Josquin - The Tallis Scholars & Peter Phillips

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The Tallis Scholars & Peter Phillips Josquin des Prez Sämtliche Messen


Mittwoch

13. Juli 2022 15.00 Uhr

Die frühesten Messen Peter Phillips Musikalische Leitung The Tallis Scholars


Josquin des Prez (um 1450–1521) Missa Une mousse de Biscaye (um 1475) I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor, Alex Chance Alt Steven Harrold, Simon Wall, Ben Hymas, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley, Robert Macdonald Bass

Pause

Missa L’ami Baudichon (um 1475) I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor, Alex Chance Alt Guy Cutting, Ben Hymas Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley Bass

Die frühesten Messen



Die frühesten Messen Missa L’ami Baudichon und Missa Une mousse de Biscaye

In der Josquin-Forschung besteht kaum Uneinigkeit darüber, dass es sich bei der Missa L’ami Baudichon, die wahrscheinlich um 1475 in Frankreich entstand, entweder um Josquins erste oder – nach der Missa Une mousse de Biscaye – zweite Vertonung des Messordinariums handelt. Nicht mehr als drei Töne aus einem damals populären Volkslied, die für britische Ohren irritierenderweise sehr an den Beginn von Three Blind Mice erinnern, bilden ihre Grund­ lage. Für ihr Publikum stellt diese Messe kaum eine größere ­Herausforderung dar, sodass man ganz einfach ihren strahlenden Dur-Klang genießen kann – er ist das Ergebnis eines vergleichsweise großen Abstands zwischen der hoch liegenden Superius-Stimme und der nächst tieferen Partie. Die Obszönität des zugrundeliegenden Liedes – es enthält eine Anspielung auf weibliche Genitalien – macht es zu einem ungewöhnlichen Ausgangspunkt für ein geistliches Werk. Trotzdem ist die Messe in einem Chorbuch des Vatikans erhalten, wo sie vermutlich innerhalb der Liturgie gesungen wurde. In der einzigen Quelle des Liedes, die den Text überliefert (sie befindet sich heute in Verona), ist das derbe Wort einfach ausgelassen, obwohl kein Zweifel daran besteht, wie es ursprünglich lautete, da das Lied selbst in zeitgenössischen Gedichten über den Tanz und das Theater oft erwähnt wurde. Seine Beliebtheit mag auf die ungewöhnliche ­Popularität des Namens ,,Baudichon“ zurückzuführen sein, der in über 80 Schreibweisen in ganz Europa auftaucht. Er leitet sich von dem altfranzösischen Wort „baud“ ab, was ,,fröhlich“ bedeutet und – passend in diesem Kontext – wahrscheinlich als Bezeichnung für einen angeberischen Heranwachsenden benutzt wurde. Josquin entnahm dem Volkslied, das ursprünglich im Dreier­ metrum stand und eine sehr einfache dreiteilige Struktur aufwies, nur eine Handvoll Töne – eine schrittweise absteigende Linie –, die er erstaunlich wenig veränderte, außer sie zu verlängern, an einigen Stellen zu transponieren und umzukehren. Die drei fundamentalen Töne werden fortlaufend wiederholt, beginnend entweder auf C oder G; nur einmal – im Credo – werden sie umgekehrt, so dass die Musik aufzusteigen scheint, während sie sonst stets unweigerlich abfällt. Zitiert werden sie fast ausschließlich im Tenor und treten dabei nur sehr selten in kontrapunktische Beziehungen mit den anderen

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Stimmen – durchaus verwunderlich, wenn man bedenkt, was sich theoretisch alles mit ihnen anstellen ließe. Aufgrund ihrer Unverfänglichkeit ist es nicht einfach, die drei Töne aus dem übrigen Klangmaterial herauszufiltern. Am deutlichsten sind sie vielleicht im ­Agnus Dei I (das mit dem Agnus III identisch ist) zu hören. Wer ihnen lieber in langen Notenwerten folgen will, kann sie den gesamten letzten Teil des Credo hindurch ab „Et resurrexit“ im Tenor hören. Diese 157 Takte ohne Pause umfassende Passage ist vielleicht die bemerkenswerteste – weil überraschendste – der gesamten Messe: Die Musik gerät keinen Augenblick ins Stocken. Auch wenn der Tenor ausschließlich lange Noten singt (und auf einem ungeheuren, lang gehalteten hohen G endet), steigern sich die umliegenden Stimmen zu einem der mitreißendsten „Amen“ des gesamten Repertoires.

Die Missa Une mousse de Biscaye, entstanden etwa zur selben Zeit wie die Missa L’ami Baudichon Mitte der 1470er Jahre, basiert auf einer weltlichen Melodie mit einem Text in französischer und baskischer Sprache. Das französische Wort „mousse“ im Titel leitet sich von dem kastilischen Wort „moza“ ab, was „Mädchen“ bedeutet; die Biskaya ist eine Provinz im Norden Spaniens, die zum Baskenland gehört und deren Hauptstadt Bilbao ist. Das Original ist ein Dialog zwischen einem jungen Mann, der Französisch spricht, und einem baskischen Mädchen, das auf alle seine amourösen Annäherungen mit dem rätselhaften Refrain „Soaz, soaz, ordonarequin“ reagiert. Die Verwirrung in der Kommunikation des Paares könnte das tonale Umherwandern des Liedes erklären, das in F beginnt, dann schnell in G kadenziert, nach F zurückkehrt und schließlich in B endet. Wie bei einem Frühwerk nicht anders zu erwarten, ist Une mousse de Biscaye voll von untypischen Details. So stellt das Agnus Dei eine exakte Wiederholung des Kyrie dar – einmalig in Josquins Mess­ vertonungen. Verglichen mit späteren Standards finden sich einige „ungrammatikalische“ Dissonanzen und Auflösungen, und bis zu einem gewissen Grad spiegelt die Messe auch die modale Unsicherheit des Originals wieder, die ihre Klangwelt von der späterer Werke abhebt: Durchweg treten Töne im Tritonusabstand (E und B, Es und A) gemeinsam auf. Üblicherweise werden solche Sonderbarkeiten als

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Zeichen kompositorischer Unreife gedeutet. Als Dirigent kann ich dagegen bezeugen, wie effektvoll sie sein können – z.B. der Einsatz des Alts auf einem E in Takt 64 des Sanctus (bei „Pleni sunt caeli“): die Stelle klingt eigenwillig und ist schwer zu intonieren, besitzt aber echtes Überraschungspotential. Die Melodie der Chanson wird in Une mousse de Biscaye recht frei behandelt – sie erklingt zu unterschiedlichen Zeitpunkten in allen Stimmen und mit verschiedenen Erweiterungen und Ausschmückungen. Es sind eben diese Erweiterungen, welche dem kompositorischen Satz seinen fantasieartigen Charme verleihen, insbesondere im Credo, das im Vergleich mit den anderen Teilen ungewöhnlich lang ausfällt. Es enthält eines der extremsten Beispiele mathematischer Cantus-Firmus-Verarbeitung, die man sich vorstellen kann: Die Melodie wird gleichzeitig in vierfacher Augmen­tation und in Umkehrung zitiert, was die Tenöre vor erheb­liche Probleme stellt, da sie nicht nur sehr tief – aufgrund der Umkehrung –, sondern aufgrund der verlängerten Notenwerte auch minutenlang ohne Atempause singen müssen. Die resultierende Klangwirkung ist ­dafür aber besonders einprägsam – ein tiefer Bordun, dunkel und gedämpft, oftmals noch unterhalb der Bassstimme. Sowohl die Missa L’ami Baudichon als auch die Missa Une mousse de Biscaye scheinen Josquin als jungen Mann zu zeigen, der die Möglichkeiten des Genres erkundete. Er sollte in seinen Messver­tonungen auch weiterhin experimentieren, und zwar in ebenso ­will­kürlicher Art und Weise. Doch haben wir es hier mit zwei wichtigen Variationen über das zeitlose Thema zu tun, wie ein Messe­text vertont werden kann – die beide herausragende A-cappella-Passagen enthalten. Peter Phillips

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The Earliest Masses Missa L’ami Baudichon and Missa Une mousse de Biscaye

There is little scholarly disagreement that the Missa L’ami Baudichon is either Josquin’s earliest or second-earliest setting of the mass (after the Missa Une mousse de Biscaye), probably written in France around 1475. Based on just three notes from an eponymous popular folk tune of the time, which to an English ear sound distractingly like the opening of Three Blind Mice, it makes few demands on the listener outside enjoying a luminous major sonority—the ­result of an unusually wide gap between the high-lying soprano part and the next part down, compared to the other masses. The vulgarity of the original song—it contains a reference to ­female genitals—makes it an unusual starting point for a sacred work; yet despite this it survives in one of the Vatican choirbooks, where presumably it was sung as part of the liturgy. In the only source of the song to give the text, now in Verona, the rude word is simply omitted, though there is no doubt what it should be, since the song itself was often mentioned in contemporary poems about dance and theater. Its popularity may have stemmed from the extra­ ordinary popularity of the name Baudichon, which is recorded in more than 80 different spellings throughout Europe. Of pre–seventh century French origin, it is derived from the word “band,” meaning “joyful,” and was probably given as a nickname for a lusty and swaggering youth—fitting the context here rather well. Josquin did surprisingly little with the handful of notes he took from the folk tune, which originally was in triple-time and had the most obvious tripartite structure, except elongate them, transpose them (very occasionally), and turn them upside down. The three fundamental notes are always repeated, either starting C or G; and just once—in the Credo—they are inverted, so the music seems to rise, where in the rest of the setting it inevitably seems to fall. They are almost always quoted in the tenor, very rarely giving rise to any counterpoints with the other voices, which is strange given how malleable these three notes could be made to be. Because they are so innocuous the three notes are hard to pick out of the surrounding material, but perhaps they are most audible in the Agnus Dei I (which is the same as the third Agnus). Those who enjoy picking out longer notes can hear them throughout the final pages of the Credo, always in the third part down, starting at “Et resurrexit.”

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This final section, covering 157 bars without break, is perhaps the most remarkable—because unexpected—passage of the whole ­setting. The music never falters. Even though the tenor is always in long notes (and ends on an outrageous long-held high G), the surrounding phrases build and build to one of the most exciting “Amens” in the repertoire.

The Missa Une mousse de Biscaye, written around the same time as L’ami Baudichon in the mid-1470s, is based on a secular tune with a French and Basque text. The French word “mousse” in the title is derived from the Castilian word “moza,” meaning a lass; ­Biscaye is a province in the north of Spain, part of the Basque Country, with Bilbao as its capital. The original is a dialogue between a young man, speaking in French, and a Basque girl, who replies to all his amorous proposals with the mystifying refrain “Soaz, soaz, ordonarequin.” The confusion in the lovers’ communication is held to explain the way the tune wanders about tonally—beginning in F, quickly cadencing in G, returning to F but ending eventually in B flat. Inevitably for such an early work, Une mousse de Biscaye is full of untypical details. For example, the Agnus Dei is an exact repeat of the Kyrie—unique in Josquin. There are some ungrammatical (by later standards) dissonances and resolutions, and Josquin’s setting also shares some of the modal uncertainty of the original, which sets its sound world apart from later works. Throughout the mass E naturals coexist with B flats, E flats with A naturals. This kind of awkwardness is customarily held to be a sign of immaturity by scholars. As a performer, I can vouch for how effective it can be, for example the entry of the altos at bar 64 of the Sanctus at “Pleni sunt caeli” on an E natural. It sounds edgy in the context, and is difficult to tune well, but has real frisson. The chanson melody in this mass is treated quite loosely— appearing in all the voice parts at different times and with a variety of extensions to the original. It is these extensions that give the writing its fantasia-like charm, especially in the Credo, which is unusually long by comparison with the other movements. It contains one of the most extreme examples of mathematical cantus firmus treatment one could think of: the tune is quoted in four-fold augmentation at the same time as inversion, which creates real problems for the tenors, who not only have to sing low as a result of the inversion, but also are not supposed to breathe for minutes on end.

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However, it produces a very memorable effect—a drone low in the texture, somber and attenuated in mood, often beneath the bass part. Both these masses based on secular melodies seem to show Josquin as a young man exploring what he could do with the form. He would experiment further, and equally randomly, in other settings. But here are two major variations on the timeless theme of how to set the mass text, both yielding some superlative a cappella writing. —Peter Phillips

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Kanonmessen Peter Phillips Musikalische Leitung The Tallis Scholars


Josquin des Prez (um 1450–1521) Missa Ad fugam I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor, Alex Chance Alt Steven Harrold, Simon Wall, Ben Hymas, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley Bass

Pause

Missa Sine nomine I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Alex Chance Alt Steven Harrold, Simon Wall, Guy Cutting, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Robert Macdonald Bass

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Kanonmessen Missa Ad fugam und Missa Sine nomine

Die Missa Ad fugam und die Missa Sine nomine sind die einzigen beiden Messen Josquins, die durchweg auf Kanons basieren. Er komponierte weitere Einzelsätze in Kanonform – das zweite Agnus Dei in seiner Missa L’homme armé super voces musicales ist ein besonders komplexes Beispiel dafür (siehe S. 40) –, aber nur hier schöpfte er die Möglichkeiten so ausführlich aus, wie es die Musiksprache der Zeit zuließ. Diese Art, Musik zu schreiben, mag uns heute etwas akademisch erscheinen: Wer ist schon an einem mathematischen Gerüst interessiert, das für die meisten ohnehin unhörbar bleibt? Doch Josquin war daran interessiert – wie viele Komponistinnen und Komponisten nach ihm von Bach über Brahms bis zu Webern –, und es ist offensichtlich, dass ihn die Herausforderung, die die ­Bindung an ein solch strenges Muster mit sich bringt, besonders reizte. Die beiden Messen scheinen an den entgegengesetzten Enden von Josquins kompositorischer Laufbahn entstanden zu sein. Ad fugam, einem frühem Werk, ist leichter zu folgen; Sine nomine, möglicherweise Josquins letzte Messvertonung vor der großen Missa Pange ­lingua (siehe S. 114), zeigt wie keine andere die Früchte seiner langen Erfahrung mit mathematischen Kompositionstechniken. Tatsächlich ist Ad fugam so viel einfacher gehalten, dass Josquin die spätere Sine nomine durchaus als Gegenstück dazu konzipiert haben könnte, um zu demonstrieren, wie viel besser er diese Verfahren nun, gegen Ende seines Lebens, beherrschte. Dies könnte ihm mehr bedeutet haben als wir heute ermessen können: Alle flämischen Komponisten vor Josquin hatten ihr Können mit kanonischen Kompositionen unter Beweis gestellt – allen voran Johannes Ockeghem (um 1420–1497). Wenn es stimmt, dass Josquin bei Ockeghem in die Lehre ging, ist es gut möglich, dass er sich diese Tour de force aufsparte, um zu zeigen, dass er es seinem Meister gleichtun konnte. Tatsächlich ­findet sich für diese persönliche Verbindung ein weiteres Indiz: Im Credo von Sine nomine zitiert Josquin bei „Et incarnatus est“ aus seinem Klagelied Nymphes des bois, das er auf den Tod von Ockeghem geschrieben hatte.

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Ad fugam gilt als frühes Werk zum einen wegen der besonders strikten Anwendung des kanonischen Prinzips, zum anderen, weil das gemeinsame Material, mit dem jeder Satz beginnt, zehn Takte lang ist (am Niveau späterer Werke gemessen eine beträchtliche Länge), und zuletzt, weil es eine Originalquelle in der Bibliothek der Universität Jena gibt, die einige Revisionen des Schreibers – womöglich Josquin selbst – für die Kanons im Sanctus und Agnus zu überliefern scheint. In der Musik dieser Zeit erhalten wir nur äußerst selten Einblicke in Überarbeitungen; in diesem Fall ist der Unterschied zwischen den langgezogenen, an Ockeghem erinnernden Linien des Originals und dem reduzierteren, gestrafften Denken der späteren Fassung sehr aufschlussreich. Der Kanon spielt sich in Ad fugam immer zwischen der Oberstimme und der jeweils dritten Stimme und immer im Quintabstand ab. Da sich dieses Muster durchweg exakt wiederholt, ist es relativ einfach zu hören. Verfolgen Sie zum Beispiel zu Beginn des ersten Kyrie den Sopran und Tenor, um den kompositorischen Prozess nachzuvollziehen. Mithilfe dieser Melodie können Sie dann den Eröffnungstakten aller Sätze folgen. Ein derartiger strenger Kanon stellt eine kompositorische Herausforderung dar, die weit über die Schwierigkeiten eines bloßen cantus-firmus-Satzes hinausgeht. ­ Es half sicher, dass Josquin die Melodien, die er dann kanonisch verarbeitete, selbst geschrieben hatte. Doch seine Entscheidung, sich so streng an das Muster zu halten, resultierte in einer Messvertonung von außergewöhnlich dichter und einheitlicher Textur.

In Sine nomine sind die Kanons über den gesamten Satz verteilt – jede Stimme kann jede andere zum Partner haben. Und wo eine der Stimmen nicht die Hauptmelodie singt, setzt sie mitunter in Imitation ein. Das einleitende Kyrie ist auch hier ein gutes Beispiel. Es ist um einen Kanon der beiden Oberstimmen (im Quartabstand und um 14 Takte verschoben) herum komponiert. Bis die zweite Stimme – erst relativ spät – einsetzt, begleitet die dritte Stimme die Oberstimme mit Musik, die offensichtlich mit der Kanonmelodie verwandt ist. Wenn schließlich der Bass einsetzt, tut er das Gleiche. Das Christe und zweite Kyrie folgen mit ihren eigenen kanonischen Strukturen. Das Gloria beginnt mit einer Imitation zwischen Oberstimme und zweiter Stimme – eine „Finte“, denn keine der beiden

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Stimmen singt die wirkliche Kanonmelodie abgesehen von ihren Anfangsnoten. Und so geht es immer weiter: Um dieser subtil-­ raffinierten Schreibweise, noch dazu über den Verlauf der gesamten Messe hinweg, gerecht zu werden, müsste man ein kleines Buch füllen. Ich habe Musik aus allen Epochen mit größter Freude gehört, ohne zu wissen, dass sich in ihr Kanons verstecken. Es braucht nicht einmal das grundlegendste Verständnis von Josquins mathematischen Kunststücken, das ich hier zu vermitteln versucht habe, um diese Messen als genauso fesselnd wie die frei komponierten ­ zu empfinden. Doch besitzt jedes kanonische Stück, wenn es denn gelungen ist, eine zusätzliche Tiefendimension. Die Hörerinnen und Hörer werden immer den Eindruck haben – wie vage er auch sein mag – dass diese Musik etwas enthält, das ihr Erleben komplexer und intensiver macht. Es ist durchaus möglich, dass man nie ganz versteht, warum eine kanonische Messe so faszinierend ist, aber man muss auch nicht alles analysieren, um Gefallen daran zu finden. Polyphonie ist immer komplex, und kanonisches Schreiben führt zur komplexesten Vielstimmigkeit überhaupt. Die beste Polyphonie muss nicht zwingend ein mathematischer Geniestreich sein – aber wenn sie es ist, sollte sie dadurch bereichert werden.

Peter Phillips

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Canonic Masses Missa Ad fugam and Missa Sine nomine

Missa Ad fugam and Missa Sine nomine are the only two masses by Josquin that are entirely based on canons. He wrote other single movements which are canons—the second Agnus Dei in his Missa L’homme armé super voces musicales (see p. 44) is an especially complex example—but only here did he explore the possibilities as exhaustively as the idiom would allow. To write this kind of music may seem ­academic to the modern mind: who is interested in mathematical scaffolding which most people can’t hear? But Josquin was interested in it—as were many later composers, from Bach to Brahms to Webern—and it is clear that, like every composer of genius, Josquin relishes the challenge inherent in being tied down to a pattern. These two settings seem to stand at the extreme ends of Josquin’s career. Ad fugam, an early work, is the easier of the two to follow; Sine nomine, which may have been Josquin’s last mass setting before the great Missa Pange lingua (see p. 119), shows the fruits of his experience in mathematical writing like no other. Indeed, Ad fugam is so much more straightforward than Sine nomine that it is possible Josquin wrote the later work as a foil to the earlier, to show how much more he knew about handling this kind of composition by the end of his life. This would have been more important to him than we may recognize now: every Flemish composer up to Josquin’ s time had proved himself with canonic writing, Johannes Ockeghem (c. 1420–1497) being a leading example. If it is true that Josquin learnt from Ockeghem, it is possible that he saved up this tour de force just to show he could rival his master. In fact, there does seem to be a personal note of this kind: at “Et incarnatus est” in the Credo of Sine nomine Josquin quotes from his own lament on the death of Ockeghem, Nymphes des bois.

