, dort glaubens gewisse Choralweise im Cantus firmus des Soprans mit Paul Gerhardts „Herr mein Hirt, Brunn aller Freuden“. Auch für diese Motette ist eine kurz nach Bachs Tod entstandene Abschrift mit Instrumentalstimmen erhalten. Den Anlass zur Komposition der doppelchörigen Motette Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf kennen wir zweifelsfrei, ebenso ist ein originaler Stimmensatz mit verdoppelnden Instrumentalstimmen von Streichern und Holzbläsern überliefert. Für die Aufführungsbedingungen von Bachs Motetten ist dieses verhältnismäßig gut dokumentierte Werk auf Bibelstellen des Römerbriefs deshalb besonders wichtig. Auch hier besteht ein enger Bezug zur Thomasschule, denn das Stück erklang „bey Beerdigung des seel. Hrn. Profeßoris und Rectoris“ Johann Heinrich Ernesti. So vermerkte es Bach eigenhändig im Autograph. Der Trauergottesdienst für Ernesti fand am 21. Oktober 1729 in der Leipziger Paulinerkirche statt. Erneut steht die Beschwingtheit des einleitenden Satzes – mit weitgespannten Koloraturen, dem 3/8-Tanzrhythmus eines Passepied und ritornellartigen Wiederholungen wie in einem weltlichen Instrumentalkonzert – seiner Bestimmung als Sterbemusik nicht entgegen. Die üppige Achtstimmigkeit und die virtuosen „Imitationibus“ des Werks sind auf eine repräsentative Funktion zugeschnitten, nicht auf die Intimität einer privaten Trauerfeier. Momente der musikalischen Textausdeutung liegen hier auf der Hand: Wie der Geist unsere Schwachheit beflügelt, so schrauben sich die Stimmen in behenden Sechzehntelketten aufwärts. Die Unsicherheit von „Denn wir wissen nicht, was wir beten sollen“ ist durch harmonisches Vagabundieren ausgedrückt. Und das „unaus-
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sprechliche Seufzen“ manifestiert sich in schönsten Seufzermotiven mit pausenzerrissenen Sekundintervallen. Ein strenger Alla-breveSatz („Der aber die Herzen forschet“) im stile antico sorgt für würdige Sammlung, bevor der Choral „Du heilige Brunst“, die dritte Strophe des Luther’schen „Komm, Heiliger Geist, Herre Gott“, die Gemeinde im vierstimmigen Satz vereint, auch hier wieder mit einer vielsagenden harmonischen Eintrübung bei dem Wort „Trübsal“.
Mit einem schlichten Choral beginnt und endet die Motette Jesu, meine Freude, die durch eine Abschrift von 1735 überliefert ist. Virtuosität steht hier weniger im Vordergrund, und statt acht sind nur fünf Stimmen notiert. Bach kompensiert diese vermeintliche Einfachheit durch die Ausdehnung und komplexe Architektur des Werks: Mit einer Aufführungsdauer von etwa 20 Minuten und elf Einzelsätzen ist Jesu, meine Freude die weitaus umfangreichste seiner Motetten. Womöglich geht sie auf ein älteres Werk aus der Weimarer Zeit zurück und wurde im Juli 1723 für die Bestattung von Johanna Maria Kees, der Witwe des Leipziger Oberpostmeisters erweitert. Bemerkenswert ist die spiegelsymmetrische Anlage: Sechs Strophen aus Johann Francks gleichnamigem Choral mit der Melodie von Johann Crüger bilden das Gerüst. Die dazwischen eingestreuten Sprüche aus dem Römerbrief sind als aufeinander bezogene Spruchmotetten und Terzette vertont. Bach lässt sich ausdrucks starke rhetorische Figuren wie die zweifache Generalpause bei „Es ist nun nichts“ nicht entgehen. Aber auch der „Trotz“ wird dem „alten Drachen“ bildlich entgegengeschleudert, die Welt „tobt“ rumpelnd in den Bässen, es „kracht und blitzt“ lautmalerisch und die irdischen Schätze werden abfällig „weg, weg“ geworfen – eine musikalische Predigt, die an unmittelbarer Wirkung ihresgleichen sucht. Herzstück ist die Fuge „Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich“, in der „Gottes Geist“ der Musik durch herausgehobene Koloraturen quasi eingehaucht wird. Komm, Jesu, komm! ist die einzige der erhaltenen Motetten Bachs, die gänzlich auf Bibelverse verzichtet. Wiederum verweist die Komposition auf die Tradition der Thomaner, denn der Text stammt von Paul Thymich, der Ende des 17. Jahrhunderts als Lehrer
