La fonte musica & Michele Pasotti

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La fonte musica & Michele Pasotti The Colors of Ars Nova

LA FONTE MUSICA & MICHELE PASOTTI

The Colors of Ars Nova

Samstag 15. Oktober 2022 19.00 Uhr

Michele Pasotti Laute und musikalische Leitung

Alena Dantcheva Sopran

Francesca Cassinari Sopran

Elena Carzaniga Alt

Gianluca Ferrarini Tenor

Massimo Altieri Tenor

Teodoro Bàu Fidel

Efix Puleo Fidel

Henry Van Engen Zugtrompete und Posaune

Nathaniel Wood Zugtrompete und Posaune

Federica Bianchi Clavicymbalum

Das Konzert wird per Audio-Livestream auf Pierre Boulez Saal Online übertragen und bleibt dort für Mitglieder noch weitere sechs Monate zum Nachhören verfügbar. boulezsaal.de/online

Gemälde von Giotto di Bondone (1267? 1337)

Laudario di Cortona (zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts)

Sia laudato San Francesco

Codex Santa Maria Maggiore 1, Guardiagrele (um 1400)

Alleluia

Codex Faenza 117 (15. Jahrhundert) Kyrie (instrumental)

Johannes Ciconia (um 1370–1412) O Padua sidus praeclarum

Marchetto da Padova (fl. 1305–19) Ave regina caelorum / Mater innocencie

Johannes Ciconia O felix templum jubila

Matteo da Perugia (fl. 1402–26) Ave sancta mundi salus / Agnus Dei

Codex Faenza 117

Benedicamus Domino (instrumental)

Guillaume de Machaut (um 1300–1377)

Sanctus & Benedictus aus der Missa de Notre Dame

Convento di Santa Maria dei Servi, Siena (14. Jahrhundert) Ave stella matutina

Codex Faenza 117 [Ohne Titel] (instrumental)

Antonio Zacara da Teramo (um 1360–1416) Credo „Deus Deorum“

Pause Codex Faenza 117 Ave maris stella

Llibre Vermell de Montserrat (um 1500) Mariam matrem virginem

Matteo da Perugia Laurea martirii / Conlaudanda est

Codex Faenza 117 Constantia (instrumental)

Matteo da Perugia Gloria

Antonio Zacara da Teramo Credo

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Die Farben der Ars Nova

„La musica non è da essere chiamata altro che sorella della pittura“ – Leonardo da Vinci wird der Ausspruch zugeschrieben, Musik könne nicht anders genannt werden als die „Schwester der Malerei“. In unserem heutigen Programm möchten wir dieser Verwandtschaftsbeziehung mit Blick auf die Musik der Ars nova und die Malerei des 14. Jahrhunderts auf den Grund gehen. Während sich die Komponisten neuartige Klangwelten, Gefühls äußerungen und rhythmische Möglichkeiten erschlossen, machten sich auch die bildenden Künstler, allen voran Giotto di Bondone (1267?–1337), auf die Suche nach einem neuen Naturalismus: die Natur und ihre urbane Lebenswelt wurden zur Inspirationsquelle für Werke, in denen sie Emotionen in nie dagewesener Weise zum Ausdruck brachten.

Nach unserem ersten Konzert im vergangenen März, das der weltlichen Musik dieser Zeit gewidmet war, steht jetzt sakrale Kunst im Mittelpunkt: Wie behandelten die Komponisten der Ars nova und ihre Malerkollegen religiöse Themen und Motive? So wie in Darstellungen von Christus am Kreuz zunehmend echtes Leiden und Schmerz zu sehen sind, inszenieren auch die Komponisten die liturgischen Texte, die sie vertonen, in immer ausdrucksstärkerer Weise – was man später nicht ohne Grund als Wortmalerei bezeichnet hat.

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Musikalischer Realismus im 14. Jahrhundert Michele Pasotti