Ad fugam is thought to be an early work partly because the canon is so rigid; partly because the common material that opens every movement lasts ten bars (substantial by Josquin’s later standards); and partly because there is an original source in the library of the University of Jena that seems to carry some second thoughts by

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someone—possibly Josquin—who wanted to rework the canons in the Sanctus and Agnus. It is not often in music of this period that we are given a glimpse of a revision; and certainly in this case the difference between the elongated, Ockeghem-esque lines of the original and the sparser, tauter thinking of the later music is revealing. In Ad fugam the canon is always between the top part and the third part down, and always a fifth apart. Because it is so exactly ­repeated it is relatively easy to follow. Give yourself the thrill of being right inside the compositional process for once and follow the ­soprano and tenor parts in the opening first Kyrie. Armed with this melody you can follow the opening bars of all the movements. Canon as strict as this sets compositional challenges that mere cantus firmus setting does not come near. It helped that Josquin composed his own melodies to be treated in canon, but by deciding to be so strict he wrote a setting that overall is unusually dense and unvarying in texture.

In Sine nomine, the canons are distributed all over the texture —any of the voices may take any other as its partner. And where one of the voices does not actually have the main melody, it may well join in through imitation. The opening Kyrie again is a good example. It is written around a canon between the top and second parts (a fourth and fourteen bars apart), but before the second part enters—rather late in the writing—the third part has accompanied the top part with music very obviously related to the canonic ­melody. Eventually the bass enters doing the same thing. The Christe and second Kyrie then go on to have their own canonic schemes. The Gloria begins with imitation between the top and second parts, which is a feint since neither of them has the canon melody in earnest, despite singing the opening notes of it. And so on: such subtlety of writing over the length of a whole mass would take a short book to do it justice. I have listened to many pieces of music from all periods with the greatest enjoyment, not knowing that they had canons buried inside them: it is not necessary to follow even the skeleton key to Josquin’s mathematics I have given above to find these masses as engrossing as those that are free. Yet in a sense any successful piece of canonic writing is bound to have an extra dimension to it. The listener will

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always have the apprehension, however vague, of a presence in the music that complicates and intensifies. It is quite possible that you will never get to the bottom of why a canonic mass fascinates you, yet it is not necessary to analyze everything to enjoy it. Polyphony is always complex and canonic writing makes the most complex polyphony of all. The best polyphony does not have to be mathematically ingenious, but it should add something if it is.

—Peter Phillips

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Perspektiven der Renaissance Wie Musik und bildende Kunst zum Leben erwachten

Pe t e r P h i l l i p s

Es ist mir schon lange ein Rätsel, warum mögliche Verbin­ dungen zwischen Musik und den anderen Künsten nicht viel intensiver diskutiert werden. Es scheint, als wäre Musik eine Spezialis­tinnen und Spezialisten vorbehaltene Sprache, die von normalen Menschen nicht verstanden werden kann, was dazu führt, dass Musiker­innen und Musiker ständig als exzentrische Außenseiter behandelt werden. Musik wird oft als eine Kunst für sich angesehen, aber immerhin bleibt sie, sofern es sich um weltliche Musik handelt, sich selbst überlassen, ohne trivialisiert zu werden. Kirchenmusikerinnen und -musiker dagegen haben das Problem, sich den üblicher­weise ­ignoranten Forderungen des Klerus beugen zu müssen, der sie in gewisser Weise „besitzt“ und in ein Schattendasein – auf der Orgel­ empore oder im Chorraum – verbannt, aus dem sie regel­mäßig ­auftauchen, um sich der neuesten Gottesdienstmode anzu­passen. Vor diesem Hintergrund hebt sich Josquin des Prez als ungewöhnliche und inspirierende historische Figur umso stärker ab. Zu seiner Zeit war es vollkommen unüblich, dass ein professioneller Musiker finanziell relativ unabhängig von vermögenden Mäzenen war, zu denen so gut wie immer die Kirche gehörte. Er war ­vielleicht der erste Musiker überhaupt, der – nicht zuletzt dank einer wahrscheinlich nicht unerheblichen Erbschaft – ein Leben jenseits dieses Systems führte. Es gibt zahlreiche Zeitzeugnisse, die belegen, dass er ging, wohin es ihm gefiel, die Honorare verlangte, die ihm

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passten, und Dummheit wohl nicht ausstehen konnte. Vermut­lich war er nicht besonders beliebt: Schon die Tatsache, dass er zwei derart grandiose Messvertonungen auf Grundlage der „L’homme armé“-Melodie verfasste, muss viele seiner Kollegen ­geärgert haben, die sich abmühten, auch nur eine halbwegs ­brauchbare zustande zu bringen; dennoch war seine Anziehungskraft so groß, dass jeder ihn um sich haben wollte. Kein Wunder, dass diese beispiellose geistige Unabhängigkeit zu einzigartiger, visionärer Musik führte. Dennoch gibt es trotz Josquins offensichtlichen Selbstbewusstseins keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass er daran interessiert gewesen wäre, die Blockade zu überwinden, die die Musik so lange von den übrigen Künsten trennte. Vielleicht hat er sich ja mit dem Herzog von Mailand zum Kartenspielen zusammengesetzt (wie es die Überlieferung seiner Missa Di dadi nahelegt), aber hat er sich jemals mit Leonardo da Vinci getroffen, um über Technik zu diskutieren? Es wäre interessant gewesen, ein solches Gespräch zu belauschen und darüber zu berichten. Und hat sich Palestrina jemals mit Michelangelo zusammengesetzt, nachdem sie beide jahrelang in der Sixtinischen Kapelle ­gearbeitet haben und sich vom Sehen und dem Namen nach gut gekannt haben müssten? Oder Shakespeare mit Byrd im London des frühen 17. Jahrhunderts? Sie beschränkten sich anscheinend aus Gewohnheit auf das Leben in ihrer eigenen Blase; und es liegt ­womöglich an dieser Isolation, dass die Musik bei der Umsetzung der neuen ästhetischen Ideen, die von den bildenden Künsten vorangetrieben wurden, regelmäßig hinterherhinkte. Josquin wäre von seinem Temperament und seinem Ansehen her ausgesprochen gut dafür gerüstet gewesen, diesen Rückstand aufzuholen. Vielleicht hat er sich darum bemüht und dabei festgestellt, dass Musik nicht nur als unverständlich galt, sondern auch als zu altmodisch, um für einen Maler oder Dichter, der sich auf der Höhe seiner Zeit befand, von Interesse zu sein. Meine Vermutung ist allerdings, dass er gar nicht erst auf die Idee kam, es zu versuchen.

Die Person, von der ich mir am meisten wünschte, dass er sie getroffen und sich mit ihr ausgetauscht hätte, ist Filippo Brunelleschi. Dies war leider schon deshalb unmöglich, weil Brunelleschi, der Architekt der berühmten Kuppel von Santa Maria del Fiore in

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­ lorenz, bereits 1446 starb, bevor Josquin geboren wurde. Doch F dieser Gedankenaustausch wäre sicher faszinierend gewesen, denn Brunelleschi war der erste bildende Künstler, der damit experimentierte, Mathematik zur Beherrschung des Raums einzusetzen, sei es zweidimensional auf der Leinwand oder dreidimensional in Gebäuden. Vor ihm war in der Malerei mindestens zwei Jahrhunderte lang versucht worden, die dreidimensionale Welt realitätsgetreu darzustellen: eine Entwicklung, die von den flächigen Arbeiten der byzantinisch geprägten Meister über den instinktiven Gebrauch der Perspektive durch Künstler wie Cimabue und später Giotto verlief, bis die Schule von Siena diese Auffassung bis zum Äußersten ausreizte. Jetzt brauchte es Struktur statt inspiriertem Herumraten. Brunelleschis Spiel mit Rastern, Umkehrbildern und Spiegeln vor dem Baptisterium von Santa Maria del Fiore und dem benachbarten Palazzo Vecchio im frühen 15. Jahrhundert brachte schließlich genau die theoretische Grundlage hervor, die die intuitive Perspektive in das überführen konnte, was man heute Linearperspektive nennt. Nichts in der Malerei vor ihm war in der Lage gewesen, ein Bild wie ­Masaccios Trinità-Fresko in der Florentiner Kirche Santa Maria ­Novella hervorzubringen. Dies war eine vollkommen neue, auf ­genauesten Messungen basierende Art, den Bildraum zu organisieren. Wie nicht anders zu erwarten, wurden Brunelleschis Entdeckungen bald weiterentwickelt; und ich möchte behaupten, dass Josquin auf irgendeiner Ebene bewusst oder unbewusst von ihm beeinflusst war.

Die Entwicklungsverzögerung der Musik hat lange den Eindruck bestärkt, dass sie nicht ganz auf der Höhe ihrer Zeit sei, wenngleich rückblickend sichtbar wird, dass sie sehr wohl die ­gleichen Denkprozesse durchlief, nur eben in ihrem eigenen Rahmen. Es ist äußerst unwahrscheinlich, dass Josquin oder Brunelleschi in der Lage gewesen wären, dies zu durchschauen, obwohl Josquin, als er mit dem Komponieren begann, künstlerisch genau dort stand, wo Brunelleschi sich etwa 75 Jahre zuvor befand, als er seine berufliche Tätigkeit aufnahm. Sie hatten beide Stile ererbt, die um eine breitere Wirkung kämpften und noch in Gesten verhaftet waren, die dem spätmittelalterlichen Denken entstammten – allesamt gut erforscht und zur Zeit der Geburt dieser beiden Männer bereits abgenutzt.

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Betrachtet man die Gemälde, die Josquin in seiner Jugend in Flandern oder auf seinen Reisen in Italien gesehen haben könnte, genauer, stellt man fest, dass das musikalische Äquivalent der malerischen Perspektive die sogenannte Imitation zwischen den Stimmen eines Chorsatzes ist. Wie die bildenden Künstler des 14. Jahrhunderts bei ihren Darstellungen der Welt mit einer näherungsweisen Anordnung begannen (intuitive Perspektive), setzte Josquin zunächst eine ungefähre Imitation ein, wobei er nicht immer alle Stimmen einbezog und das Verfahren häufig nur in der Oktave und im Unisono verwendete, während in seinen letzten Werken und denen ­seiner Nachfolger für die vollständige Wirkung auch die Quinte ­erforderlich war. Und so wie Brunelleschi erkannte, dass nur die exakteste Mathematik das abzubilden vermochte, was man als kompromisslose räumliche Tiefe bezeichnen könnte, feilte Josquin an seinen mathematischen Fähigkeiten, um eine strenge Imitation mit allen Stimmen komponieren zu können. In beiden Kunstformen war es allein die Präzision des mathematischen Hinter­g runds, die den Betrachter tief in das Bild hineinführen konnte, sei dieses visuell oder auditiv. In der Musik gab es kein Moment, das so prägend gewesen wäre wie Brunelleschis Regeln der Linearperspektive, aber solche Regeln hatte sie auch gar nicht nötig. In seinen Messen entwickelte Josquin die Imitation weiter, bis in den letzten Messevertonungen die gewünschte Tiefe sichergestellt war. Im musikhistorischen Zusammen­ hang waren Josquins Entdeckungen ähnlich einflussreich wie die Brunelleschis in der Kunsttheorie, und sie wurden von seinen unzähligen „Schülern“ übergangslos weitergeführt, insbesondere von Adrian Willaert, Clemens non Papa und Nicolas Gombert. Doch auch wenn Musikerinnen und Musiker nicht so sehr dazu neigen, sich lautstark über ihre innovativen Methoden auszulassen, wie ihre Kolleginnen und Kollegen in der bildenden Kunst – es sei denn, sie heißen Claudio Monteverdi –, war Josquins Rolle bei dieser Huma­nisierung und Demokratisierung der musikalischen Sprache von entscheidender Bedeutung für alles, was in der Hochrenaissance folgte. Palestrinas fließender, klangvoller Stil wäre ohne ihn nicht möglich gewesen, ebenso wenig wie Raffaels äußerst präzise und raffinierte Entwürfe ohne die Neuerungen von Brunelleschi.

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Aber auch hier hinkte die Musik Palestrinas der Kunst Raffaels 75 Jahre hinterher. Aus heutiger Perspektive lässt sich erkennen, dass beide grundsätzlich die gleiche Richtung einschlugen, obwohl sie selber diese auch dann nicht hätten benennen können, wenn sie sich begegnet wären. Besonders was einen Punkt betrifft, bedaure ich diese Ungleichzeitigkeit. Möglicherweise hatte Josquin ja die Gelegenheit, die Pazzi-Kapelle in Florenz zu besuchen, als er in Italien arbeitete. Jedenfalls hätte ich mir gewünscht, dass ihr Architekt Brunelleschi ihn durch die neu errichtete Kapelle – sie wurde 1443 fertiggestellt – geführt und auf seine Reaktion gewartet hätte. Für mich sind die Harmonie und die Proportionen dieser Kapelle die perfekte Umgebung für die Art von Musik, die Josquin den größten Teil seines Lebens schrieb: Sie ist klein, von einem raffinierten Verständnis für Proportionen durchdrungen, harmonisch bis in den letzten Winkel, leicht und luftig. Stattdessen geht man seit Langem davon aus, dass für die Aufführung von Renaissance-Polyphonie am besten Gebäude aus dem Mittelalter geeignet sind. Doch warum? Gotische Kathedralen sind riesig, oft verwinkelt und können einschüchternd und dunkel sein; und zumindest in der frühen Zeit des Experimentierens mit ihnen wurden sie mit so wenig mathematischen Grundkenntnissen errichtet, dass sie überkonstruiert waren, um zusätzliche Sicherheit vor Unglücken zu bieten. Einer der Gründe ist wohl, dass in der Renaissancezeit kaum religiöse Gebäude errichtet wurden, nicht zuletzt weil es schon sehr viele gotische Kirchen gab. Musik wurde für das Singen in Gottesdiensten geschrieben, und die Gottesdienste fanden üblicherweise in gotischen Innenräumen statt. Meiner ­Meinung nach haben wir uns nie von der Geisteshaltung gelöst, die dieser historische Zufall mit sich brachte. Wir sind praktisch darauf geeicht, die Polyphonie nicht als das zu verstehen, was sie tatsächlich ist, sondern sie als eine Begleiterscheinung der gotischen Welt zu hören. Der Gedanke, die Musik Josquins in einem Gebäude gesungen zu hören, das von einem guten Renaissance-Architekten entworfen wurde, versetzt mich nach wie vor in Entzücken. Moderne Interpretinnen und Interpreten mögen ihr Bestes tun, um dem Publikum mit ihrem Gesang zu vermitteln, wie leicht, klangvoll, spielerisch und logisch konstruiert diese Musik ist, doch sie in einem Raum zu erleben, der auf Grundlage der gleichen schöpferischen Prinzipien entworfen wurde, wäre eine Offenbarung. Wenn der kulturelle Kontext den führenden Geistern erlaubt hätte, sich über ihre

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I­ nspirationsquellen auszutauschen, hätten sie sicherlich die Ähnlichkeiten erkannt und auf ihnen aufgebaut. Da sie das nicht getan ­haben, bleibt uns nur, ihre getrennten Entwicklungen im Rückblick nachzuzeichnen.

Übersetzung: Sylvia Zirden

Peter Phillips ist Gründer und musikalischer Leiter der Tallis Scholars, mit denen er in den vergangenen fünf Jahrzehnten Konzerte in aller Welt gab und mehr als 60 preisgekrönte Aufnahmen veröffentlicht hat. Er verfasste mehrere Bücher über Chormusik der Renaissance und seine Arbeit mit dem Ensemble, war 33 Jahre lang Musikkolumnist des Spectator und ist seit 1995 Herausgeber der Fachzeitschrift The Musical Times.

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Renaissance Perspectives How Music and the Visual Arts Came Alive

Pe t e r P h i l l i p s

I have always wondered why there is so little discussion about possible connections between music and the other arts. It is as if music is a language reserved for specialists, with the result that since that language supposedly cannot be understood by ordinary people, its practitioners are forever treated as eccentric outsiders. Music is often held to be an art apart, but at least when it is secular music it is left alone without being trivialized. The problem for church ­musicians, on the other hand, is that they have to conform to the standardly ignorant demands of the clergy, who in a sense own these musicians, pushing them into the shadowy places—the organ loft or choir room—from where they periodically emerge, ready to try to fit in with the latest fad of religious worship, servants. It is in this context that Josquin des Prez stands out as such a ­remarkable and inspiring historical figure. In his time, it was unknown for a professional musician to live independently of wealthy patrons, which almost always included the church: he may have been the first musician ever to have lived outside this system (a ­ substantial inheritance might have helped him to do so). There is plenty of contemporary evidence that shows he went where he pleased, charged what he pleased, and probably did not suffer fools gladly. It is very likely that he was not popular: the way he wrote two such show-off mass settings of the “L’homme armé” melody must have irritated plenty of his colleagues, who struggled to write one of any worth; yet his allure was such that everyone wanted him in their community.

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It comes as no surprise that this unique independence of mind led to uniquely visionary music. Nonetheless, despite his evident self-esteem, there is no concrete evidence that he was interested in getting round the block that has so long separated music from the other arts. He may have sat down with the Duke of Milan and played cards with him (as suggested in the way his Missa Di dadi has been transmitted), but when did he sit down with Leonardo da Vinci and discuss technique? That would have been an interesting conversation to have overheard and reported. For that matter, when did Palestrina sit down with Michelangelo, for all that they both worked for years in the Sistine Chapel, and would have known each other well by sight and reputation? Or Shakespeare and Byrd in London in the early years of the 17th century? They seem to have lived in bubbles, restricted by habit; and it may be because of this block that music has standardly lagged behind in taking on the new aesthetic ideas the more visual arts have promoted. Josquin was unusually well-placed, by temperament and reputation, to reverse this lag. Perhaps he tried, only to find that music was not only held to be incomprehensible but too old-fashioned to be interesting to a painter or poet, living in more up-to-date milieux. My guess is that he did not think to try.

The person I would most like him to have met, and exchanged ideas with, was Filippo Brunelleschi. This would have been im­ possible, since Brunelleschi, architect of the famous cupola on Santa Maria del Fiore in Florence, died in 1446, before Josquin was born. But the exchange would surely have been fascinating, since Brunelleschi was the first visual artist to experiment with how mathematics could be used to control space, whether two-dimensional on canvas, or three in buildings. Before him in painting there had been at least two centuries of trying to represent the threedimen­sional world realistically: a progression that went from the flat-surface work of the Byzantine-influenced masters through the instinctive use of perspective by men such as Cimabue and subsequently Giotto, until the Sienese school took this way of thinking as far as it could go. At that point what was needed was structure rather than inspired guesswork. Brunelleschi’s playing with grids, reverse images, and mirrors outside the baptistery of Santa Maria del Fiore and the neighboring Palazzo Vecchio in the early 15th

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century would eventually produce exactly the theoretical back-up which could turn instinctive perspective into what is now called linear perspective. Nothing that went before him in painting was able to deliver a picture like Masaccio’s Trinità fresco in the Florentine church of Santa Maria Novella. Here was a completely new way to organize pictorial space, controlled by the most exact measurement. Unsurprisingly, Brunelleschi’s discoveries were soon taken further; and it is my contention that at some level, whether consciously or not, Josquin was influenced by him.