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an der Thomasschule wirkte. Die Dichtung wurde zuerst vom Thomaskantor Johann Schelle für das Begräbnis eines Rektors des Instituts vertont. Etwa 50 Jahre später setzte Bach Thymichs Verse erneut in Musik, möglicherweise als Epitaph für den Theologen Johann Schmid, der 1731 verstorben war, oder als Trauermusik für die ein Jahr zuvor gestorbene Witwe Schelles. Jedenfalls kann die Motette nicht sehr viel später entstanden sein, denn überliefert ist sie nur in einer Abschrift von Bachs Schüler Christoph Nichelmann, der die Thomasschule 1731/32 verließ. Viele Metaphern im Text verweisen auf den Tod, der freudig empfangen wird. Die Phrase „Die Kraft verschwind’t je mehr und mehr“ wird durch alle Stimmen gereicht und „verschwindet“ jeweils in der Einzelstimme. Das „Sehnen“ nach dem Jenseits wird durch emphatische Seufzerfiguren ausgedeutet, der „saure Weg“ durch einen unbequemen Septimsprung. Das erwartete „Kommen“ des Heilands erscheint im ersten Satz durch das antiphonale Anrufen der beiden Chöre wie ein Ausrufezeichen gesetzt, dann schließlich mit belebterem, imitatorischem Einsatz. Ausgedehnt und koloraturgeschmückt wird „der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben“ mit menuettartiger Eleganz beschworen. Als Aria bekräftigt der Schlusschoral noch einmal „den wahren Weg zum Leben“, der sich im Glauben gründet. In einem sanften Melisma entschweben die Soprane gen Himmel.
Dr. Kerstin Schüssler-Bach arbeitete als Opern- und Konzertdramaturgin in Köln, Essen und Hamburg und hatte Lehraufträge an der Musikhochschule Hamburg und der Universität Köln inne. Seit 2015 ist sie für den Musikverlag Boosey & Hawkes in Berlin tätig. Sie verfasste Werkessays und Radiosendungen für den WDR, NDR, die Berliner Philharmoniker, die Staatskapelle Dresden und die Elbphilharmonie Hamburg sowie wissenschaftliche Beiträge zu Brahms, Mahler, Frank Martin und Brett Dean.
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Inciting Listeners to Devotion The Motets of Johann Sebastian Bach
Har r y Haskell
In accepting the prestigious post of municipal music director for Leipzig and cantor of the St. Thomas School in 1723, Johann Sebastian Bach pledged “to preserve the good order” in the city’s four principal churches and to “so arrange the music that it shall not last too long, and shall be of such a nature as not to make an operatic impression, but rather incite the listeners to devotion.” The 38-year-old composer forthwith threw himself into the life of a hard-working church musician, churning out a prodigious quantity of sacred music to satisfy the inexorable demands of the Lutheran calendar. In addition to more than 200 church cantatas, Bach composed or arranged dozens of religious motets, chorales, and sacred songs. The six motets on tonight’s program are musical sermons written for funerals and other special church services in Leipzig in the late 1720s and 1730s. Celebration and Mourning One of Bach’s most popular and readily accessible vocal works, Singet dem Herrn ein neues Lied (Sing to the Lord a New Song) takes its title, and much of its irrepressible exuberance, from the biblical Book of Psalms. The two choirs’ insistent repetitions of
“Singet” exhort listeners to celebrate the Lord both in song and— by virtue of the music’s viscerally kinetic energy—in dance. The concerted choral rejoicing in the motet’s outer sections encloses a central Aria-cum-Chorale of a markedly more introspective character, with the two four-voice choirs in dialogue singing different, but complementary, texts by the Lutheran theologian Johann Gramann. The tripartite structure of BWV 225 (fast-slowfast) owes a debt to the instrumental concerto form that Bach gleaned from Vivaldi and other Italian composers. Among the motet’s many admirers was Mozart, who heard it on a visit to Leipzig in 1789. His biographer Friedrich Rochlitz, then a member of the St. Thomas Choir, reported that “Mozart knew this master more by hearsay than by his works, which had become quite rare; at least his motets, which had never been printed, were completely unknown to him. Hardly had the choir sung a few measures when Mozart sat up, startled; a few measures more and he called out, ‘What is this?’ And now his whole soul seemed to be in his ears. When the singing was finished, he cried out, full of joy: ‘Now there is something one can learn from!’” Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf (The Spirit Helpeth Our Infirmities) was written for the funeral, on October 20, 1729, of Johann Heinrich Ernesti, the St. Thomas School’s long-time rector and a distinguished professor of poetry at Leipzig University. As befit a man of such eminence, Bach took full advantage of the resources at his disposal: not only does the score call for double chorus (plus the conventional continuo accompaniment of organ and contrabass viol), but the two choirs are reinforced by ensembles of string and wind instruments, respectively. As is typical of Baroque motets, the text of BWV 226 combines scripture with contemporary devotional poetry in a manner designed to reinforce the message of the day’s sermon. The main body of Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf is taken from the apostle Paul’s Epistle to the Romans (Ernesti’s funeral service was held at St. Paul’s, the university church), while the words of the concluding chorale are by Martin Luther. Structurally, the motet unfolds as a sequence of continuous, loosely linked sections that are differentiated both musically and textually. The opening evocation of the Holy Ghost soars aloft in swirling gusts of 16th notes. A more sedate section, still in 3/8 time, ensues as the singers ruminate on the Spirit’s prayerful intercession. After a brief cadential pause, Bach abruptly switches to duple meter at the words “sondern der Geist selbst” (but
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the Spirit itself), with breathless syncopations and sighing figures painting the words “unaussprechlichem Seufzen” (groanings which can not be uttered). The motet culminates in a vigorous fugue followed by a four-part chorale invoking the “heavenly ardor” of faith that conquers human weakness and strengthens us to press onward to God “through death and life.” Theology in Music Jesu, meine Freude (Jesus, My Joy), like Der Geist hilft unsrer Schwachheit auf, is a funeral motet; indeed, some scholars believe Bach wrote it for himself. Its exceptional length—three times that of BWV 226—and carefully plotted symmetry suggest that BWV 227 had special meaning for the composer. The biblical texts of the five choruses, again taken from Romans, invoke the believer’s wished- for release from pride, glory, and other earthly temptations. These homilies are interspersed with six verses from Johann Franck’s hymn “Jesu, meine Freude,” in sundry settings for three, four, and five voices. The overarching theme is the contrast between flesh and spirit, finite existence and the boundless joy of eternal life. The motet’s eleven movements are framed by musically identical four-part settings of the titular hymn, in plaintive E minor. Nested within them, in a neat concentricity that has clear theological overtones, are four more strophes of “Jesu, meine Freude,” each differently harmonized; a closely related pair of five-part choruses; and two sharply contrasting trios in bright major keys. The keystone of Bach’s majestic musical arch is a brisk five-part fugue, “Ihr aber seid nicht fleischlich” (But ye are not of the flesh); its G-major affirmation of faith contrasts dramatically with the minor-key quietude of “Gute Nacht, o Wesen” (Farewell, O you), in which the four voices bid farewell to the vanity of an existence that “has chosen the world.” Bach presents the latter chorale melody as a slow-moving cantus firmus in the alto, its successive phrases interspersed with fantasia-like elaborations in the soprano and tenor. Jesu, meine Freude is as cunningly crafted musically as theo logically; the musicologist Christoph Wolff surmises that Bach may have used it as a model exercise for his students at the St. Thomas School. The assurance of divine love is the subject of Fürchte dich nicht (Fear Not), which juxtaposes the stern admonitions of the prophet