Ähnlich wie die Einführung der perspektivischen Darstellung in den bildenden Künsten der Renaissance parallel zur Entwicklung musikalischer Polyphonie verlief, sind auch Giottos „realistische“ Revolution und die Ursprünge der Ars nova eng miteinander ver knüpft. Der Übergang von der älteren, byzantinischen Tradition, die die europäischen Malerei lange geprägt hatte, zu Giottos lebens nahen Motiven, seinem neuen Verständnis von Räumlichkeit und Körperlichkeit, ganz zu schweigen von der Ausdruckskraft seiner Figuren, ist eine Revolution von kaum zu überschätzender Tragweite. Sie markiert eine grundlegende Neubewertung der Realität selbst und die ästhetische Nobilitierung – auch der eher profaneren Aspekte – unserer Alltagswelt. Giotto und die Begründer der musikalischen Ars nova waren auch über ihre Wirkungsstätten miteinander verbunden. „Kunst ahmt die Natur nach so gut sie kann (wie Aristoteles im zweiten Buch seiner Physik schreibt). Ich werde das mit einem Beispiel beweisen: Wer eine Lilie oder ein Pferd malt, versucht dies so zu tun, dass sein Bild einer Lilie oder einem Pferd in der Natur ähnelt.“ Dieses Zitat stammt aus dem Traktat Pomerium in arte musice mensurate des Musik theoretikers und Komponisten Marchetto da Padova von 1318/19, dem „Vater“ der italienischen Ars nova, der in seinen Schriften immer wieder Vergleiche mit der Malerei bemüht. Marchetto stammte aus Padua, und während er sein Pomerium verfasste, malte Giotto in der dortigen Cappella degli Scrovegni seinen berühmten Fresken zyklus. Marchetto muss zuallererst an Giotto gedacht haben, als er die zitierte Passage schrieb.

Bei genauerer biographischer Analyse findet sich eine weitere Verbindung nicht nur zwischen Giotto und Marchetto, sondern auch zu Philippe de Vitry, dem Begründer der französischen Arsnova-Tradition. In den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts war der Hof König Roberts von Anjou in Neapel ein Anziehungspunkt für die kulturelle Avantgarde der Zeit. Einige der berühmtesten Künstler aus Umbrien und der Toskana waren dort tätig – unter ihnen auch Giotto, der gemeinsam mit anderen Malern aus seiner Werk statt bedeutende Fresken im neapolitanischen Castel Nuovo und im Konvent St. Chiara schuf. Der König selbst war passionierter Sänger und schrieb gelegentlich auch eigene Melodien. Marchettos Pomerium ist ihm gewidmet.

Der Geschichtsschreiber Bernardino Scardeone berichtet im 16. Jahrhundert, Marchetto habe sich bei seinem Aufenthalt am angevinischen Hof in Neapel mit Robert angefreundet: „Marchetto

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hatte gelernt, die Stimmung des Königs nach Belieben zu beruhigen oder zu erregen, indem er die Melodien, seine Stimme und die Rhythmen seiner Lieder variierte.“ Auch Philippe de Vitry stand dem Hof Roberts nahe und begegnete Giotto und Marchetto wahrscheinlich um 1318/19 in der Provence. Es scheint also auch einen ganz realen Ort gegeben zu haben, der Giotto und die beiden wichtigsten Vertreter der italienischen und französischen Ars nova miteinander verband.

Die Ars nova bestand in ihren Anfängen in erster Linie in einer neuen und wesentlich genaueren Art und Weise, Musik aufzu schreiben. Sie erlaubte es den Komponisten, Rhythmen erstmals exakt und eindeutig zu notieren. Wie in der Malerei war es das Ziel Marchettos und seiner Zeitgenossen, musikalisches Geschehen in möglichst „realistischer“ und „naturalistischer“ Form auf dem Noten blatt zu fixieren und zu reproduzieren.

Dieser neuartige Naturalismus in Musik und Malerei hängt eng mit einer szientistischen, aristotelischen Kunstauffassung zusammen. Dank der Genauigkeit der Ars-nova-Notation konnten Komponisten nun den musikalischen Raum exakt „kontrollieren“ und so neue musikalische Perspektiven schaffen: Zum ersten Mal und mit weit aus größerem kreativem Spielraum ließ sich nun präzise festlegen, wo und wie die einzelnen Stimmen einer polyphonen Komposition aufeinandertreffen. Ähnlich wird auch in der Malerei, ausgehend von Giottos Werk, der durch die Anwendung von intuitiver maleri scher Perspektive den Eindruck von Dreidimensionalität erweckt, der Bildraum neu konzeptualisiert und organisiert. Und schließlich verhandeln viele weltliche Kompositionen der Ars nova Themen wie Liebe, Tod, Verlust, Schmerz, Freude, Sex, Träume, Jagden, Tiere, Märkte, Schiffbrüche oder Feuersbrünste in völlig neuer Expressivität: Menschliche Emotionen und Leidenschaften werden „realistisch“ repräsentiert, so wie wir die Gefühlszustände von Giottos Figuren direkt an ihrer Mimik und Gestik ablesen und ver stehen können.

Um die Parallelen zwischen Musik und Malerei so anschaulich wie möglich darzustellen, habe ich zu den Stücken des heutigen Programms 13 Meisterwerke von Giotto di Bondone ausgewählt, von seinen frühen Fresken in der Basilika San Francesco in Assisi bis zu seinen letzten Tafelbildern.