The developmental lag has long fueled the impression that music is not fully of its time, when with hindsight we can see that it was following the same lines of thought all along, in its own terms. It is very unlikely that either Josquin or Brunelleschi would have been able to see this, even though Josquin, when he started writing music, was artistically poised exactly where Brunelleschi found himself when he started his professional work, some 75 years earlier. They had both inherited a style that was struggling to broaden its impact, both styles stuck in gestures that were associated with late medieval thinking, all well explored and wearing thin by the time these two men were born. It will become apparent, when we look in greater detail at the paintings Josquin could have seen, either as a youth growing up in Flanders, or from his traveling in Italy, that the musical equivalent of painterly perspective was what is called imitation between the voice parts of a choral composition. Just as visual artists of the 14th century started out with approximate placement in their representations of the world (instinctive perspective), so Josquin started out with quite rough and ready imitation, not always including every voice in the scheme, and often deploying the method at the octave and unison only, where in his last works, and those of his followers, the full ­effect would require the fifth as well. Just as Brunelleschi came to realize that only the most precise mathematics could depict what might be called relentless depth of field, so Josquin refined his use of mathematics to be able to write strict imitation between all his voices. In both art forms it was the strictness of the mathematical background that alone could lead the observer deep into the ­picture, whether visual or aural.

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There was never a moment in music that was as defining as Brunelleschi’s rules of linear perspective, but such rules were not ­really needed. In his mass settings Josquin developed his use of imitation, until by the last settings the desired spaciousness was securely in place. In the context of music history, Josquin’s discoveries were quite as influential as Brunelleschi’s in art theory, leading smoothly on to his innumerable “pupils,” especially Adrian Willaert, Clemens non Papa, and Nicolas Gombert. But although musicians tend not to shout so loudly about their innovative methods as painters and architects—unless they are Claudio Monteverdi—, the role played by Josquin in this humanizing and democratizing of musical language was crucial to everything that followed in the High Renaissance. Palestrina’s smoothly sonorous style would have been impossible without it, just as Raphael’s highly controlled and refined designs would have been impossible without Brunelleschi’s inno­vations.

But there again, the music of Palestrina lagged the same 75 years behind the art of Raphael. We can see now that they were going in the same basic directions, though they themselves could not have referred to it, even if they could have met. In one instance I regret this time lag particularly. Maybe Josquin did have the chance to visit the Pazzi Chapel in Florence when he was working in Italy. Either way I would like its architect, Brunelleschi, to have taken him into the newly built chapel—it was finished in 1443— and waited for his reaction. To me the harmony and proportions of that chapel are the perfect setting for the kind of music Josquin was writing for much of his life: small in scale, controlled by a sophisti­ cated understanding of proportions, harmonious in all their angles, light and airy. Yet for a long time now it has been assumed that the most suitable buildings for the performance of Renaissance polyphony are from the medieval period. Why? Gothic cathedrals are immense, often rambling, and can be forbidding and dark; and, at least in the early stages of experimenting with them, put together with so little knowledge of basic mathematics that they were overbuilt to provide extra security against disaster. Part of the problem is that there were not many religious buildings constructed in the Renaissance period, not least because there were already very many Gothic ones. Music was written to be sung in services, and the services were customarily

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held in Gothic interiors. It is my opinion that we have never ­escaped from the mindset that this historical accident engendered. In effect this has meant that we are pre-conditioned against understanding polyphony for what it really is, hearing it as an adjunct to the Gothic world. I remain entranced by the possibility of hearing Josquin’s music sung in a building designed by a properly Renaissance architect. Modern performers can do their best to lead the listener into hearing how light, sonorous, playful, logically constructed it is in their singing, but to experience it between walls that were designed on the same creative principles would be revelatory. If the leading geniuses had had the cultural context to talk their sources of inspiration through, they would surely have seen the similarities and built on them. Since they did not, all we can do is map out their separated progresses with the benefit of hindsight.

Peter Phillips is the founder and director of The Tallis Scholars, with whom he has appeared in concert all over the world and released more than 60 award-winning ­recordings. He has written several books on Renaissance choral music and his work with the ensemble, contributed a regular music column to The Spectator for 33 years, and has been the publisher of The Musical Times since 1995.

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Donnerstag

14. Juli 2022 15.00 Uhr

L’homme-armé-Messen Peter Phillips Musikalische Leitung The Tallis Scholars


Josquin des Prez (um 1450–1521) Missa L’homme armé super voces musicales I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor, Alex Chance Alt Steven Harrold, Simon Wall, Guy Cutting, Ben Hymas Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley, Robert Macdonald Bass

Pause

Missa L’homme armé sexti toni I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Alex Chance Alt Steven Harrold, Guy Cutting, Ben Hymas, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley Bass

Die frühesten Messen

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L’homme-armé-Messen Missa L’homme armé super voces musicales und Missa L’homme armé sexti toni

In mindestens 31 Fällen diente die „L’homme armé“-Melodie während der Renaissance als Grundlage einer Messvertonung. Die beiden L’homme-armé-Messen Josquins stehen etwa in der Mitte dieses Spektrums, komponiert nach den Beiträgen von Guillaume Dufay und Johannes Ockeghem und vor jenen von Cristóbal de Morales und Giovanni Pierluigi da Palestrina. Daneben schrieben auch Busnoys (der, wie Pietro Aaron 1523 erwähnt, der Komponist des zugrundeliegenden Gesangsstücks gewesen sein soll), Regis, Tinctoris, Obrecht, Brumel, Mouton, de Silva, Carver und viele andere Messen auf Grundlage von „L’homme armé“. Die Tradition wurde erst im 17. Jahrhundert von Carissimi abgeschlossen, der sie mit einem zwölfstimmigen Werk krönte. Die älteste verlässliche Quelle der Melodie „L’homme armé“ ist ein in Neapel aufbewahrtes Manuskript aus dem späten 15. Jahrhundert, das sechs Messen unbekannter Verfasser nach dieser Melodie enthält. Das Lied selbst ist auf Seite 5 zu finden. Der Text lässt sich in etwa so übersetzen: „Fürchte den bewaffneten Mann. Man hört, dass jeder einen Haubregon [einen ärmellosen Brustharnisch] aus Eisen anlegen soll.“ Hintergrund könnte ein Kreuzzug gegen die Türken gewesen sein. Diese neapolitanische Version von „L’homme armé“ wirft zwei ungeklärte Fragen auf, nämlich ob es sich hier um ein ursprünglich monophones Gesangsstück handelt oder lediglich um den Tenor einer verlorengegangenen dreistimmige Chanson, und ob es ursprünglich mehrere Strophen hatte, wie es die Refrainstruktur eigentlich nahelegt.

Beim ersten Hören scheinen die beiden L’homme-armé-­ Messen Josquins Welten voneinander entfernt. Man könnte meinen, Super voces musicales sei eine mittelalterliche Komposition, Sexti toni dagegen ein ausgereiftes Renaissancewerk. Doch lässt das Manuskript darauf schließen, dass beide wahrscheinlich der sogenannten „mittleren“ Schaffensperiode Josquins entstammen, die um 1500 endete, Super voces musicales wohl aber zuerst entstanden ist. Beide

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Messen wurden 1502 von Ottaviano Petrucci im Druck heraus­ gegeben. Der Titel Super voces musicales deutet darauf hin, dass die „L’homme armé“-Melodie hier nacheinander auf jedem Ton des Hexachords zitiert wird. Die so ansteigende Reihe beginnt im Kyrie auf C, geht im Gloria nach D über, im Credo nach E, im Sanctus nach F (vollständig dargeboten in beiden „Hosannas“), im ersten Agnus Dei nach G (unvollständig) und im dritten nach A (mittlerweile ist die Tonfolge zu hoch, um von den Tenören gesungen zu werden, und ist auf die Oberstimme übertragen worden). Die einzigen Abschnitte, die ganz frei von der Melodie sind, sind das „Pleni sunt caeli“ im Sanctus, das Benedictus und das zweite Agnus Dei – die beiden letztgenannten Abschnitte sind sogenannte Proportionskanons für zwei bzw. drei Stimmen. Hier beginnen alle Stimmen gleichzeitig mit derselben Melodie, singen sie aber in unterschiedlichen ­Geschwindigkeiten. Diese Komplexität machte Super voces musicales im 16. Jahrhundert zur bei weitem berühmtesten Messvertonung Josquins, die nicht nur in Notendrucken verewigt wurde: Das zweite Agnus Dei war der von Gelehrten wie Glarean meistdiskutierte Abschnitt der Messe; es verziert gar als Einlegearbeit das Chorgestühl in San Sisto in Piacenza. Eine Messe konnte die schönsten Akkorde zu den berührendsten Worten enthalten – doch interessierte sich niemand dafür, wenn in der Nähe ein Proportionskanon stand. Man hatte damals eine ganz bestimmte Vorstellung vom Weg zu Gott. Die jeweils zweite Hälfte des Gloria und Credo (ab „Qui tollis“ bzw. „Et incarnatus est“) stützt sich auf die Melodie in strengem Krebsgang. Das Credo enthält noch ein zusätzliches Zitat der ­Melodie, und zwar in richtiger Anordnung von Anfang bis Ende, angefangen bei „Confiteor“ und in synkopiertem Rhythmus. Super voces musicales klingt altmodischer als Sexti toni, weil das mathematische Grundgerüst hier viel deutlicher zu Tage tritt. Untypisch im Vergleich mit Musik der Spätrenaissance ist auch Josquins Entscheidung, hier für vier Gesangsstimmen zu komponieren, die einander ständig überlappen: Die Oberstimme ist tief angesetzt, die Unterstimme hoch, und die beiden Mittelstimmen haben annähernd den gleichen Stimmumfang. Dennoch kann kein Zweifel bestehen, dass er genau wusste, was er tat, denn das charakteristisch dichte Gefüge dieser Messe ist ebenso ausdrucksstark, wenn auch auf andere Art, wie die um einiges weiter gespannte Stimmführung in Sexti toni.

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Josquins zweite Messe nach der „L’homme armé“-Melodie wird Sexti toni („im sechsten Modus“) genannt, weil die Melodie hier so transponiert ist, dass F (statt dem üblicheren G) zum Schlusston wird und das Werk so eine Durtonalität erhält. Sie gilt nicht zu Unrecht als die „modernere“ der beiden Messen. Während Josquin die berühmte Melodie in Super voces musicales unverändert in derselben Stimme zitiert, finden wir sie in Sexti toni in oftmals nicht wiedererkennbare Fragmente zerlegt und auf alle vier Stimmen verteilt. Während in Super voces musicales die meiste Zeit ein dichter, vierstimmiger Satz dominiert, ist Sexti toni durchsetzt mit Duetten; Imitation und Sequenzen lassen die Textur leicht und zwanglos ­erscheinen. Während die Kanons in Super voces musicales mit ihrer Gelehrtheit und Raffinesse beeindrucken, wirken jene in Sexti toni locker und mühelos, besonders im großartigen Agnus Dei III. ­ Sexti toni wirkt wie eine Fantasie über das „L’homme armé“-Thema, ­Super voces musicales wie eine durchexerzierte Kompositionsübung. Schon einige von Josquins Vorgängern hatten sich bemüht, die „L’homme armé“-Melodie in ihren Messen etwas „versteckt“ einzuarbeiten: Dufay hatte sie im Krebs, d.h. rückwärts zitiert, Busnoys in Umkehrung (d.h. alle Intervallschritte an der Horizontalen gespiegelt), Ockeghem und die anonymen Messen des Manuskripts in Neapel schließlich in Krebsumkehrung. Doch offenbar hat Josquin als erster bemerkt, dass sich die Melodie gleichzeitig in ihrer ­Originalgestalt und im Krebs zitieren lässt (eine gewisse Flexibilität der Notenwerte, Pausen und hinzugefügten Vorzeichen vorausgesetzt). Genau das tun die beiden tiefsten Stimmen im dritten Agnus Dei: In der ersten Hälfte des Stücks singt der Tenor die gesamte Strophe in langen Notenwerten, während der Bass mehr oder ­weniger gleichzeitig den gesamten Refrain in langen Noten rückwärts intoniert. Genau in der Mitte des Satzes tauschen die beiden Stimmen: Jetzt hat der Tenor die Strophe im Krebs, der Bass den Refrain im Original. Das musikalische Material der ersten Hälfte wird so in der zweiten Hälfte exakt wiederholt, nur eben anders herum – d.h. der erste Takt gleicht dem letzten, der zweite dem vorletzten und so weiter. Hier zeigt sich Josquins außergewöhnliche kompositorische Virtuosität, doch die Klangwelt dieses letzten ­Agnus Dei wirkt absolut neuartig und erinnert, wenn überhaupt, an die Techniken moderner Minimalisten wie Philip Glass.

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L'homme armé Masses Missa L’homme armé super voces musicales and Missa L’homme armé sexti toni

There were at least 31 mass settings based on the “L’homme armé” melody in the Renaissance period. The two by Josquin were written about halfway through the spectrum, between those of Guillaume Dufay and Johannes Ockeghem on the one hand and the two each by Cristóbal de Morales and Palestrina on the other. Other prominent contributors to the tradition included Busnoys (who was said, by Pietro Aaron in 1523, to have been the original composer of the song), Regis, Tinctoris, Obrecht, Brumel, Mouton, de Silva, Carver, and several others. The series was finally closed in the 17th century by Carissimi, who crowned the tradition with a twelve-voice work. The earliest reliable source of the “L’homme armé” melody is a late–15th century manuscript in Naples, which contains six anonymous masses based on the song alongside the song itself. The text may be translated: “Fear the armed man. Word has gone out that everyone should arm himself with a haubregon of iron [a sleeveless coat of mail],” which may refer to a crusade against the Turks. This ­Neapolitan version of “L’homme armé” poses two unresolved problems: whether it was originally a monophonic song or the tenor of a lost three-voice chanson; and whether it originally had any more verses, as the refrain structure rather suggests.

At first hearing, Josquin’s two L’homme armé masses are worlds apart. One might guess that Super voces musicales was a medieval composition and Sexti toni a mature Renaissance one. In fact, the manuscript evidence is that they were probably both from Josquin’s so-called middle period, which ended around the year 1500, though it is assumed that Super voces musicales was written first. They were both printed in Ottaviano Petrucci’s Misse Josquin in 1502. The title Super voces musicales indicates that the “L’homme armé” melody is quoted in turn on every note of the hexachord. This ascent starts on C in the Kyrie, proceeds to D in the Gloria, to E in the Credo, F in the Sanctus (given again, complete, in both

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“Hosannas”), G in the first Agnus Dei (incomplete) and A in the third (by which time it has at last become too high for the tenors to sing and has been transferred to the top part). The only sections to be completely free of the tune are “Pleni sunt caeli” in the Sanctus, the Benedictus, and the second Agnus Dei. The two latter sections are mensuration canons for two and three voices respectively: here the voice parts start the same melody at the same time but proceed at different speeds. It was this level of sophistication that made Super voces musicales by far the most famous of Josquin’s mass settings in the 16th century, even having the unique honor of an intarsiated version: the Agnus Dei II was inlaid in the choirstalls of San Sisto in Piacenza. And it was the complexity of this section that was most talked about, not least by Glarean. A composer could write the most beautiful series of chords to the most affecting words in the mass and have this ignored if he had also written a mensuration canon nearby. They thought differently then about how to access God. The second halves of the Gloria and Credo (beginning at “Qui tollis” and “Et incarnatus est”) are based on the melody in strict ­retrograde, with the Credo containing one more statement of the melody, the right way round, from “Confiteor” in a syncopated rhythm. It is because the mathematical framework in this mass is more apparent than in Sexti toni that it sounds the more old-fashioned of the two. Also untypical, compared to late-Renaissance music, is Josquin’s d­ ecision to write here for four voice parts that continuously overlap each other: the top part low, the bottom part high and the two in the middle of roughly complementary ranges. But there can be ­no doubt that he knew exactly what he was doing, for the ­characteristically dense texture of this mass is just as expressive, though in a different way, as the rather widely spread writing in Sexti toni.

Josquin’s second mass setting based on the “L’homme armé” tune, Sexti toni (“in the sixth mode”), is so called because he has transposed the melody to make its final note F (as opposed to the more normal G), giving it a major-key tonality. Considered the more “modern” of the two settings, it has gained its reputation for good reasons. Where Super voces musicales quoted the famous melody

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unaltered in the same voice, in Sexti toni we find it broken into ­often unrecognizable fragments, dispersed among all four voices. Where Super voces musicales maintained a solid, four-voice texture much of the time, Sexti toni is filled with duets, its vocal texture kept light and informal through the use of sequences and imitation. Where Super voces musicales had canons that impress by their learning, Sexti toni has canons that give the impression of being easy-going, especially the sublime six-voice Agnus Dei III. This setting is like a fantasia on the theme of the armed man; the other more like a through-composed exercise on a given theme. A number of composers before Josquin had worked on how to quote the “L’homme armé” melody in slightly hidden ways: Dufay had given it backwards, Busnoys had inverted it, the Naples settings and Obrecht had used it in retrograde-inversion. However, Josquin seems to have been the first to notice that parts of the armed man melody could be quoted in its original form and in retrograde at the same time (assuming note-lengths, rests, and ficta—that is accidentals —between the phrases were a bit malleable). This is what the lowest two voices of his third Agnus are doing: in the first half of the piece the tenor sings the whole of the verse in long notes. At the same time (more or less) the bass sings the whole of the refrain in long notes in retrograde. At the half-way point they cross over: the tenor now sings the whole of the verse in retrograde to the end, and the bass sings the whole of the refrain in its original form to the end. As a result, the music that they have created before the halfway point is exactly repeated in the second half, but backwards. So the first bar is the same as the last bar, the second the same as the ­second-last, and so on. While this shows exceptional compositional virtuosity, the actual sound in this final Agnus Dei is most unfamiliar, suggesting, if anything, the methods of such modern minimalist composers as Philip Glass.