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Isaiah with the homespun pieties of the 17th-century Lutheran hymnodist Paul Gerhardt. The opening double chorus drives home the theological lesson that “ich bin bei dir” (I [God] am with thee) in a joyful concatenation of interlocking phrases. The contrapuntal texture thickens on Isaiah’s words “ich stärke dich” (I strengthen thee), as sinewy 16th-note runs and dramatic harmonies convey the awesome power of God’s righteousness. In the motet’s second section, Bach reduces the texture to four parts: the three lower voices sing an energetic double fugue beginning with Isaiah’s “ich habe dich bei deinem Namen gerufen” (I have called thee by thy name), while the sopranos interject short, chorale-like snatches from Gerhardt’s hymn “Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden” (Lord, my shepherd, fount of all joys). The simple lovers’ catchphrase that the two texts have in common, “du bist mein” (thou art mine), highlights the believer’s personal, unmediated relationship with God in Lutheran theology. Although the chromaticism of the fugue periodically threatens to undermine the motet’s bedrock tonal stability, BWV 228 ends with a reprise of the opening eight-part chorus and another triumphant affirmation of faith, this time in A major. Homophony and Polyphony Komm, Jesu, komm! (Come, Jesus, Come!), another double- chorus funeral motet, couches its somber theme in music of surpassing tenderness and optimism, even gaiety. Alongside images of world-weariness, leave-taking, and deliverance, Paul Thymich’s poem conveys a countervailing message of comfort and spiritual solace. Fully half of BWV 229 is devoted to a melodious meditation on the words “du bist der rechte Weg, die Wahrheit und das Leben” (Thou art the right way, the truth, and the life). Bach’s setting, in lively 6/8 meter, is characterized by florid melismas, trills, and other quasi-operatic embellishments. (Thymich, who also wrote opera librettos, provided abundant cues for text-painting.) Indeed, the motet ends not with a traditional chorale but with an aria in four-part harmony to the words “Drum schließ ich mich in deine Hände” (Therefore, I place myself within thy hands), which one of Bach’s predecessors as cantor in Leipzig had set as a religious song. In Komm, Jesu, komm!, Bach largely eschews contrapuntal complexity in favor of a more transparent, homophonic style, with
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the two choirs often singing in alternation. Although the dominant tonality is G minor, both sections of the motet cadence on warm G-major chords. BWV 229 reveals a distinctly approachable side of Bach—less rigorous contrapuntist than expressive word-setter attuned to the emerging aesthetic of Empfindsamkeit (sensibility or sentimentality) that would come to be associated with his son C.P.E. Bach. Like Singet dem Herrn ein neues Lied, BWV 230 is unambiguously celebratory in character, a joyous, uncomplicated paean from the Book of Psalms expressive of Bach’s credo that the purpose of music was to serve “the glory of God and the re-creation of the soul.” “Lobet den Herrn, alle Heiden” (Praise the Lord, all the heathens), the psalmist exhorts us: Bach’s opening four-voice fugue springs to life in the soprano, the first syllable of the text emphatically prolonged as the sturdy, foursquare theme traces a rising C-major triad. As the other three voices join in one by one, the word “Heiden” is lingered over repeatedly, subtly shifting the listener’s attention from the divine to the human realm. The contrapuntal layering of vocal parts starts over on the second line of Psalm 117, “und preiset ihn, alle Völker” (and praise him, all the peoples), but in setting the third and fourth lines Bach uses both homophony and polyphony, as if to suggest that these time-honored compositional techniques are complementary manifestations of God’s “grace and truth.” Lobet den Herrn, alle Heiden concludes with a long, ecstatic “Alleluia” whose bouncy triple meter and athletic leaps recall the dance-like exuberance of Singet dem Herrn ein neues Lied.
A former performing arts editor for Yale University Press, Harry Haskell is a program annotator for Carnegie Hall in New York, the Edinburgh Festival, and other venues, and the author of several books, including The Early Music Revival: A History, winner of the 2014 Prix des Muses awarded by the Fondation Singer-Polignac.
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