—Peter Phillips

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Frühe und mittlere Messen Peter Phillips Musikalische Leitung The Tallis Scholars

Josquin des Prez (um 1450–1521) Missa Gaudeamus (um 1490–95) I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor, Alex Chance Alt Simon Wall, Guy Cutting, Ben Hymas Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley Bass


Missa D’ung aultre amer I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus V. Tu solus qui facis mirabilia VI. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor Alt Steven Harrold, Simon Wall, Guy Cutting, Oscar Golden-Lee Tenor Simon Whiteley, Robert Macdonald Bass

Pause

Missa Di dadi (um 1484–89) I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus –  Benedictus V. Agnus Dei Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor Alt Steven Harrold, Simon Wall, Ben Hymas, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Robert Macdonald Bass

Die frühesten Messen

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Frühe und mittlere Messen Missa Gaudeamus, Missa D’ung aultre amer und Missa Di dadi

Die Missa Gaudeamus verkörpert die Kunstfertigkeit der Renaissance in ihrer intensivsten Form. Ausgehend von einer umfangreichen Choralmelodie kommen hier ausgeklügelte, doch dabei gut hörbare mathematische Kompositionsverfahren zum Einsatz. Die Messe markiert offenbar die zeitliche Mitte in Josquins Beschäftigung mit der Form und entstand möglicherweise als neunte der 18 Messvertonungen, die ihm üblicherweise zugeschrieben werden – etwa 20 Jahre nach seinen ersten und 20 Jahre vor den letzten Beiträgen zur Gattung. Josquin zitiert die vollständige Choralmelodie nur zweimal, ­einmal im Gloria und einmal im Credo, und zwar jeweils im Tenor in zumeist langen Noten, wobei die Konturen der Melodie ­beträchtlich verziert werden. Es ist unwahrscheinlich, dass durchschnittliche Hörerinnen und Hörer sie als zusammenhängende ­Melodie wahrnehmen. In den übrigen Sätzen konzentrierte Josquin sich auf die ersten sechs Töne des Chorals, die er insgesamt 61 Mal erklingen lässt. Dieses Melodiefragment ist fast jedes Mal erkennbar und hält die Gesamtstruktur in überzeugender Weise zusammen. Markante Beispiele für das Fragment sind zu Beginn des Kyrie, Gloria und Hosanna zu hören, wo alle vier Stimmen damit einsetzen. Jedoch hat Josquin jeweils den Quintsprung vom dritten zum ­vierten Ton des Chorals mit Sekundschritten ausgefüllt. Zu Beginn des Gloria singt der Tenor, der als letzte Stimme in das imitative Geschehen eintritt, nichts anderes als diese Phrase: sie erklingt 45 Takte lang als Ostinato bis zur ersten Vollkadenz. Im Sanctus wird das Fragment nur von den Sopranstimmen gesungen, und zwar in ­dramatisch hoher Tonlage und ausgehalten, wodurch eine neue, trompetenartige Klangfarbe entsteht. Das wahre mathematische Feuerwerk dieser Vertonung findet sich jedoch, wie so oft in Josquins Messen, im letzten Agnus Dei. Hier wird der Choralausschnitt in „einer schwindelerregenden Reihe von Transpositionen“ (Willem Elders) in allen Stimmen ­zitiert. Der Tenor führt das Ganze an, indem er die Passage zunächst (auf G beginnend) zweimal in ursprünglicher Form vorträgt, ­worauf der Bass (auf D beginnend), der Sopran (auf G beginnend) und der Alt (auf C beginnend) antworten. So weit, so gut (und

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normal); dann jedoch übernehmen Bass und Tenor die Führung mit einer rasanten Reihe von Zitaten und Kanons, die in der Tat atemberaubend wirken. Josquin hatte entdeckt, dass die sechs Töne des Fragments in bestimmten, miteinander verbundenen Tonlagen überlappt werden können, was dazu führt, dass die Passage bei jeder Wiederholung um eine Terz abfällt (der Bass beginnt seine erste Version auf C, die nächste auf A und die nächste auf einem tiefen F, während der ihn überlappende Tenor auf G beginnt, dann auf E und schließlich auf dem tiefen C). Das tiefe F der Bassstimme markiert das einzige Mal in der gesamten Messe, dass dieser Ton erklingt, womit sich auf sehr wirkungsvolle Weise die Coda und das Ende des Werks ankündigen.

Die Missa D’ung aultre amer ist in mancherlei Hinsicht ein Sonderling im Korpus von Josquins Messvertonungen. Sie ist mit einigem Abstand seine kürzeste Messe, nur 364 Takte lang, während alle anderen mehr als 500 umfassen und die längste, De beata virgine, gar 882. Die Kürze erklärt sich durch den syllabischen Stil, insbesondere im Gloria und Credo, wo Texte ineinandergeschoben und verschiedene Abschnitte gleichzeitig gesunden werden. Im Kyrie, Sanctus und Agnus wird trotz kurzer Phrasen eine größere Freiheit spürbar – besonders ungewöhnlich ist, dass das Kyrie länger ausfällt als das Gloria. Dieser Stil rührt wahrscheinlich von der damals ­bedeutsamen Gattung der polyphonen Laude in der ambrosianischen Liturgie Mailands her, wo Josquin während der 1480er Jahre arbeitete. Ein weiteres Charakteristikum dieser Tradition war es, das Benedictus und zweite „Hosanna“ durch eine Motette zu ersetzen – hier ­erklingt an dieser Stelle Tu solus qui facis mirabilia. In dieser Messe fehlt es an Platz für die Zurschaustellung polyphoner oder klanglicher Kunststücke. Weder kommen Duette vor (alle drei Agnus Deis etwa sind sehr kurz gehalten und vollbesetzt), noch Kanons, noch hinzugefügte Stimmen. Im Mittelpunkt stehen hier ausnahmsweise schlichte Akkorde, insbesondere in der Motette Tu solus qui facis mirabilia. Man sollte meinen, dass schlichte Akkorde sich einfacher setzen lassen als komplexe Polyphonie, und doch hat sich über die Jahre bei vielen Komponistinnen und Komponisten gezeigt, wie schnell eine solche Musik vorhersehbar und langweilig wirken kann. Tu solus qui facis hingegen besteht aus perfekt platzierten,

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feierlichen und klangvollen Akkorden, die eine unvergleichliche Atmosphäre der Ruhe und Introspektion schaffen. Hinter ihnen, und auch hinter vielen Details der restlichen Vertonung, steht die Chanson D’ung aultre amer von Johannes Ockeghem. Josquin verehrte Ockeghem mehr als alle anderen Musiker, was dieser Tatsache für ihn besondere Bedeutung verleiht. Er wollte Ockeghem damit seine Reverenz erweisen – und dass ihm dies selbst dort gelang, wo die Liturgie Zurückhaltung forderte, zeigt, dass er jeder Herausforderung gewachsen war.

Kann große Musik vom Würfeln inspiriert werden? Diese Möglichkeit war offensichtlich eine reizvolle Idee für Josquin, der in seiner Missa Di dadi der Tenorstimme in mehreren Sätzen ein Würfelpaar mit verschiedenen Augenzahlen voranstellte. Und die Augenzahlen zeigen, dass er wusste, wie man spielt – sie machen Halt, wenn eine Gewinnkombination geworfen wurde. War ihm dies geläufig, weil er an einem Ort lebte, wo das Glücksspiel so verbreitet war, dass es sogar mit der Heiligen Messe in Verbindung gebracht werden konnte? Das Mailand des ausgehenden 15. Jahrhunderts unter der Herrschaft der Sforza war als Glücksspielmetropole weithin bekannt – die herzogliche Familie nahm dabei eine führende Rolle ein. Da es zuverlässige Hinweise darauf gibt, dass Josquin in den 1480er Jahren in der Stadt tätig war, darf man wohl davon ausgehen, dass er der Mode sowohl bei Hofe als auch im Privaten folgte. Das wäre jedenfalls eine plausible Erklärung dafür, weshalb er die Würfel in das Notationsschema der Messe einfügte – möglicherweise als freundschaftlichen Wink an die Sänger, und um die Anerkennung des Herzogs zu ernten. Würfelte er gar den Kompositionsplan aus? Auf den ersten Blick scheinen diese Würfel lediglich anzuzeigen, wie die Tenöre die Töne der Chansonmelodie, die der Messe zugrunde liegt, innerhalb ihrer Stimme verteilen müssen – als cantus firmus dient Josquin die Tenorstimme die Chanson N’aray je jamais mieulx von Robert Morton. So steht etwa dem Kyrie ein Würfelpaar voran, das eine Eins und eine Zwei zeigt, womit den Sängern bedeutet wird, die Tondauern zu verdoppeln, um mit den anderen drei Stimmen zu harmonieren. Im Gloria zeigen die Würfel eine Vier und eine Eins an, so dass hier die Tondauern der Chanson vervierfacht werden. Im Credo wird sechs zu eins angezeigt, im Sanctus

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Frühe und mittlere Messen


fünf zu eins. Es ergeben sich dabei jedoch Schwierigkeiten. Im Credo muss die Proportion zwölf zu eins sein, nicht sechs, sonst passen die Töne nicht zueinander. Im Sanctus lässt sich die Vorgabe von fünf zu eins nicht mit allen Noten des Originals realisieren, sondern nur mit den längeren Notenwerten. Und dann finden sich nach dem „Pleni sunt caeli“ plötzlich gar keine Würfel mehr. Zum Glück dachte Ottaviano Petrucci, der Verleger der Messe, mit und notierte die jeweils korrekten Auflösungen der Tenorstimmen aus. Obwohl damit die Würfel eigentlich überflüssig wurden, hielt er sie dennoch für wichtig genug, um sie mit abzudrucken – was uns wiederum vor die Frage stellt: Warum sind sie da? Darüber sind viele Theorien aufgestellt worden. Einige Erklärungen meinen in der ersten Textzeile der Chanson, „N’aray je jamais ­mieulx“ („Soll ich es nie besser haben?“) einen Hinweis zu erkennen. Ob diese Überschrift jedoch eine religiöse Bedeutung hat oder ­ rein weltlicher Natur ist, bleibt unklar. Handelt es sich vielleicht um nicht mehr als eine konventionelle Liebesklage? Oder die ­Beschwerde eines habgierigen Spielers? Ist es die Bitte der leidenden Seele um Erlösung? Diese letzte Möglichkeit ist von mehreren ­Untersuchungen aufgegriffen worden, die nahelegen, dass das Verschwinden der Würfel nach dem „Pleni sunt caeli“ darauf hindeuten könnte, dass sich genau an diesem Moment im Ablauf der mittel­ alterlichen Messe ein Stimmungswechsel vollzog, denn das folgende „Hosanna“ und Benedictus dienen als Rahmen für die Wandlung (die Transsubstantiation von gesegnetem Brot und Wein). Da es sich hierbei um den dramatischsten und bedeutungsvollsten Moment der Messfeier handelt, mutet es kaum überraschend an, dass er von Komponisten musikalisch besonders hervorgehoben wurde. Noch eine weitere Einzelheit ist von Bedeutung: In den mit Würfeln versehenen Abschnitten zitiert Josquin nur die ersten sechs Takte von Mortons Tenorstimme. Im „Hosanna“ jedoch (und auch im Agnus Dei) lässt er den Tenorpart der Chanson – insgesamt 23 Takte – vollständig erklingen, was erklärt, weshalb diese Sätze plötzlich deutlich umfangreicher sind als die vorangehenden. Und wenn die Mortonsche Melodie im dritten Agnus zum letzten Mal erklingt, teilt Josquin sie schließlich den Bässen zu und lässt sie auf dem Ton D beginnen (wie es auch bei Morton erfolgt), nicht auf G, wie es sonst in der Messe der Fall ist – das Ergebnis ist eine überzeugende Schlusswirkung. Peter Phillips

Frühe und mittlere Messen

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Early and Mid-Period Masses Missa Gaudeamus, Missa D’ung aultre amer und Missa Di dadi

Missa Gaudeamus represents Renaissance artistry at its most intense. Largely based on a substantial chant melody, it deploys mathematics in a number of clever, but rewardingly audible ways. It seems to have come from the very middle of Josquin’s mass-writing career, possibly the ninth of the 18 settings standardly attributed to him, and was possibly written 20 years after his earliest examples and 20 years before his last. Josquin only quotes the whole of the chant melody twice, once in the Gloria and once in the Credo, always in the tenor and usually in long notes, with a considerable degree of embellishment to its contours. It is unlikely that the average listener will hear this as a coherent melody. However, in the remaining movements, Josquin concentrated on the first six notes of the chant only, which he quotes 61 times in total. These snippets can almost always be heard and hold the whole structure most satisfyingly together. Prominent examples of this snippet come at the start of the Kyrie, Gloria, and “Hosanna,” where all four voices enter with it, though in every case Josquin has filled in the leap of a fifth between the third and fourth notes in the chant with a scale. At the start of the Gloria the tenor, which comes last to the imitative scheme, once started sings nothing other than this phrase as an ostinato up to the first full cadence, 45 bars later. In the Sanctus, the snippet is sung only by the sopranos, dramatically high and sustained so that a new sonority, trumpet-like, is introduced. However, the real mathematical fireworks in this setting, as so ­often in Josquin’s masses, are in the final Agnus Dei. Here the snippet is quoted in every part in what has been described by Josquin scholar Willem Elders as “a vertiginous series of transpositions.” The tenor starts the process with two straight statements (starting on G), which lead to answers in the bass (starting on D), the soprano (starting on G), and alto (starting on C). So far, so normal. But at this point the bass and tenor parts take over, unleashing a rapid ­series of quotations and canons, which are indeed dizzying. Josquin worked out that the six notes of the snippet can be made to overlap at a number of interconnecting pitches, which cause the statements to fall by a third at each repetition (the bass proceeds from a state-

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Early and Mid-Period Masses


ment starting on C, to one on A, to one on low F, while the ­overlapping tenor proceeds from G, to E, to low C). This low bass F marks the only time the note is used in the whole setting, powerfully heralding a coda and the final close.

Missa D’ung aultre amer is somewhat of an oddball in Josquin’s mass corpus. It is by some measure his shortest mass—numbering 364 bars, where all the others have more than 500; and the longest, De beata virgine, 882. This brevity comes from a syllabic style, especially in the Gloria and Credo where the texts are telescoped so that ­different sentences overlap and are sung at the same time. The Kyrie, Sanctus, and Agnus Dei show greater freedom, though the phrases are short; most unusually the Kyrie is longer than the Gloria. This style probably comes from the polyphonic lauda current in the ­Ambrosian rite of Milan, where Josquin worked during the 1480s. This rite also had the characteristic of substituting a motet for the Benedictus and second “Hosanna,” missing here and replaced by Tu solus qui facis mirabilia. This setting lacks the space to indulge in polyphonic elaboration or sonic display. There are no duets (all three Agnuses, for example, are both very brief and full) or canons or added voices. The interest for once is focused on simple chords, and nowhere more than in the motet Tu solus qui facis. Simple chords should be easier to write than complex polyphony, and yet plenty of composers down the years have shown how easily this kind of music becomes predictable and tedious. Tu solus qui facis, however, is made up of perfectly ­located chords, solemn and resonant, that create an unparalleled ­atmosphere of calm and introspection. Behind these chords, and ­indeed behind much of the detail in the rest of the setting, is the chanson D’ung aultre amer by Johannes Ockeghem. This was important for Josquin, who revered Ockeghem more than anyone. He intended a tribute to him that, even when the liturgy demanded ­restraint, shows he was equal to any challenge.

Early and Mid-Period Masses

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Can great music be inspired by the throw of dice? The possibility clearly excited Josquin, who prefaced the tenor part in several of the movements of his Missa Di dadi with a pair of dice, each pair giving a different total score. And the scores show that he knew how gambling worked—they stop when one of the players has thrown a winning combination. Did he know this because he was living in a place where gambling was so commonplace it was even thought appropriate to refer to in a mass setting? Milan under the Sforzas in the late 15th century was well known to have been a hothouse of gambling, with the ducal family taking a leading role. Since there is good evidence that Josquin worked there throughout the 1480s, it seems very possible that he joined in with the fashion, at court and in private. This would certainly ­explain the (not entirely necessary) presence of the dice in the notational scheme of this mass, as a friendly nod to his singers, and to please the duke. Did he even throw dice to establish his composition plan? At first sight these dice are nothing more than indicators to the tenors as to how to distribute the notes of the chanson, on which the mass is based, into their part—Josquin having chosen as his cantus firmus the tenor part of Robert Morton’s N’aray je jamais mieulx. For example, the Kyrie is preceded by a pair of dice showing two and one, which tells the singers that the note lengths of the chanson need to be doubled in order to fit with the other three voice parts. In the Gloria, the dice read four and one, requiring the notes of the chanson to be quadrupled in length. In the Credo, the dice indicate six to one. In the Sanctus it is five to one. But there are problems: in the Credo the proportion has to be 12 to one, not six, or the notes do not fit. In the Sanctus, the five to one stipulation does not work across all the notes of the original, only the longer ones. And there are suddenly no dice featured at all after “Pleni sunt caeli” in the Sanctus. Fortunately, the printer, Ottaviano Petrucci, anticipating trouble, wrote out a resolution of the tenor parts. Nonetheless, even though the dice are thus rendered redundant, Petrucci still thought it important to include them in the final print. This only further underlines the question: why are they there? There have been many theories. Some explanations have turned to the first line of the Morton chanson, “Shall I never have better than I have?”, in the hope of finding a clue, though whether this title implies a religious meaning, or is purely secular, is a moot point. Is it no more than the conventional lover’s complaint? Is it the greedy gambler’s gripe? Or is it the languishing soul’s plea for redemption?

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Early and Mid-Period Masses


This last possibility has been taken up by several writers who suggest that the lack of dice after the “Pleni sunt caeli” supports the evidence that in the medieval church there was a change in mood at that point, with the following “Hosanna” and Benedictus serving as a frame for the elevation of the host (the ritual display of the ­consecrated bread and wine). Since this was the most dramatic and significant moment of the mass it comes as no surprise to find that composers might give it special musical treatment. There is one further detail. In the sections where the dice are present Josquin only quotes the first six bars of Morton’s tenor. When we get to the “Hosanna” (and also in the Agnus Dei) he quotes the whole of Morton’s chanson tenor—a total of 23 bars— which explains why these movements are suddenly more substantial than the preceding ones. The Agnus Dei as a whole is by far the longest movement and a masterpiece of sustained writing. The ­culmination is in the third Agnus, where for the first time in the whole setting Josquin gives the complete tune to the basses, starting on D (where Morton had placed it an octave higher). All the previous tenor statements have started on G. There is a strong sense of homecoming as a result. —Peter Phillips

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Auf Josquins Spuren In Josquin’s Footsteps

Condé-sur-L’Escaut Cambrai Saint-Quentin

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ca. 1450 Geburt in der Region um Saint-Quentin Chorknabe an der Kollegiatkirche in Saint-Quentin (?) 1460er Chorsänger an der Kollegiatkirche St. Géry in Cambrai (?) 1466 Josquin wird in Condé-sur-l’Escaut als Erbe seiner Tante und seines Onkels eingesetzt ca. 1475–80 Sänger am Hof von König René d’Anjou 1480–? Sänger am Hof von König Ludwig XI. von Frankreich 1483 Josquin kehrt nach Condé zurück, um sein Erbe anzutreten 1484–89? Josquin steht in Diensten des Mailänder Kardinals Ascanio Sforza 1489–94? Sänger im päpstlichen Chor an der Sixtinischen Kapelle 1501–03? Sänger am Hof von König Ludwig XII. von Frankreich 1502 Der Musikverleger Ottaviano Petrucci veröffentlicht den ersten Band von Josquins Messen 1503–04 Sänger am Hof von Herzog Ercole d’Este von Ferrara 1504–21 Nach seiner Flucht vor der Pest aus Ferrara verbringt Josquin den Rest seines Lebens in Condé-sur-l‘Escaut

Auf Josquins Spuren


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c. 1450 Born in the Saint-Quentin region Choir boy in the collegiate church of Saint-Quentin (?) 1460s Chorister at the collegiate church of St. Géry in Cambrai (?) 1466 Josquin is named heir of his aunt and uncle in Condé-sur-l’Escaut

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c. 1475–80 Singer at the court of King René d’Anjou

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1480–? singer at the court of French King Louis XI

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1483 Josquin returns to Condé to claim his inheritance 1484–89? In the service of Milanese Cardinal Ascanio Sforza 1489–94? Singer in the papal choir at the Sistine Chapel 1501–03? Singer at the court of French King Louis XII 1502 Ottaviano Petrucci publishes the first of the three volumes of Josquin’s masses 1503–04 Singer at the court of Duke Ercole d’Este in Ferrara 1504–21 Having escaped the plague in Ferrara, Josquin spends the rest of his life in Condé-sur-l‘Escaut

In Josquin’s Footsteps

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Wer war Josquin? 500 Jahre nach seinem Tod ist diese Frage gar nicht mehr so leicht zu beantworten. Shirley

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Apthorp und Willem Bruls sind seinen Spuren in ihrem englischsprachigen Podcast Master of the Notes quer durch Europa gefolgt. Immer noch lesehungrig?

Josquins Messen sind natürlich nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Kosmos der Renaissancemusik. Mit unserer Auswahl von Essays zu verschiedenen verwandten Themen erweitern wir den Horizont – für Renaissance-Neulinge ebenso wie für Josquin-Experten! Nochmal hören

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Podcast: Master of the Notes

Who was Josquin? 500 years after his death this question has become quite difficult to answer. In their podcast Master of the Notes, Shirley Apthorp and Willem Bruls set out to follow his traces across Europe. Need more food for thought?

Josquin’s masses are a world of their own, but a small one compared to the seemingly inexhaustible cosmos of Renaissance music. Read a selection of essays on various related topics that add a few more layers to the picture. Listen again

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Freitag

15. Juli 2022 15.00 Uhr

Messen nach mehrstimmigen Vorlagen Peter Phillips Musikalische Leitung The Tallis Scholars


Josquin des Prez (um 1450–1521) Missa Fortuna desperata I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Caroline Trevor, Alex Chance Alt Steven Harrold, Simon Wall, Guy Cutting, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley, Robert Macdonald Bass

Pause

Missa Malheur me bat I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Alex Chance Alt Simon Wall, Guy Cutting, Ben Hymas, Oscar Golden-Lee Tenor Simon Whiteley, Robert Macdonald Bass

Die frühesten Messen


Messen nach mehrstimmigen Vorlagen Missa Fortuna desperata und Missa Malheur me bat

Missa Fortuna desperata und Missa Malheur me bat hängen insofern miteinander zusammen, als dass beide ein weltliches, mehrstimmiges Lied als Grundlage verwenden, das nicht mit Sicherheit einem bestimmten Urheber zugeschrieben werden kann. Malheur me bat stammt vermutlich aus der Feder eines relativ unbekannten flämischen Komponisten namens Malcort, dessen Obskurität weder von der Schönheit dieses Liedes ablenken sollte, noch von der Tatsache, dass es um 1500 als Grundlage für Messevertonungen besonders beliebt war und u.a. von Agricola und Obrecht genutzt wurde. Umso merkwürdiger ist, dass keine der neun Quellen, in denen es überliefert ist, abgesehen vom Titel den Text des Liedes enthält. Eine Aufführung durch die Tallis Scholars bei den BBC Proms 2008 war nur möglich, nachdem ein zeitgenössischer Dichter – ­Jacques Darras – damit beauftragt wurde, den Text zu vervoll­ ständigen. Fortuna desperata hingegen kann mit größerer Sicherheit Antoine Busnoys zugeschrieben werden, obwohl das Manuskript auch hier keine eindeutigen Belege liefert. Die beiden Messen sind auch über die Art und Weise miteinander verbunden, wie Josquin sein Ausgangsmaterial nutzte. Beide Chansons waren ursprünglich dreistimmige Kompositionen. Vor Josquin nutzten Komponisten üblicherweise eine Stimme des ­Originals, meistens den Tenor, als Vorlage für ihre Messen und ­leiteten alle Motive aus dieser Stimme ab – eine sogenannte Paraphrase. In diesen beiden Vertonungen ging Josquin jedoch einen Schritt weiter und bediente sich nicht nur aus einer, sondern aus ­allen drei Stimmen und verdreifachte so auf einen Schlag das ­musikalische Material, das er verwenden konnte. Die Missa Fortuna desperata, die ältere der beiden Messen, ist eines der frühesten ­Beispiele für dieses polyphone Parodieverfahren. In Malheur me bat hat Josquin diese Technik verfeinert und erweitert. Diese Kompositionstechniken sind erstaunlich kompliziert. ­Praktisch jedem Takt dieser Messen liegt ein Zitat aus der jeweiligen Vorlage zugrunde, wobei Josquin offenbar willkürlich entschieden hat, aus welcher der drei Stimmen er sein Material gewann, ob eine oder mehrere gleichzeitig genutzt werden (an den Satzanfängen sind meist alle drei zu finden) und in welcher Geschwindigkeit das Original zitiert wird. Im Allgemeinen konstruiert er seine poly­

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Messen nach mehrstimmigen Vorlagen


phonen Sätze aus relativ kurzen Motiven, die oft in Sequenzen wiederholt und damit zu wiedererkennbaren Bausteinen werden (das Sanctus der Missa Fortuna desperata ist ein gutes Beispiel dafür). Oft ist sein Einfallsreichtum jedoch nicht so deutlich hörbar. Am besten lässt sich das Chanson-Material dort erkennen, wo Josquin es in sehr langen Notenwerten wiedergibt – etwa im Credo der Missa Fortuna desperata, wo die Oberstimme der Chanson viermal in der Oberstimme der Messe zitiert wird, und zwar in schrittweise ­diminuierten, d.h. verkleinerten Notenwerten (im Verhältnis 8:4:3:2). Dies verleiht dem Satz eine energische Steigerung seinem Ende entgegen, da das letzte Zitat viermal so schnell ist wie das erste. Doch können die Vorgehensweisen auch verschleierter sein: In Malheur me bat zitiert Josquin sowohl im Gloria als auch im Credo eine Melodie der Vorlage bis zu einem bestimmten Punkt, lässt das Zitat dann erneut von vorne beginnen und zitiert nun ein paar Noten mehr. Dann hält er erneut inne, beginnt wieder von vorne und zitiert wiederum ein paar Noten mehr in einem immer weiter wachsenden „Loop“. Neben diesem thematischen „Gerüst“ aus längeren Zitate baut Josquin unzählige kleine, „geliehene“ und auch neu erfundene Motive ein, die das streng mathematische Element dieser Musik überdecken und gleichzeitig die Hauptaussage des Textes wiedergeben und die Musik vorantreiben. Nicht unähnlich einer romantischen Symphonie findet auch diese kunstvolle Art der Messvertonung ihren Höhepunkt im letzten Satz. Mit wachsender kompositorischer Erfahrung, die dem Agnus Dei in beiden Messen zugrundeliegt, und ebenso gesteigertem Symbolismus, der den entlehnten Themen inhärent ist, verleiht­ ­Josquin seinem musikalischen Ausdruck „symphonische“ Breite. Das Agnus Dei der Missa Malheur me bat besteht aus drei Anrufungen, was im Kontext von Josquins Zeit und Schaffen die übliche Form war. In Fortuna desperata sind es nur zwei, allerdings könnte zwischen ihnen ursprünglich ein zweistimmiger Abschnitt gestanden haben, der im Laufe der Jahrhunderte verloren ging. Im ersten Agnus Dei in Malheur me bat singt der Tenor eine vereinfachte Version der Chanson-Tenorstimme in langen Notenwerten, während die übrigen Stimmen typisch Josquinsche Bausteine aus wiederholten Motiven beisteuern. Das zweite Agnus Dei ist zweistimmig und als freier ­Kanon im Sekundabstand angelegt. Diese Art von Kanon ist kompositorisch am anspruchsvollsten und sorgt für einen hypnotisierenden, überirdischen Effekt. Das dritte und letzte Agnus Dei gehört zu den Glanzstücken des gesamten Repertoires und ist in ähnlicher

Messen nach mehrstimmigen Vorlagen

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Weise konstruiert wie das letzte Agnus Dei in Josquins Missa L’homme armé sexti toni (siehe S. 40). Der bislang vierstimmige Satz wird hier um zwei zusätzliche Stimmen erweitert. Die Außen­ stimmen der Chanson-Vorlage werden ohne Veränderungen übernommen, während die Mittelstimme des Originals komplett fehlt und durch einen Doppelkanon ersetzt ist – d.h. zwei Stimmpaare, die jeweils im Kanon miteinander singen. Auf diese Weise fungiert die Musik aus der Chanson als Gerüst für die filigranen Details der Kanonstimmen, die scheinbar willkürlich hinzutreten und wieder aussetzen. Für das Agnus Dei der Missa Fortuna desperata entwickelte Josquin eine zwar schlichtere, aber dennoch nicht weniger wirkungsvolle Formel. Wiederum befinden wir uns in der Welt der Baustein-­ Motive, doch diesmal über einer Bassstimme mit sehr langen Noten, die zuweilen auch die besonders klangvollen Tiefen der Stimme auslotet. Im ersten Agnus Dei leiten sich diese Bassnoten aus der ursprünglichen Oberstimme der Chanson ab, indem das Original um eine Duodezime nach unten transponiert, augmentiert und umgekehrt wird. Das zweite Agnus Dei ist nach demselben Prinzip angelegt, nur dass hier die langen Bassnoten aus dem Tenor der Chanson stammen, eine Oktave nach unten transponiert und nicht umgekehrt sind. Es ist vermutet worden, dass die Umkehrung im ersten Agnus Dei eine katastrophale Wendung des Rads der Fortuna symbolisieren könnte, während das zweite Agnus mit der nicht ­umgekehrten Melodie die Rückkehr zur Normalität darstellt. Wie man zu diesem durchaus plausiblen Symbolismus auch stehen mag – es besteht jedenfalls kein Zweifel, dass Josquin die Messe durch diesen abschließenden Rückblick auf die Themen, die sich durch die vorangegangenen Sätze gezogen haben, zu einem äußerst ­befriedigenden Ende bringt. Bewusst aufnehmen lässt sich dies beim bloßen Hören nicht. Dazu bedarf es der Partitur, und selbst dann ist es nicht einfach, alle Zitate und Verweise zu erkennen. Doch im Unterbewussten wird der Geist verzaubert.

Peter Phillips

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Messen nach mehrstimmigen Vorlagen


Messen nach mehrstimmigen Vorlagen

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Masses on Polyphonic Models Missa Fortuna desperata and Missa Malheur me bat

Missa Fortuna desperata and Missa Malheur me bat are linked by having secular polyphonic songs as their models, coincidentally neither of which are safely attributed to any single composer. ­Malheur me bat is probably by a little-known Flemish composer called Malcort, whose obscurity should not detract from the beauty of his song, nor from the fact that it became a favorite model for mass settings by composers active around the year 1500, including Agricola and Obrecht. How strange, then, that not one of the nine sources for it provides any words apart from the title—the ­per­formance given by The Tallis Scholars at the 2008 Promenade ­Concerts at the Royal Albert Hall in London was made possible by commissioning a contemporary poet, Jacques Darras, to complete the text. The attribution of Fortuna desperata to Antoine Busnoys is more secure, though the manuscript evidence is not conclusive. The two masses are also linked by the way Josquin borrowed his material from the chansons. Both of these were three-voice com­ positions. Before Josquin, the normal procedure in basing a mass setting on a chanson was to take one of the original voice parts, often the tenor, and derive all the motifs to be used in the mass from it—a so-called paraphrase mass. However, in these two settings ­Josquin went a stage further by plundering all three of the voice parts for quotable material, at a stroke tripling the stock of ideas he could draw on. Thus, the art of parodying a polyphonic model was born, in which tradition Missa Fortuna desperata was one of the first. We can hear Josquin refining and developing these techniques in Missa Malheur me bat, which is reckoned to be the younger work of the two. These techniques are astonishingly complicated. Just about every bar of every movement in these two masses is underpinned by a quotation from the model in question, though there seems to be no logic to how Josquin decided which of the three voices he was ­going to home in on, or whether more than one is being used at any given moment (all three tend to appear at the beginning of the movements), or what speed the chosen melody is being quoted at. In general, he liked to construct his polyphonic lines out of quite short motifs, often quoted as sequences that become building blocks (the Sanctus of Missa Fortuna desperata gives a good example of this).

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Masses on Polyphonic Models


More often than not his resourcefulness is not clearly audible: the best chance of hearing the chanson material is when Josquin quotes their melodies in very long notes. This happens in the Credo of Fortuna desperata, for example, where he takes the top part of the chanson and quotes it four times in the top part of the mass in ever diminishing note values (in the ratio 8:4:3:2), giving the movement a powerful drive to its end since the last statement is going four times faster than the first. But the processes can be opaque: in Malheur me bat, in both the Gloria and the Credo, he quotes a melody, stops, goes back to the beginning of it again and quotes more of it, stops again, returns again to the beginning and quotes yet further in a kind of expanding loop. Yet this thematic scaffolding is only part of the story. Around the “big” quotations, Josquin borrows or invents literally endless tiny motifs that serve to disguise the pure mathematics that underlie so much of the writing, while at the same time expressing the essential nature of the texts and driving the musical argument forward. All this wisdom in the art of composition in these masses ­culminates, not unlike a Romantic symphony, in the last movement. By intensifying the learning that underlies both Agnus Dei settings, as well as intensifying the symbolism inherent in the borrowed themes, Josquin in his own style achieves a symphonic breadth of expression. Missa Malheur me bat’s Agnus has three invocations, which was the normal procedure in Josquin’s time and place. Fortuna desperata only has two, though it is possible that a two-voice section, which would have come between the two four-part ones that exist, has been lost over time. In the first Agnus of Malheur me bat, the tenor carries a simplified version of the chanson tenor in long notes, while the other voices surround it with a classic example of Josquin’s building blocks with a repeating motif. The second Agnus, for two voices, is a free canon at the second. This, the most difficult canon of all to write, produces a mesmerizing, unearthly effect. The third Agnus is one of the great tours de force of the repertory, similar in method to the final Agnus of Josquin’s Missa L’homme armé sexti toni (see p. 44). The four voices of the earlier movements have become six. The outside parts of the chanson are retained without alteration while the middle part of the original is removed altogether and replaced with a double canon (that is, with two sets of two voices in canon with each other). In this way the music from the chanson acts as a scaffolding for the filigree detail of the canonic parts, coming and going as they like, as it seems outside time.

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In the Agnus Dei of Fortuna desperata Josquin invented an ­arguably simpler but no less effective formula. Again, we are in the world of building-block motifs, but this time over a very long-note bass part, which at times explores the most sonorous depths of the voice. In the first Agnus these bass notes are formed from the ­original top part of the chanson, transposed down an octave and a fifth, augmented and inverted. The second Agnus follows the same pattern, only now the bass long notes are taken from the chanson’s tenor, here transposed down an octave but not inverted. It has been suggested that the inversion in the first Agnus was intended to ­represent a catastrophic turn of Fortune’s wheel, with the return to normality made possible through the good offices of the uninverted melody in the second Agnus. However one likes to view the very plausible symbolism inherent in these Agnus Deis, there can be no denying that by reviewing at the end the themes that have been ­circulating throughout the earlier movements, Josquin brings his settings to a deeply satisfying conclusion. Not that the listener will consciously grasp everything that is happening—one needs a score for that, and even then it is hard to spot all the references. But ­subconsciously the mind is enthralled.

—Peter Phillips

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Masses on Polyphonic Models



Freitag

15. Juli 2022 20.00 Uhr

Ostinatomessen Peter Phillips Musikalische Leitung The Tallis Scholars

Josquin des Prez (um 1450–1521) Missa La sol fa re mi I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Alex Chance Alt Steven Harrold, Guy Cutting, Ben Hymas, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley Bass


Missa Faysant regretz I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Caroline Trevor Alt Steven Harrold, Simon Wall, Guy Cutting, Oscar Golden-Lee Tenor Simon Whiteley, Robert Macdonald Bass

Pause

Missa Hercules Dux Ferrariae I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor Alt Steven Harrold, Simon Wall, Guy Cutting, Ben Hymas Tenor Tim Scott Whiteley, Robert Macdonald Bass

Die frühesten Messen

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Ostinatomessen Missa La sol fa re mi, Missa Faysant regretz und Missa Hercules Dux Ferrariae

Nur drei Messen Josquins basieren auf einem sogenannten soggetto ostinato – einem Motiv, dass man aufgrund seiner Kürze kaum als Melodie bezeichnen kann. Im Fall der Missa La sol fa re mi ist es aus den Noten gebildet, die diesen Solmisationssilben im mittelalterlichen Tonsystem entsprachen: A, G, F, D und E. Im Grunde beruht die ganze Messe auf dieser einen Fünfton-Phrase, die man deutlich heraushören kann, in verschiedenen Notenwerten und manchmal auch in verschiedenen Lagen innerhalb der einzelnen Stimmen. Meist ist diese Wendung im Tenor zu finden, der sich, was den verwendeten Tonvorrat betrifft, nicht grundlegend vom Alt unterscheidet. Eine ganze Messe zu komponieren, die sich strikt an ein fünftöniges Motiv – als eine Art abgebrochenen cantus firmus – hält, ist eine Meisterleistung der Erfindungskraft. Allerdings war Josquin war nicht der Erste, der die Idee hatte, genau diese Töne zu verwenden. Glarean berichtete 1547 in seinem Dodecachordon, dass sich hinter ihnen die Worte „Lascia fare mi“ („Überlassen Sie das mir“) eines unbekannten Würdenträgers verbargen, der sich ­damit aufdringlicher Besucher entledigte. Einer anderen Version zufolge handelte es sich dabei um Josquins Mailänder Arbeitgeber Ascanio Sforza, der so seine Gläubiger ruhigstellen wollte. Unabhängig davon, ob dies den Tatsachen entspricht oder nicht, basiert eine ganze Reihe von Liedern der Zeit auf diesen fünf Tönen. Indem Josquin ein so kurzes Motiv als Grundlage wählte – im Gegensatz zu einer Choralmelodie, deren Ausdehnung prinzipiell keine Grenze gesetzt war –, eröffnete er sich ungeahnte Möglichkeiten der Bezüge und Verweise. Die fünf Noten lassen sich ­problemlos verlängern, verkürzen, auf den Kopf stellen, von hinten nach vorne zitieren, gleichzeitig in unterschiedlichen Rhythmen und Hexachorden übereinander stapeln. Dank der Kürze des Motivs bringt auch das etwas altmodisch im Stil einer cantus-firmus-Messe gesetzte Credo mit langen Notenwerten im Tenor den musikalischen Fluss nicht ins Stocken, wie es in anderen Credo-Vertonungen ­dieser Art oft der Fall ist. Gleichzeitig rauscht das Motiv in kürzerer Form unzählige Male an den Hörerinnen und Hörern vorbei, ohne dass man die Kunstfertigkeit, die dahintersteckt, überhaupt richtig wahrnimmt. Neben dem Tenor, der fast ausschließlich auf dem

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s­oggetto beruht, setzt Josquin es auch in den übrigen Stimmen in den Anfangsimitiationen ein, wie etwa im „Christe“ oder im ersten „Hosanna“. Das „Pleni sunt caeli“ ist durchweg kontrapunktisch im imitierenden Satz gestaltet. Lediglich ein einziges Mal, im Bass am Ende des „Christe“, setzt das immer wiederkehrende Modell transponiert auf D ein (was die Verwendung des Tones B erfordert). Im Fall der mehr als 200 weiteren Wiederholungen beginnt es auf A oder E. Die wahrscheinlich schönste Stelle findet sich ganz am Schluss des Agnus Dei (I und III), wo die Notenwerte des Ostinato-­ Modells sich immer weiter verkürzen und dadurch die geheimnisvolle Wirkung dieser Musik noch verstärkt wird.

Das Ausgangsmaterial für die Missa Faysant regretz war ein dreistimmiges Rondeau, das entweder von Walter Frye oder von Gilles Binchois stammt. Diesem Stück entnahm Josquin drei Elemente: ein Viertonmotiv, F-D-E-D, sowie zwei weitere Motive, die nur im dritten Agnus Dei verwendet werden. Ehe wir jedoch dorthin gelangen, erklingt in den vorangehenden Sätzen eine Polyphonie, die so dicht gearbeitet ist, wie sie sich kaum irgendwo im Repertoire findet – eine Art Vorahnung des Dritten Streichquartetts von Bartók im Renaissance-Gewand, in der nicht ein einziger Ton verschwendet ist. Josquins Vierton-Motto erklingt mehr als 200 Mal und ist in ­allen Stimmen fast ununterbrochen zu hören – in unterschiedlichen Tonlagen und in unterschiedlichen rhythmischen Formen. Hier gibt es keine hörbare Struktur, an der man sich festhalten könnte: stattdessen findet man sich in einer höchst intellektualisierten Welt von vielgestaltigen, umherwirbelnden Anspielungen und Wiederholungen – ein Gipfelpunkt in Josquins Kunst. Zwei Momente verdienen besondere Erwähnung. Im dritten Agnus kommt nicht nur das F-D-E-D-Motiv zum Einsatz (es wird allein in diesem Satz 25 Mal gesungen), sondern auch ein neues Viertonmotiv – D-D-E-D –, das aus dem Tenor des Rondeaus stammt und hier 24 Mal von den Altstimmen und in stets trans­ ponierter Lage übernommen wird. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, singen die Soprane zum ersten Mal die Superius-­ Melodie des Rondeaus vollständig – dadurch ist dieser Satz relativ lang. In den darunterliegenden Stimmen geht die motivische Arbeit unablässig weiter. Es erfordert einige Aufmerksamkeit, alle Feinheiten

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mitzubekommen, die sich durch die Verarbeitung von zwei Motiven – F-D-E-D und D-D-E-D – ergeben, die so kurz und einander so ähnlich sind, dass die meisten Komponisten sie gar nicht als eigenständige Einheiten behandeln würden. Wem eine derart intensive Arbeit mit so wenigen Tönen obsessiv vorkommt, sei auf das „Amen“ verwiesen – wahrscheinlich meine Lieblingspassage in allen 18 Messen Josquins überhaupt. Mit fortschreitendem Alter tendierte Josquin mehr und mehr dazu, in seinen Melodien immer wieder zum selben Ton zurückzukehren, und hier ergibt sich durch einen solchen wiederkehrenden Ton (D) eine unvergessliche Phrase. Obwohl die anderen Stimmen darauf anspielen, sind es die Soprane, die nicht von ihm ablassen können – eine erstaunliche Konzeption, deren Ausführung ein fesselndes Unterfangen ist.

Die Missa Hercules Dux Ferrariae entstand für Ercole I. d’Este von Ferrara, möglicherweise als Josquin 1503/04 an seinem Hof beschäftigt war. Um die Konstruktion dieser Messe zu verstehen, muss man sich zunächst darüber bewusst werden, dass Herzog Ercole Wert darauf legte, seinen Namen möglichst oft und deutlich gesungen zu hören. Daher verwendete Josquin die Vokale seines Namens und Titels, HERCULES DUX FERRARIAE, und transformierte sie mithilfe der Solmisationssilben des Guidonischen Hexachords in eine hübsche kleine Melodie:

Dann lässt er diese Folge von acht Tönen insgesamt 47 Mal singen, und zwar fast ausschließlich im Tenor, der am besten hörbaren Stimme. Diese Melodie wird umso deutlicher, da sie einerseits zu den Worten des Titels erklingt und andererseits oft aufeinanderfolgend in drei unterschiedlichen, aufsteigenden Tonlagen, so dass sich dadurch ein Klangcrescendo ergibt – dieses dreifache Auftreten

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der Melodie könnte man als das „vollständige“ Thema bezeichnen. Zuweilen, wie etwa im „Hosanna“, werden die Notenwerte auch stufenweise halbiert, während die Tonlage erhöht wird, so dass sich gegen Ende des Satzes ein zusätzliches Spannungscrescendo einstellt. Am Ende des „Hosanna“ fasst Josquin alles zusammen, was er in dieser Vertonung erreichen wollte, und man darf annehmen, dass Ercole angesichts des freudigen Texts an dieser Stelle mit dem Werk zufrieden war. Es ist auch möglich, dass sich Josquin durch Ercoles Hang zur Selbstverherrlichung dazu ermutigt fühlte, das ,,Ercole-­ Thema“ im Laufe der fünf Sätze zwölf Mal „vollständig“ erklingen zu lassen – eine Anspielung auf die zwölf Heldentaten des Herkules. Doch ist diese Messe wohl nicht in erster Linie für das Ercole-­ Thema berühmt, sondern eher für den Kontrapunkt, den Josquin darum herum konstruierte. Damit tat er effektiv das, was Bach mehr als 200 Jahre später so oft in seinen Choralvorspielen tat – er ließ die umliegenden Stimmen zuerst einsetzen, bevor die Hauptmelodie in schlichter und deutlicher Form inmitten des Geschehens hinzutritt. Diese kontrapunktischen Passagen sind im dritten Agnus, in dem das Ensemble von vier auf sechs Stimmen aufgestockt wird, besonders bezaubernd. Die Soprane (die endlich auch einen Teil des Themas singen dürfen) bewegen sich in einfachem Kanon mit den Tenören (die es hier zum letzten Mal vollständig singen), doch ist es eigentlich der Satz der anderen Stimmen darum herum, der diese Vertonung zu einem Meisterwerk Josquins macht – auch hier war es wohl sein Ziel, mit dem Schlusssatz der Messe das ­Vorangegangene zusammenzufassen und zu krönen. Peter Phillips

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Ostinato Masses Missa La sol fa re mi, Missa Faysant regretz and Missa Hercules Dux Ferrariae

Only three of Josquin’s masses are based on what is known as a soggetto ostinato, a motif so short it can hardly be called a melody. Missa La sol fa re mi, as its name implies, is based on the notes that these solmization syllables represented in the medieval scale: A, G, F, D and E. Virtually the whole mass is derived from this single five-note phrase, which may be clearly heard in different note lengths and occasionally in different pitches in one or other of the parts. It is mostly found in the tenor (which in fact does not differ significantly in tessitura from the alto part). To write an entire mass setting that strictly retains the statement of five notes throughout as a kind of very abrupt cantus firmus is an astonishing feat of sheer inventiveness. However, it was not Josquin’s idea in the first place to use these notes. According to Glarean’s Dodecachordon, written in 1547, they originated in mimicry of an unknown potentate who used to send away importunate suitors with the words “Lascia fare mi” (“Leave it to me”). Another version of the story links the phrase to Josquin’s Milanese employer Ascanio Sforza, who tried to put off his creditors with it. Whether this is true or not, a number of popular songs of the time were written around the phrase. By choosing a model so brief, as opposed to a chant melody that can be of indefinite length, Josquin opened up a new world of ­referencing. These five notes make no trouble when they are quoted in augmentation, diminution, upside down, back to front, in ­different rhythms at once, overlapping, and in different hexachords. And because it is only five notes in question, even the long-note old-fashioned cantus firmus-style tenor setting in the Credo does not delay the unfolding of the music, as happens in other Credos of this type. Meanwhile the shorter statements flash by, the artfulness of their presentation scarcely registered by the listener. Apart from basing the tenor on it almost exclusively, Josquin was able to lend it to the other parts in his mass setting by the technique of initial ­imitation, for instance in the “Christe” and first “Hosanna.” The “Pleni sunt caeli” is imitative throughout. Only once (in the bass part at the end of the “Christe”) is the ostinato transposed to begin on D (subsequently necessitating a B flat). Otherwise, in more than 200 repetitions, it starts on A or E. Perhaps the finest moment

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comes at the very end of the Agnus Dei (I and III) where the note lengths of the ostinato become shorter and shorter as the mystical nature of the music intensifies.

The model for Missa Faysant regretz was the three-voice ­rondeau Tout a par moy by either Walter Frye or Gilles Binchois, from which Josquin took three elements: a four-note motif F-D-E-D; and two others that are only used in the third Agnus. Before we get there, however, we are treated in the preceding movements to some of the most densely argued polyphony in the repertoire, a kind of Renaissance pre-echo of Bartók’s Third String Quartet, where no note is wasted. Josquin’s four-note motto is heard more than ­ 200 times and appears in all the voices almost all the time, at different pitches and in different rhythmic shapes. Gone is any sense of ­audible structure: here one is thrown into a deeply intellectualized world of protean, swirling references and repetitions, the pinnacle of just one side of Josquin’s art. Two moments deserve special mention. The third Agnus not only makes use of the F-D-E-D motif (sung 25 times in this movement alone) but also of a new four-note motif—D-D-E-D—taken from the tenor of the rondeau and sung here by the altos, constantly transposed, 24 times. To cap it all, the sopranos, for the first time, sing the complete superius melody from the rondeau, which is what makes this movement relatively lengthy, the motivic work going on relentlessly underneath it. The subtleties involved in working with two motifs that are so similar and brief that most composers would not think to bother with them as separate items, all worked out ­under a given melody, takes some understanding. But if working so intensively with so few notes seems obsessive, one should hear the “Amen” of the Credo. This is probably my ­favorite passage in all these 18 masses. Josquin became more inclined to return again and again to the same note in his melodies as he got older, and here that worrying of a single pitch produces a phrase that is hard to forget. The note in question is D; and although the other parts refer to it, it is the sopranos who cannot leave it alone— an astonishing conception, and a thrill to perform.

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Missa Hercules Dux Ferrariae was written for Ercole I d’Este of Ferrara, possibly when Josquin was working at his court in 1503–4. To understand how this mass is constructed it is necessary only to remember that Duke Ercole liked to hear his name sung obviously and often. To this end Josquin took his name and title, HERCULES DUX FERRARIAE, and turned their vowels into music by way of the solmization syllables of the Guidonian hexachord, giving a very neat little melody:

He then writes these eight notes to be sung 47 times, the vast majority of them by the tenors, the most audible part. These ­quotations are made yet more obvious to the listener partly by ­being sung to the words of the title; and by often being stated ­consecutively at three different, rising pitches, making a crescendo of sound—this threefold statement becomes what we may refer to as the “complete” theme. Sometimes, as in the “Hosanna,” the note lengths are also progressively halved, as well as being raised in pitch, so that there is a further crescendo of excitement towards the end of the movement. The end to the “Hosanna” sums up everything Josquin was ­trying to achieve in this setting, and one imagines that, given the joyous nature of the text at this point, Ercole was well pleased with it. It is also possible that Ercole’s wish for self-aggrandizement ­encouraged Josquin to state the “Ercole” theme complete 12 times during the course of the five movements, reflecting the 12 labors of Hercules. However, this mass might be remembered not so much for the Ercole theme, as for the counterpoints that Josquin invented to go round it. In effect he was doing what Bach so often did more than 200 years later in his chorale preludes: set the surrounding voices going, before stating the main melody simply and clearly in the middle of all the activity. These counterpoints are at their most beguiling in the third ­Agnus, where the ensemble is scored up from four voices to six. The sopranos (who finally get to sing some of the theme) are in

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simple canon with the tenors (who get it complete for the last time), but it is really what the other voices are doing around them that makes this one of Josquin’s greatest conceptions, suggesting that once again he wanted the final movement of a mass setting to sum up and crown everything that had gone before.

—Peter Phillips

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Europa im Umbruch Wiedergeburt und Revolution im Quattrocento

Anthony Par r

Anfang und Ende von Josquins Leben werden, grob gesagt, von zwei folgenreichen Ereignissen der europäischen Geschichte markiert: der Erfindung des Buchdrucks um 1450 und Luthers ­Offensive gegen die Korruption in der katholischen Kirche im Jahr 1517, die die protestantische Reformation einläutete. Das erste dieser Ereignisse begünstigte das zweite, indem es die Botschaft der religiösen Reformen verbreiten half – genauso wie die Entwicklung des Notendrucks die Kompositionen Josquins in ganz Europa verfügbar machte und seinen Einfluss auf die nachfolgenden Generationen ­sicherte. Martin Luther selbst lobte Josquin später als „der noten meister“ und nahm den Komponisten auch für eine reformierte ­Liturgie in Anspruch, indem er erklärte, Gott verkünde das Evangelium „auch in der Musik, wie man an Josquin sieht, dessen Kompositionen alle fröhlich, willig, milde herausfließen, [...] nicht gekünstelt und durch Regeln erzwungen.“ Diese Würdigung belegt, dass Josquins geistliche Musik in den Köpfen und Herzen der Protestanten nach wie vor ihren Platz hatte. Allerdings blieb es dem 1521 gestorbenen Komponisten erspart zu erleben, wie das religiöse Schisma die christliche Welt im 16. Jahrhundert spaltete. Seine Karriere war im Wesentlichen ein Produkt des sogenannten Quattrocento, des 15. Jahrhunderts, in dem sich jene Wiedergeburt der Künste und Wissenschaften vollzog, die wir die europäische Renaissance nennen.

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Josquin ist der noten meister, die habens machen müssen, wie er wollt; ­die anderen ­Sangmeister müssens ­machen, wie es die noten haben wöllen. Martin Luther

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Das ausgehende 15. Jahrhundert verlief nicht ohne ideologische Kontroversen, und angeblich sympathisierte Josquin in den 1490er Jahren mit Girolamo Savonarolas Kampagne zur Reform des ­religiösen und gesellschaftlichen Lebens in Florenz. Dass der radikale Dominikanermönch die Stadt für kurze Zeit beherrschte, bevor er verhaftet und hingerichtet wurde, war eine Folge der Unruhen, die durch die französische Invasion in Italien 1494/95 ausgelöst wurden, und Josquin, der in diesen Jahren wahrscheinlich sowohl am Hof der Sforza in Mailand als auch für den französischen König Ludwig XII. tätig war, fand sich womöglich mitten in den militärischen Auseinandersetzungen der nachfolgenden Jahrzehnte. Der Komponist lebte und arbeitete also in einer aufgewühlten Welt mit wechselnden Bündnissen und Gebietsstreitigkeiten, die im 16. Jahrhundert zu andauernden Konflikten führen sollten, gleichzeitig aber auch eine zunehmende Internationalität der Künste ­förderten, da Kunstschaffende aller Disziplinen auf dem Kontinent herumreisten und neue Einflüsse in sich aufnahmen. Italien war zu Josquins Zeit ihr wichtigstes Ziel, und was dem Komponisten in Rom, Mailand und Ferrara begegnete, trug wesentlich zu seinem reifen Stil bei, der ihn zu Europas führendem Komponisten ­machte.

Musik war nur eine der Künste, die in dieser Zeit der Finsternis des Mittelalters entrissen werden sollten: Der Musiktheoretiker und Komponist Vincenzo Galilei, Vater von Galileo Galilei, behauptete, dass man sich erst zu Josquins Zeiten darum bemüht habe, die ­Musik „aus der Dunkelheit, in der sie verschüttet war“, zu befreien und sie neu zu entdecken. Solche Behauptungen waren zu einem guten Teil Propaganda, wie Josquins Anleihen beim mittelalterlichen Kontrapunkt und bei althergebrachten volkstümlichen Formen ­zeigen. Die Vorstellung, dass Europa seit dem Fall des Römischen Reiches tausend Jahre zuvor ein verschlafenes Nest ohne jede schöpferische und intellektuelle Vitalität gewesen sei, kam denjenigen entgegen, die sich als Avantgarde eines neuen Zeitalters sahen. Doch obwohl sie die mittelalterliche Kultur unterschätzten und übersahen, dass die Saat der kulturellen Wiedergeburt zum Teil schon in früheren Jahrhunderten gelegt worden war, konnte die Generation von Kunstschaffenden und Gelehrten, die im Quattrocento heranwuchs, zu Recht von sich behaupten, Teil einer neuen Epoche in der christlichen Welt zu sein.

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Das Hauptaugenmerk dessen, was wir als Renaissance-Humanismus bezeichnen, lag auf der Wiedereinführung der klassischen, ­antiken Zivilisation: der Kunst, der Philosophie und der Regierungskunst des alten Griechenlands und des alten Roms. Viele Schriften antiker Autoren, insbesondere von Aristoteles, Vergil und Ovid, waren nie wirklich in Vergessenheit geraten (bzw. oftmals von ­islamischen Gelehrten in den großen Bibliotheken Andalusiens und des Byzantinischen Reichs davor bewahrt worden), und römische Ruinen in unterschiedlichen Verfallsstadien waren überall in Europa zu finden. Rom selbst, inzwischen Sitz des Papstes, repräsentierte eine weitgehend ununterbrochene Verbindung zur alten Kaiserstadt. Ende des 14. Jahrhunderts mündete dieses Bewusstsein für historische ­Wurzeln in das Bestreben, das Wesen der klassischen Kultur wiederzubeleben, denn die antike Welt galt als Vorbild für gute Lebensführung und ästhetischen Fortschritt. Die Wiederentdeckung der Weisheit und der Errungenschaften der fernen Vergangenheit, von der man durch das „dunkle Mittelalter“ getrennt war, sollte zur ­Beseitigung von Missständen der Gegenwart beitragen, und daher wurden große Anstrengungen unternommen, um vergessene und unbekannte Texte ausfindig zu machen und die Werke bedeutender Autoren einem neuen Publikum zugänglich zu machen. Die Er­ findung des Buchdrucks begünstigte dieses Unterfangen natürlich ­erheblich, und die Suche nach Manuskripten in Klosterbibliotheken und anderswo sorgte für großes Aufsehen. Bedeutende Ent­ deckungen ergänzten das Bild von früheren Zivilisationen durch eine Chronik ihres Aufstiegs, Nieder- und Untergangs, die Studenten der Politik und Staatskunst wie Machiavelli aufschlussreichen Lehrstoff bot, der bekannte, dass er sich bei der Lektüre klassischer ­Autoren ganz zu Hause fühle: Da „nähre ich mich […] mit der Speise, die allein die meinige ist, für die ich geboren ward.“ Mit dieser Überzeugung stand er keineswegs allein. Die Entdeckungen der Renaissance waren vielfältig und nicht alle von ihnen rein geistiger oder künstlerischer Natur. Es war auch das Zeitalter der großen geographischen Erkundungsfahrten und der Expansion, etwa durch die Entdeckung eines Seewegs nach Indien im Jahr 1488 oder kurz darauf, im Jahr 1492, die Landung von Kolumbus auf dem amerikanischen Kontinent. 1522, nur ein Jahr nach Josquins Tod, kehrten die Überlebenden von Magellans bahnbrechender Weltumseglung nach Spanien zurück. Die mittelalter­ liche mappa mundi mit drei besiedelten Kontinenten, von denen zwei – Asien und Afrika – den Europäerinnen und Europäern

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weitgehend unbekannt waren, wurde durch eine genauere und ­detailliertere Geographie ersetzt, die ein zunehmend globales ­Handelsnetz und damit auch Möglichkeiten für wissenschaftliche Forschung und koloniale Ausbeutung abbildete. In vielerlei Hinsicht markiert diese Zeit den Anfang dessen, was wir heute Globalisierung nennen, und sie hat – im Guten wie im Schlechten – das geprägt, was wir bis heute als „moderne“ Welt bezeichnen. Ältere Darstellungen der europäischen Renaissance haben oft den Bruch mit den mittelalterlichen Denkmustern sowie die Entwicklung einer säkularen Weltsicht betont und beriefen sich dabei auf das neu entdeckte Vertrauen in die menschliche Schaffenskraft sowie auf den wachsenden Individualismus. Vieles an dieser Lesart (die in engem Zusammenhang mit der 1860 erschienenen, weg­ weisenden Studie Die Kultur der Renaissance in Italien von Jacob Burckhardt steht) ist richtig. Ihre Protagonisten waren bemüht, die jüngste Vergangenheit zu überwinden und die Zivilisation neu zu erfinden, und legten im 15. Jahrhundert den Grundstein für Europas enormen Machtzuwachs in den folgenden Jahrhunderten. Zwar orientierten sie sich an Griechenland und Rom, doch führten ihre Errungenschaften in den Jahrzehnten nach Josquins Tod zunehmend zu der Überzeugung, dass die Moderne die Antike überholt habe und sich anschicke, die Herrschaft über die Welt zu übernehmen. Doch der Triumphalismus des Barockzeitalters unterschied sich deutlich vom Optimismus des 15. Jahrhunderts, der in verschiedenen Teilen Europas eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Mittelalter bedeutete.

Josquin war einer von zahlreichen Künstlern, die auf der Suche nach Mäzenen und neuen Anregungen von Nordeuropa nach Italien zogen. Inwieweit sich dies auf seine Kompositionstechnik auswirkte, ist Thema musikwissenschaftlicher Debatten, doch was die Maler, Bildhauer und Architekten angeht, steht fest, dass sie mit klassischen Modellen und ästhetischen Theorien in Berührung kamen, die im Norden eher unbekannt waren. Außerhalb Italiens herrschte in der Kirchenarchitektur die gotische Kathedrale vor, und die Malerei und die Bildhauerei in den deutschsprachigen Ländern waren im 15. Jahrhundert weitgehend von dem Stil geprägt, der als inter­ nationale Gotik oder „weicher Stil“ bekannt ist. Dies hinderte die

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Künstler nicht, wichtige Neuerungen hervorzubringen, macht es aber schwerer, ihr Werk als völligen Bruch mit der Vergangenheit zu betrachten. Die Lebendigkeit und Detailgenauigkeit der mittelalterlichen gotischen Kunst widerlegt den lange vorherrschenden Mythos, die Renaissance habe die Gleichgültigkeit der Gotik gegenüber einer akkuraten Darstellung des Menschen durch den ersten ernsthaften Versuch seiner naturalistischen Repräsentation abgelöst. Wer die Figurenschnitzereien im Chorgestühl gotischer Kathedralen näher betrachtet hat, weiß, wie sorgfältig die Handwerker sie der Natur nachempfanden. Das Gleiche gilt für spätmittelalterliche ­Malereien, in denen die Perspektivenlehre der Renaissance keine Rolle spielt, die dafür aber Massenszenen voller lebensechter Personen zeigen. Wirklich neu in der Kunst der Frührenaissance ist das Interesse an den Räumen, die die einzelnen Figuren bevölkern. Die große Anerkennung, die den Malern des Quattrocento für ihre lebensechte Darstellung zuteilwurde, galt weniger ihrer Portraitkunst als vielmehr ihrer Fähigkeit, die Menschen in einem fiktiven dreidimensionalen Raum zu platzieren und ihren Körpern in einem realistischen ­Umfeld Gewicht und Volumen zu verleihen. Dies war zu einem großen Teil den neu entwickelten Techniken der perspektivischen Zeichnung und anderen streng mathematischen Methoden zu ­verdanken, mit deren Hilfe auch die offenen, hoch aufragenden Räume gotischer Kathedralen durch eine symmetrische, tempelartige Gestaltung ersetzt wurden, wie sie in vielen italienischen Kirchen ­a­nzutreffen ist. Paradox an der italienischen Renaissance, besonders in ihrer Quattrocento-Phase, ist, dass diese für ihre Befreiung des künstlerischen Ausdrucks gefeierte Epoche sich auf so strenge Regeln stützte. Die Suche nach einer stimmigen Darstellung des physischen Raums auf einer ebenen Fläche und die Notwendigkeit (aus Sicht der ­Humanisten), in Gebäuden die Harmonie und den Sinn für eine Ordnung wiederherzustellen, die in den gewaltigen gotischen ­Kathedralen und mittelalterlichen Palästen geopfert worden waren, stellten Herausforderungen dar, die mit einem beachtlichen theoretischen Apparat angegangen wurden. Die Resultate dieser Herangehensweise konnten mitunter kühl und formelhaft wirken, doch das Bestreben der Frührenaissance, eine auf den klassischen Prinzipien und auf der Wissenschaft der Perspektive basierende systematische Ästhetik zu begründen, brachte einige der schönsten Kunstwerke und Gebäude hervor, die je geschaffen wurden. Während Architekten und Bildhauer sich dabei an klassischen Vorbildern orientieren

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konnten, standen den Malern und Komponisten solche nicht zur Verfügung. Um ihren Beitrag zu dieser neuen Epoche zu leisten, mussten sie die für ihre jeweilige Kunst spezifischen Techniken und Ausdrucksmittel selbst entwickeln. Und wenn Luther Josquins Unabhängigkeit von überholten Regeln bewunderte (die seiner Ansicht nach der überholten Glaubenslehre der katholischen Kirche entsprachen), ­erkannte er eigentlich an, dass die akribischen künstlerischen ­Experimente im Quattrocento kreative Energien freigesetzt hatten, die die Leistungen künftiger Generationen beflügeln sollten.

Anthony Parr ist emeritierter Professor für Englisch an der University of the Western Cape in Südafrika und zurzeit Dozent an der Huntington Library in Kalifornien. Er ist Herausgeber und Autor zahlreicher Publikationen über das englische Theater und die Reiseliteratur der Renaissance und hat verschiedene Beiträge für die New Grove-­ Enzyklopädien zu Musik und Oper verfasst.

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Mapping Renaissance Europe Revival and Revolution in the quattrocento

Anthony Par r

The span of Josquin’s life is roughly framed by two momentous events in European history: the invention of the printing press around 1450, and Luther’s 1517 attack on corruption in the Catholic church that launched the Protestant Reformation. The first greatly facilitated the second by spreading the message of religious reform, just as the development of music printing was to make Josquin’s compositions available throughout Europe and secure his influence on future generations. Luther himself was later to praise Josquin as “the master of the notes” (“der noten meister”) and claimed the composer for reformed styles of worship with his declaration that God preaches the Gospel “also in music, as can be seen in Josquin, from whom all composition flows gladly … not compelled and forced by rules.” The tribute testifies to the continued place of Josquin’s sacred music in Protestant minds and hearts. Nonetheless, the composer’s death in 1521 spared him from witnessing the religious schism that split the Christian world in the 16th century. His career was essentially a product of what art historians call the quattrocento, the era of the 1400s that first saw the revival of arts and learning known as the European Renaissance. The later 15th century was not without doctrinal controversy, and Josquin is thought to have been sympathetic to Girolamo

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Josquin is the master of the notes, which must do as he wishes, while other composers must follow what the notes dictate. —Martin Luther

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S­ avonarola’s campaign in the 1490s to reform religious and civic life in Florence. The radical Dominican friar’s brief control of the city before he was arrested and executed was a result of the unrest caused by the French invasion of Italy in 1494–5, and Josquin, an employee both at the Sforza court in Milan and possibly the court of the French King Louis XII during the period, might have found himself very much in the middle of the military confrontations that ­ensued in the following decades. The composer lived and worked in a turbulent world of shifting alliances and territorial rivalries that would lead to persistent conflict in the 16th century, but which also fostered a growing internationalism in the creative arts, as architects, painters, and musicians moved around the continent and absorbed fresh influences. Italy was the prime destination of migrating artists in Josquin’s time, and what he picked up in Rome, Milan, and Ferrara greatly contributed to the mature style that made him Europe’s leading composer.

Music was just one of the arts that contemporaries saw as being rescued from the obscurity of the Middle Ages: Galileo Galilei’s ­father, the music theoretician and composer Vincenzo Galilei, claimed that it was only in the years when Josquin was active that people sought to recover music “from the darkness in which it was buried.” There was a good deal of propaganda in such claims, as­ ­Josquin’s debt to medieval counterpoint and long-standing popular forms suggests. The idea that Europe since the fall of Rome a ­thousand years before had been a stagnant backwater, lacking ­creativity and intellectual vitality, suited those who saw themselves in the vanguard of a new age. But although they underestimated medieval cultures and failed to see that the seeds of cultural revival had in some cases been planted in earlier centuries, the generation of artists and scholars that came of age in the quattrocento could ­legitimately claim to be part of a new era in the Christian world. The prime focus of the movement we call Renaissance humanism was the revival of classical civilization: the arts, philosophy, and statecraft of ancient Greece and Rome. Many of the writings of classical authors, especially Aristotle, Vergil, and Ovid, had never been forgotten (and in many cases had been preserved by Islamic scholars in the great libraries of Andalusia and the Byzantine

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e­ mpire), and Roman ruins, in various stages of decay, could be seen all over Europe. Rome itself, now the seat of Papal authority, ­constituted a largely unbroken link with the ancient imperial city. At the end of the 14th century, this sense of origins began to coalesce into a program to reclaim the essence of classical culture, as scholars came to regard the ancient world as providing models for proper living and aesthetic improvement. Recovery meant curing the ills of the present by rediscovering the wisdom and achievements of the distant past, prior to the intervening “dark ages,” and to this end a huge effort went into hunting down lost and unknown texts and editing the works of major authors for a new audience. The invention of printing greatly boosted this enterprise, of course, and much ­excitement was generated by the search for manuscripts in monastic libraries and elsewhere. Major discoveries filled out the picture of past civilizations with a chronicle of rise, decline, and fall that ­offered object lessons to students of politics and statecraft like ­Machiavelli, who confessed that in his reading of classical authors he felt entirely at home: “There I taste the food that alone is mine, and for which I was born.” He was far from alone in this belief. Renaissance discovery took many forms, not all of them purely intellectual or artistic. This was also the era of major geographical exploration and expanding frontiers, including the discovery of a sea route to the Indies in 1488, closely followed by Columbus’s landfall in the Americas in 1492. Later, in 1522, just a year after ­Josquin’s death, the survivors of Magellan’s pioneering voyage to circumnavigate the globe returned to Spain. The medieval mappa mundi of three populated continents, two of them—Asia and Africa —largely unknown to Europeans, gave way to a more accurate and detailed geography that illustrated global trade routes and, in time, opportunities for scientific research and colonial exploitation. In many ways this period marks the beginning of what we now call globalization, and it has shaped—for better or worse—the “modern world” to this day. Older views of the European Renaissance emphasized the break with medieval habits of thought and the development of a secular worldview, focusing on a newfound confidence in human enterprise and the growth of individualism. There is much that is correct in this reading (closely associated with the seminal study by Jacob Burckhardt, The Civilization of the Renaissance in Italy, published in 1860). As already noted, contemporaries were keen to see themselves as banishing the recent past and reinventing civilization, and

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in the 15th century were laying the foundations for the massive growth of European power in later centuries. They looked back to Greece and Rome for inspiration and guidance, but their achievements would, in the decades after Josquin’s death, lead to the growing conviction that modernity had outstripped the ancients and was poised to take control of the physical world. However, the triumphalism of the Baroque era was rather different from the optimism of the 1400s, which in various parts of Europe involved a more ­nuanced relationship with the medieval era.

Josquin was one of many artists who moved from Northern Europe to Italy in search of patronage and fresh inspiration. How this shaped his compositional technique is a matter for musical ­experts to debate, but where painters, sculptors, and architects were concerned, it involved an exposure to classical models and aesthetic theory that were less in evidence in the north. Outside Italy, the dominant church architecture was that of Gothic cathedrals, and for much of the 15th century painting and sculpture in the German-­ speaking countries continued to be shaped by the style broadly known as International Gothic. This did not prevent artists from innovating in important ways, but it made it more ­difficult to see their work as a complete break with the past. The vitality and attention to detail in medieval Gothic art debunks a long-lived myth about the Renaissance, that it replaced a disregard for accurate representation of human beings with the first serious attempt at their naturalistic portrayal. Anyone who has examined the figure carvings on choirstalls in Gothic cathedrals will know how carefully their craftsmen drew from life. The same is true of late-medieval paintings that are ignorant of Renaissance theories of perspective but create crowd scenes teeming with lifelike individuals. What is genuinely new in early Renaissance art is an interest in the spaces that individual figures occupy. The many tributes at the time to the lifelikeness achieved by quattrocento painters are not so much to their skill at portraiture as to their ability to place their human subjects in a facsimile of three-dimensional space, to give their bodies weight and volume in a realistic context. This owed much to newly developed techniques of perspective drawing and to other severely mathematical calculations like those that replaced the open, soaring

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space of a Gothic cathedral with the symmetrical, temple-like ­design of many Italian churches. The paradox of the Italian Renaissance, particularly in its ­quattrocento phase, is that an era celebrated for its liberation of artistic expression was so intensely bound by rules. The search for coherent ways of representing physical space on a flat surface, or the need (as humanists saw it) to restore in their buildings the harmony and sense of order that had been sacrificed in cavernous Gothic cathedrals and medieval palaces—these were challenges that were addressed with a formidable body of theory. The results of this approach could sometimes be cold and formulaic, yet the early-Renaissance endeavor to create a disciplined aesthetic based on classical principles and the science of perspective produced some of the most beautiful art and architecture ever made. Architects and sculptors had classical models to follow, of course, but these were not available to painters and composers, who had to find ways of developing the techniques and expressive vocabulary specific to their art in order to be ­participants in this new era. And when Luther admired Josquin’s freedom from obsolete rules (he was aligning doctrinal law with old-fashioned artistic method), he was really acknowledging how rigorous experiment in the arts during the quattrocento had ­released creative energies that would fuel the achievement of future generations.

Anthony Parr is Professor Emeritus of English at the University of the Western Cape in South Africa and is now a Reader at the Huntington Library in California. He has edited and written extensively about English Renaissance theater and travel writing and contributed to the New Grove Dictionaries of Music and Opera.

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Samstag

16. Juli 2022 15.00 Uhr

Späte Messen Peter Phillips Musikalische Leitung The Tallis Scholars


Josquin des Prez (um 1450–1521) Missa De beata virgine I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor, Alex Chance Alt Steven Harrold, Guy Cutting, Ben Hymas, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Robert Macdonald Bass

Pause

Missa Ave maris stella I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor, Alex Chance Alt Simon Wall, Guy Cutting, Ben Hymas Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley Bass

Die frühesten Messen


Späte Messen Missa De beata virgine und Missa Ave maris stella

Missa De beata virgine und Missa Ave maris stella stellen ein f­aszinierendes Werkpaar dar. De beata virgine war zu Josquins Lebzeiten wahrscheinlich das am häufigsten aufgeführte Stück in seinem Schaffen überhaupt – ironischerweise konfrontiert es uns heute als Interpretinnen und Interpreten aber mit einigen ungewöhnlichen Herausforderungen. Im Gegensatz dazu ist Ave maris stella kompakt und flüssig angelegt, und der Einsatz der zugrundeliegenden Choral­melodie ist immer wunderbar deutlich, was für moderne Chöre eine Aufführung in liturgischem Rahmen begünstigt. In beiden Messen experimentiert Josquin mit Texturen, Motiven, ­mathematischen Konstruktionen und allem, was ihn darüber hinaus faszinierte – ohne dabei je vorhersagbar zu sein. Dies macht es ausgesprochen schwierig, Josquins Werke zu datieren, da sein Stil nach seinen frühesten Werken scheinbar kaum weiter reifen musste – er wurde nur immer experimentierfreudiger. De beata virgine ist, der jüngsten Zählung zufolge, in nicht weniger als 69 Quellen überliefert, was sie mit Abstand zur am weitesten verbreiteten Messe Josquins macht. Zugegebenermaßen befinden sich darunter einige sehr lückenhafte Transkriptionen, doch ist das Werk in fünf bedeutenden Chorbüchern jeweils als erste Nummer verzeichnet. Diese Popularität ist besonders interessant, da es der Musik aus heutiger Sicht an Geschlossenheit mangelt. Wir erwarten, dass eine mehrsätzige polyphone Messvertonung einen hörbaren Zusammenhang aufweist, etwa wie eine Symphonie oder ein ­Instrumentalkonzert. In vielen Vertonungen des 16. Jahrhunderts ergibt sich dieser Zusammenhang durch die Verwendung einer durchgängigen Vorlage, deren Hauptcharakteristika regelmäßig im Laufe des Werks zitiert werden. In De beata virgine entsteht Zusammenhang jedoch einzig durch die altmodische Praxis des Zitierens von verschiedenen Gesängen, die ein gemeinsames inhaltliches Thema haben – in diesem Fall Marienfeste. Im musikalischen Sinne motivischer oder gar tonaler Zusammenhalt sind also liturgischer Korrektheit untergeordnet. Die Tatsache, dass vom Credo an die vierstimmige Anlage auf fünf Stimmen erweitert wird, deutet darauf hin, dass das Werk möglicherweise gar nicht als musikalische Einheit konzipiert war, da das vierstimmige Kyrie und Gloria dieses Stilmittel nicht aufweisen.

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Späte Messen


Choral-Paraphrasen sind in diesem Werk das Hauptkonstruktionsprinzip, wobei Gesänge in verschiedenen Modi verwendet werden (in der Reihenfolge der Sätze handelt es sich dabei um Modus I, VII, IV, VIII und VI). Tatsächlich sind diese Modi so unterschiedlich, dass darauf hingewiesen worden ist, Josquin verarbeite hier möglicherweise absichtlich in virtuoser Weise verschiedene modale Verhältnisse – was ein plausibler, wenn auch ungewöhnlicher Grund für seine Vorgehensweise wäre. Möglich ist es, doch bringt es für moderne Chöre unliebsame Konsequenzen mit sich, etwa uneinheitliche Stimmumfänge (und das Credo muss um eine Quarte nach oben transponiert werden, um es überhaupt ausführbar zu ­machen). Was hat man also davon? Die Vorzüge sind subtil, können aber heute ebenso deutlich in Erscheinung treten, wie es sicherlich bei den ersten Aufführungen der Fall war. Die Hauptattraktion sind die Kanons, die den fünfstimmigen Sätzen (Credo, Sanctus und Agnus Dei) zugrunde liegen. In allen drei Sätzen erklingt in jeweils zwei Stimmen die Choralmelodie in einem reinen Quintkanon. Um die Wirkung noch zu intensivieren, fügte Josquin an einigen Stellen noch Melodien im Dreiertakt hinzu, die über und um die Kanons herum gelegt sind. Dies resultiert in einer der berühmtesten Josquin-Passagen überhaupt: dem Teil des Credos, der bei „Qui cum Patre“ beginnt. Selbst für Musik­ theoretiker in der Mitte des 18. Jahrhunderts und damit lange nach Josquins Zeit erwies sich dieses Material als unwiderstehlich und wurde immer wieder zitiert. Die beiden Tenorstimmen ergehen sich in schlichter kanonischer Deklamation, während die Altstimmen und Bässe die Linien der beiden aufgreifen. Darüber singen die ­Sopranstimmen eine langsame Triolenmelodie von reiner Schönheit. Man kann nur spekulieren, weshalb so viele Autoren aus Zeiten, zu denen die Polyphonie längst eine ausgestorbene Kunst war, ­davon derart beeindruckt waren, doch war die schlichte Eleganz der Komplexität sicher einer der Gründe.

Stellt De beata virgine eines von Josquins letzten Werken dar, so muss Ave maris stella früher entstanden sein, denn die Messe wurde 1505 von Ottaviano Petrucci gedruckt. Akzeptiert man die üblichen Charakteristika, die oft der mittleren Periode im Leben von Künstlerinnen und Künstlern zugeschrieben werden, so illustriert die

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Missa Ave maris stella eine ganze Reihe davon. Hier handelt es sich um eine Messe, der eine berühmte Choralmelodie zugrunde liegt, die sich in beiden Agnus Deis zu drei Kanons entfaltet. Der Satz ist allgemein geschmeidig und sicher geführt, sodass man den Eindruck gewinnt, dass Josquin hier mittlerweile entspannter und ­sicherer mit Techniken umgeht, die er bereits zuvor, in jugendlicherer Art und Weise, erprobt hatte. Seine Behandlung der Choralmelodie Ave maris stella demonstriert vorbildlich, wie Motive, die einem Cantus firmus entstammen, über eine große Spannweite hinweg strukturell zu verarbeiten sind. Dies geschieht zuweilen in Imitation, doch sind die Querverweise derart vielgestaltig (man könnte fast sagen symphonisch), dass hier, bildlich gesprochen, kaum Fett an den Knochen ist. Meine Lieblingsstelle, was die motivische Straffheit anbelangt, ist das „Amen“ des Gloria. Es ist nur neun Takte lang, doch tut sich hier ein ganzes Spektrum der Perfektion auf: Das Motiv wird zunächst als Duett präsentiert, dann als Trio und schließlich in einem Durcheinander, in dem alle vier Stimmen zum Einsatz kommen. Der Satz ist derart dicht gearbeitet, dass die Agnus-Dei-Kanons beginnen, bevor man sich als Hörerin oder Hörer ihrer bewusst wird. In dem Sinne könnte diese Vertonung durchaus als Missa ­brevis bezeichnet werden. Seltsamerweise erlaubt Josquin sich ­Erweiterungen dieser Anlage nur im Sanctus, und zwar in Form ­eines ungewöhnlich langen Trios bei „Pleni sunt caeli“, Duetten im Benedictus und einem großen Hosanna. Das Agnus Dei bringt uns dann sofort in andere Gefilde, und das zentrale Motiv, das inzwischen fest etabliert ist, dreht sich immer wieder um sich selbst wie Sphärenmusik. Hier zeigt sich Josquin sicherlich von seiner phantasievollsten und inspiriertesten Seite.

Peter Phillips

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Late Masses Missa De beata virgine and Missa Ave maris stella

Missa De beata virgine and Missa Ave maris stella make an i­ntriguing pair. In Josquin’s own lifetime, De beata virgine was ­probably the most frequently performed piece he had ever written; yet ironically it now presents interpreters with some unusual ­challenges. Ave maris stella, by contrast, is compact and fluent, the use of the chant melody always beautifully clear—potentially a useful setting for modern choirs in a liturgical setting. Both masses show Josquin experimenting with textures, motifs, mathematical constructs, anything that took his fancy, never predictable—and creating a nightmare for people today who want to try to date anything that Josquin wrote after his earliest works, since there seems to be little actual maturing of the style, just more experimentation within it. De beata virgine survives in no fewer than 69 sources, at the last count, making it by far the most widely disseminated of his masses. Admittedly some of these are very incomplete transcriptions, but in five important choir books it stands as the opening number. This popularity is fascinating, since to us the music lacks obvious unity. Nowadays we want a multimovement polyphonic mass setting to be bound together in an audible way, like a symphony or a concerto; and in many settings from the 16th century this is managed by using a model, whose main features are quoted regularly throughout. But in De beata virgine the only unity is provided by the very old-­ fashioned technique of quoting chants associated with a common theme: in this case feasts of the virgin. Thematic and even tonal unity are therefore sacrificed to liturgical propriety. The fact that from the Credo onwards the four-part texture is expanded to five, by means of canon, suggests that the work was not even conceived as a complete musical unity, since the four-voice Kyrie and Gloria do not have this device. Paraphrased plainsong is the main constructional principle, using chants in differing modes. Indeed these modes are so varied that it has been suggested Josquin was deliberately creating a virtuoso ­exercise in modal relationships—making this the (unusual) raison d’être for the whole enterprise. Maybe, though it certainly leads to unpopular things for modern choirs like uneven voice ranges (and the Credo has to be transposed up a fourth to make it work at all).

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So, what are the rewards? They are subtle but can be as evident to us as they clearly were to the first listeners. The main delight is in the canons, on which the five-voice movements (the Credo, Sanctus, and Agnus) rely. All three movements have two chant-based voices in pure canon at the fifth; and to intensify the impact of this Josquin decided on occasion to write triple-time melodies over and around the canons. This led to the most famous passage of all: the section in the Credo which begins at “Qui cum Patre.” For theorists as far removed in time from Josquin as the middle of the 18th century this proved to be irresistible ­material, and it was quoted endlessly. The two tenor parts indulge in simple canonic declamation, while the altos and basses take up the music of both. Over this the sopranos sing a slow triplet melody of effortless beauty. One can only guess at why so many writers, from periods when polyphony had long been a dead art, were so impressed by this, but elegance in complexity must surely have been one reason.

If De beata virgine is one of Josquin’s last works, Ave maris stella must be earlier, having been published by Ottaviano Petrucci in 1505. If one believes in the characteristics often ascribed to the middle­-period works of creative artists, this setting illustrates many of them. Here is a mass based throughout on a famous chant melody, building to three canons in each Agnus Dei. The writing is smooth and assured everywhere, giving the impression that Josquin was ­relaxing with techniques he had tried out before, in a more youthful way. His handling of the chant melody Ave maris stella is a model

The chorale Ave maris stella

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of how to use motifs derived from a cantus firmus structurally over a long span. This is sometimes done in imitation, but the cross-­ references are so protean (one could almost say symphonic) that one comes away realizing there is little fat on these bones. My favorite piece of motivic tautness is the “Amen” of the Gloria. It only lasts nine bars but a whole world of perfection is there: the motif ­presented first as a duet, then a trio, then a pell-mell working in all four voices. So tight is the compositional argument that the Agnus Dei ­canons are upon the listeners before they realize it. In this sense the whole setting might well be called a Missa brevis. Strangely, it is only in the Sanctus that Josquin allowed himself to expand the style, with an unusually long trio at “Pleni sund caeli,” duets in the ­Benedictus, and a big “Hosanna.” The Agnus then immediately ­carries one off into a different space, the central motif, which is well established by now, turning over and over on itself like the music of the spheres. This is surely Josquin at his most inventive and his most inspired.

—Peter Phillips

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Late Masses



Samstag

16. Juli 2022 20.00 Uhr

Die letzten Messen Peter Phillips Musikalische Leitung The Tallis Scholars


Josquin des Prez (um 1450–1521) Missa Mater Patris (nach 1504) I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth Sopran Elisabeth Paul, Caroline Trevor, Alex Chance Alt Steven Harrold, Simon Wall, Guy Cutting, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Simon Whiteley, Robert Macdonald Bass

Pause

Missa Pange lingua (nach 1514) I. Kyrie II. Gloria III. Credo IV. Sanctus – Benedictus V. Agnus Dei Amy Haworth, Charlotte Ashley Sopran Elisabeth Paul, Alex Chance Alt Steven Harrold, Simon Wall, Ben Hymas, Oscar Golden-Lee Tenor Tim Scott Whiteley, Robert Macdonald Bass

Die frühesten Messen


Die letzten Messen Missa Mater Patris und Missa Pange lingua

Josquins Missa Mater Patris gehört zu seinen geradlinigsten Kompositionen – sie ist kühn und gleichzeitig erfrischend schlicht im Stil. „Schlicht“ wird beim Kategorisieren von Kunstwerken oft mit „früh“ gleichgesetzt. Wo Schlichtheit jedoch das Resultat einer künstlerischen Entwicklung über ein ganzes Leben hinweg ist, kann sie auch „spät“ bedeuten, wie viele Künstlerinnen und Künstlern fortgeschrittenen Alters aus unterschiedlichen Genres gezeigt haben – Arvo Pärt ist dafür ein aktuelles Beispiel. Genau diese Reduktion einer hochentwickelten Methode ist es, was Josquin in seiner Missa Mater Patris demonstriert. Kein dichtes polyphones Geflecht mehr wie in vielen seiner früheren Werke, sondern lichte, offene Strukturen, die mit Witz und sogar einer gewissen Verspieltheit ­realisiert werden. Neben diesem ungewöhnlichen Stil finden sich in Mater Patris detailgenaue Referenzen an die Musik von Antoine Brumel. Auch sie sind ungewöhnlich, da Josquin hier zum ersten und einzigen Mal in seinen Messvertonungen die Musik eines Zeitgenossen zitiert – und das zudem in beispiellosem Umfang, was im dritten Agnus Dei besonders auffällt. Auch in den übrigen Teilen seiner Komposition entwickelte Josquin alle Hauptthemen aus Brumels Werk. Daraus lässt sich wohl schließen, dass er Brumel zu dessen Lebzeiten nahegestanden hatte und ihm nun eine Huldigung schrieb – möglicherweise kurz nach Brumels Tod im Jahre 1512 oder 1513. Ob Mater Patris damit Josquins letzte Messvertonung ist oder nicht, hängt ­davon ab, wie man seine Missa Pange lingua datiert, die schon lange als sein letztes Wort zur Vertonung des Messordinariums gilt. Es ist allerdings nicht auszuschließen, dass Josquin sich als älterer Mann, nach all seiner ernsten Arbeit, nun an einem Musikstil versuchte, bei dem das Gelehrsame nicht im Vordergrund steht. Im Unterschied zu dicht gearbeiteten Messvertonungen wie etwa Gaudeamus (siehe S. 50) oder Sine nomine (siehe S. 16) weist Mater Patris im Wesentlichen nur zwei Schreibstile auf, die einander perfekt ergänzen: äußerst imitative Duette, hauptsächlich gesungen von den beiden Mittelstimmen, und feierliche Akkordblöcke, die sie oft abrunden. Zudem gibt es drei längere Duette, die allesamt als strenge Kanons gesetzt sind: ,,Pleni sunt caeli“ (ein Obersekundkanon), das Benedictus (ein Untersekundkanon) und das zweite

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Agnus Dei (ein Kanon im unisono). Ihre Länge wird durch die Wiederholungen in der Musik bestimmt – dieses zeichnet die Messe als Ganzes aus und entstammt der Vorlage Brumels dreistimmige Motette (im „Hosanna“ wird Brumels „exaudi“-Motiv 34 Mal wiederholt und erklingt in allen modalen Tonlagen). Und dann ist da das dritte Agnus Dei, ein erstaunliches Glanzstück, in dem Josquin Brumels dreistimmige Motette Mater Patris fast ganz in sich aufnimmt und in die drei Mittelstimmen einer fünfstimmigen Struktur umformt, wobei die Außenstimmen neu komponiert sind. Meine Lieblingsstelle kommt kurz bevor die Worte ,,Agnus Dei“ ein letztes Mal in Akkordblöcken erklingen: hier fügt Josquin seine beiden ­eigenen Stimmen dem Duett aus der Vorlage hinzu. Er hat die Möglichkeiten bei Brumel so deutlich gehört, dass seine eigenen Einfälle ebenso interessant sind, insbesondere die Art und Weise, mit der die Bassstimme dieselben beiden Töne unterhalb der Musik Brumels stetig wiederholt.

Die Missa Pange lingua gilt allgemein als späte Messe – wahrscheinlich ist sie Josquins letzte – und als eine seiner besten: Hier kommt vieles zusammen, was er in früheren Messvertonungen ­erprobt und perfektioniert hat. Gleichzeitig weist die kompositorische Sprache voraus auf die Mitte des 16. Jahrhunderts. In diesem Werk liegt das Hauptaugenmerk endgültig und uneingeschränkt auf der Kunst der Imitation, die alle Stimmen als gleichberechtigt behandelt. Die Art und Weise, wie Josquin die sechs kurzen Phrasen der zugrundeliegenden Choralmelodie (die ursprünglich von ­Thomas von Aquin für das Fronleichnamsfest geschrieben wurde) so unkompliziert und ausgewogen auf alle vier Stimmen verteilt, hatte für die Musik der Renaissance in ganz Europa weitreichende Auswirkungen. Die Komposition der Missa Pange lingua wird üblicherweise nach 1514 angesetzt. In diesem Jahr veröffentlichte Ottaviano Petrucci das dritte und letzte Buch seines Missarum Josquin, in dem sie nicht enthalten ist. Da Josquin zu dieser Zeit wieder im französischen Condé-sur-l’Escaut lebte, weit weg von Petrucci im italienischen Fossombrone, könnte es aber durchaus sein, dass Josquin die Messe früher schrieb und Petrucci davon schlicht nichts wusste. Die Tat­ sache, dass Pange lingua um 1515 plötzlich in sieben Quellen in ganz

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Der Choral Pange lingua

Europa auftaucht, könnte auf ein deutlich früheres Entstehungsdatum hindeuten. Doch ungeachtet dessen haben wir es hier trotzdem mit Josquins letzter Messe zu tun – falls nicht doch Mater Patris später entstand –, die er im Alter von über 60 Jahren schrieb. Danach ließ er die Gattung hinter sich und wandte sich kleineren, mehr als vierstimmigen Formen zu. Die Klangwelt dieser Messe wird entscheidend von den Stimm­ umfängen geprägt, die sich hier der modernen SATB-Praxis an­ nähern, vor allem dann, wenn man die Messe um eine kleine Terz nach oben transponiert, wie es sich in den vergangenen Jahrzehnten als gängige Praxis etabliert hat. Nach wie vor überschneiden sich die beiden Mittelstimme häufig, doch obwohl sie sich in ihrem tiefsten Ton gleichen, liegt zwischen ihren Spitzentönen eine Terz – in allen anderen Messen ist es höchstens eine Sekunde. Dieser ­Unterschied macht viel von der Wirkung dieses Stücks aus – man spürt eine größere klangliche Offenheit. Diese Transparenz wird von mathematischen Kunstgriffen und strengen Kanons nicht getrübt. Pange lingua ist eher mit der Missa Malheur me bat (siehe S. 68) als mit Sine nomine (siehe S. 16) vergleichbar, indem auch hier die Vorlage – in diesem Fall einstimmig – mit derselben oder gar noch größerer Raffinesse in die vorgegebene Struktur integriert wird. Um es genauer zu sagen: Die ersten neun Takte des Kyrie basieren auf der ersten Phrase der Choralmelodie. Der nächste Abschnitt basiert auf der zweiten Phrase, das Christe auf den Phrasen drei und vier und das zweite Kyrie schließlich auf den Phrasen fünf und sechs. Danach tauchen nur noch einige Phrasen des Hymnus im Gloria, Credo und Sanctus auf, mit Ausnahme ­eines vollständigen Zitats im dritten Agnus Dei. Dieses langsame

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Zurücktreten der Choralmelodie in den mittleren Sätzen ist ebenfalls einmalig. Josquin ging es in seiner letzten Messvertonung ­darum, weite, offene Räume schaffen. Neben den langen Duetten bei „Pleni sunt caeli“ und im zweiten Agnus Dei (die beide zeitweise wie Kanons wirken, es im strengen Sinne aber nicht sind) halten das Benedictus, das „Hosanna“ und das Agnus Dei III die faszinierendsten Abschnitte bereit. Das ­Benedictus, in dem die bis dahin übliche Praxis miteinander verbundender Duette noch einen Schritt weiter getrieben wird und lediglich zwei Stimmen in ein fragiles Zwiegespräch miteinander treten, ist wahrhaft kühn konzipiert. Einen Komponisten wie Josquin, der kompositorisch bereits alles erreicht hatte, faszinierte diese ­Simplizität. Das „Hosanna“ mit seinen wohlüberlegten Wechseln zwischen geradem und ungeradem Metrum ist ebenfalls außer­ gewöhnlich. In anderen Hosannas, etwa in Ave maris stella (siehe S. 104) oder Malheur me bat, geschehen diese Wechsel sehr schnell, oder beide Metren erklingen gleich zur selben Zeit. Hier sind die einzelnen Abschnitte deutlich gewichtiger und klar voneinander abgegrenzt. Das dritte Agnus Dei bildet auch in der Missa Pange lingua den ­krönenden Abschluss, der alles Vorangegangene in sich aufnimmt, in diesem Fall jedoch unter Verzicht auf Kanons. Stattdessen zitiert Josquin einfach zum ersten Mal in der gesamten Messe die Choralmelodie vollständig. Zunächst ist sie in langen Notenwerten zu ­hören, dann in einer mehr oder weniger freien Verarbeitung. G ­ egen Ende des Satzes wird aus ihren letzten sechs Noten ein friedvolles Motiv gebildet, dass dem Schlussabschnitt den Charakter eines ­eindringlichen Gebets verleiht.

Peter Phillips

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Last Masses Missa Mater Patris und Missa Pange lingua

Josquin’s Missa Mater Patris is one of his most forthright compositions, full of daring in a bracingly simple style. In many people’s minds “simple” tends to mean “early” when categorizing an artist’s output. But where the simplicity is the result of an artist having ­refined something that has evolved over a lifetime, then it can also indicate “late,” as many elderly writers, painters, and musicians have shown over the centuries—Arvo Pärt is a current example. And paring down a highly developed method is exactly what Josquin shows in Mater Patris. Gone is the dense polyphonic argument of so much of his earlier music. In its place are light, open textures delivered with a good deal of wit, even playfulness. Alongside the unusual style of Mater Patris are Josquin’s detailed references to the music of Antoine Brumel. These also are unusual, since this is the only time in all his masses that Josquin quoted the music of a contemporary—and he went to unheard-of lengths with these quotations, most remarkably in the third Agnus Dei. Furthermore, for the rest of the composition Josquin derived all his principal themes from Brumel’s work. It seems likely, then, that he was close to Brumel in life and decided to write a homage to him, perhaps shortly after his death in either 1512 or 1513. Whether this would make Mater Patris Josquin’s last mass setting depends on the date one gives to his Missa Pange lingua, which has long been said to represent his last thoughts in setting the texts of the Ordinary. However, the possibility remains that Josquin as an old man, after all the serious work, felt able to turn his hand to music that wears its learning lightly. Unlike closely argued mass settings such as Gaudeamus (see p. 56) or Sine nomine (see p. 20), Mater Patris essentially has only two types of writing, and these act as the perfect foil to each other: highly imitative duets, mostly sung by the two middle parts, and solemn block-chords which often round them off. In addition to this there are three lengthy duets, all of them strict canons: “Pleni sunt caeli” at the second above; the Benedictus at the second below; and the second Agnus Dei at the unison. Their length is determined by the amount of repetition in the music, something that characterizes the mass as a whole and is derived from the Brumel model (the “Hosanna” quotes Brumel’s “exaudi” motif 34 times and at ­every modal pitch).

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And then there is the third Agnus Dei, the astonishing crowning glory, in which Josquin swallowed Brumel’s Mater Patris almost whole, making it form the three middle voices of a five-voice texture, the outside voices being newly composed. My favorite moment is just before the final block-chord statement of “Agnus Dei,” where Josquin has added his own two parts to what was a duet in the model. He has heard the possibilities in the Brumel so clearly that his own inventions are just as interesting, especially the manner in which the bass keeps repeating the same two notes under Brumel’s music.

With the Missa Pange lingua we finally come to a setting that has united rather than divided its commentators. Everyone agrees that it is a late work, quite possibly Josquin’s last mass, and in many ways his finest. It sums up some of the things he was striving to perfect in his earlier settings, while advancing his compositional language towards the methods of the mid-16th century. It was in this work that Josquin finally made the art of imitation, by which all the voices must be treated as being equal, of primary importance. The way in which he took a plainchant hymn (written by Thomas Aquinas for the feast of Corpus Christi) and divided its six short phrases so straightforwardly among all four voice-parts had profound repercussions for later Renaissance music throughout Europe. The preferred date of composition has been after 1514, which was the year of Petrucci’s last book of Josquin’s masses, where it does not appear. However, given that by this time Josquin was ­living back in Condé-sur-l’Escaut, a long way from Fossombrone (where Petrucci was), it is quite possible that he wrote the mass ­earlier than 1514, which Petrucci did not know. The fact that it ­suddenly appears in seven sources throughout Europe of around 1515, all originating a long way from where Josquin was, might suggest a considerably earlier date of composition. Nonetheless, apart possibly from Mater Patris, we are still referring to Josquin’s last mass, written when he was over 60. After Pange lingua he finally turned away from this genre and began to concentrate on smaller forms in more than four voices. The sound-world of this setting is determined by the vocal ranges, which finally come closer to the modern practice of SATB, ­especially if the music is transposed up a minor third, which it standardly has been in recent decades. The middle parts still constantly overlap, but although they both have the same lowest note there is a

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crucial difference of a third in their top notes. This difference really does help to define this piece—in all the other masses, even the late ones, these parts peak on the same note or within a note of each other. The more open sonority this gives is detectable, especially in transposition. This openness of scoring is unhindered by strict canon or clever mathematics of any kind. Pange lingua is more like Malheur me bat (see p. 72) than Sine nomine, with the model—here monophonic— subsumed into the prevailing texture with all the ­sophistication shown in Malheur me bat, and arguably quite a bit more. To be precise, the first nine bars of the first Kyrie are based on the first phrase of the hymn. Its second phrase is used in the next s­ection, phrases three and four appear in the Christe, and phrases five and six in the second Kyrie. After that only a few phrases of the hymn are heard in the Gloria, Credo, and Sanctus, though the ­entire melody is quoted in Agnus III. This slow abandonment of the chant as a starting point for the middle movements is also unique. Josquin was heading for the wide open spaces as he concluded his mass career. Apart from the long duets at “Pleni sunt caeli” and Agnus II (which both seem like canon at times but are not strict), the most arresting writing comes in the Benedictus, “Hosanna,” and Agnus III. The Benedictus is truly a bold conception, taking the now-­ customary method of conjoined duets a stage further, by having just two voices answering each other in the most fragile of conversations. This is the kind of simplicity that can inspire a composer who has tried it all. The “Hosanna” is also extraordinary, with its deliberate change from duple to triple time. In other “Hosannas” (Ave maris stella, Malheur me bat) he swopped between them quickly, or even had them both going at the same time; but here the sections are substantial and demarked. The third Agnus Dei is one of those crowning glory movements, summing up what has gone before, though this time Josquin did his summing without canon. Here he simply quoted the hymn complete for the first time in the mass. It is heard first in long note values and then in a more or less free elaboration. ­Toward the end its last six notes are transformed into a peaceful motif that turns the closing passage into an insistent prayer.

—Peter Phillips

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