Übersetzung aus dem Englischen: Christoph Schaller

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The Colors of Ars Nova

“La musica non è da essere chiamata altro che sorella della pittura”—music is not to be called anything other than the sister of painting, wrote Leonardo da Vinci. With tonight’s program, we want to explore this relationship between music of the Ars Nova period and contemporary painting of the 14th century. At the same time as composers introduced new soundscapes, expressions of emotions, and rhythmical possibilities to their art, painters, first and foremost Giotto di Bondone (1267?–1337), also began their search for a new naturalism, extensively drawing from nature and urban life and expressing emotions in ways that had never been tried before.

Following our first concert dedicated to secular music of the time last March, this performance is centered around religious art: how did Ars Nova composers and contemporary painters approach sacred texts and stories? Just as depictions of Christ on the cross start to show true suffering and pain, composers too begin to establish ever stronger links between the sacred texts they are setting and their musical expression, in what not by chance will come to be called word-painting.

While the introduction of perspective played a key role in the visual arts of the Renaissance, parallel to the development of poly phony in music, there is also a strong connection between Giotto’s “realistic” revolution and the origins of Ars Nova. The transition

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Musical Realism in the 14th Century Michele Pasotti

from the older Byzantine style that had been dominant in Western painting to Giotto’s drawing from nature, his new sense of space and corporeity, not to mention the expressiveness of his characters, is a revolution whose impact can hardly be overestimated. It marks a fundamental reevaluation of reality itself, bestowing new dignity upon the world that surrounds us.

Giotto and the fathers of Ars Nova were also connected through the places where they worked. “Art imitates nature as far as it can (as Aristotle said in Book II of the Physics). I shall prove this with an example: he who paints a lily or a horse strives as far as he can to paint it so as to resemble a horse or a lily in nature.” These words are taken from the 1318–9 treatise Pomerium in arte musice mensurate by music theorist and composer Marchetto da Padova, the father of Italian Ars Nova, who constantly refers to the art of painting in his works. Marchetto was from Padua, and at the time he was writing Pomerium, Giotto decorated the city’s Cappella degli Scrovegni with his famous frescoes. Marchetto must have written that passage, first and foremost, with Giotto in mind.

Taking a closer look at their biographies we find another link between Giotto and Marchetto as well as Philippe de Vitry, the father of French Ars Nova. In the first decades of the 14th century, the court of Robert of Anjou in Naples was a center of attraction for the cultural avant-garde. Some of the most famous artists of the Umbrian-Tuscan area worked for the Angevin court, including Giotto, who, together with his workshop, painted important frescoes in Naples’s Castel Nuovo and in the convent of S. Chiara. The king himself had a passion for singing and occasionally wrote tunes of his own. Marchetto’s Pomerium is dedicated to him.

According to the 16th-century writer Bernardino Scardeone, Marchetto visited the Angevin court in Naples and became a friend of the king: “Marchetto had learned how to calm and excite the sentiments of the King by varying the sound and rhythm of his songs.” Philippe de Vitry also had a connection to the court and probably met Robert and Marchetto in Provence in 1318–9. So there seems to have been a physical place as well that connected Giotto with two of the most important figures of Italian and French Ars Nova.

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The Ars Nova movement started out as a new and more precise way of writing music. It allowed composers, for the first time, to notate rhythm exactly and unambiguously. Just as in paint ing, the goal for Marchetto and his contemporaries was to fixate and reproduce sound on paper in a more “realistic” and “naturalistic” way.

This new naturalism, both in painting and music, has much to do with a scientific, Aristotelian approach to the arts. The exactness of Ars Nova notation gave composers the means to “control” musical space and to create new perspectives in music: for the first time, and with a much greater degree of variety, they were able to determine exactly where the voices of a polyphonic piece would meet. In a very similar way, visual space is conceived and organized differently from Giotto onward, who created the illusion of three-dimensional space by applying a kind of intuitive painterly perspective. Lastly, much secular Ars Nova music deals with themes such as love, death, loss, pain, joy, sex, dreams, hunting, animals, markets, shipwrecks, and fires in a completely new form of expressiveness: human emo tions and passions are represented “realistically,” just as we can see and understand the feelings of Giotto’s characters on their faces and in their bodies.

To illustrate the parallels between music and painting as vividly as possible, I have selected 13 masterworks by Giotto di Bondone to accompany the pieces on tonight’s program, from his early frescoes in the Basilica di San Francesco in Assisi to his last panel paintings.

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Der heilige Franziskus predigt den Vögeln / Saint Francis Preaches to the Birds (1297 1300) Basilica di San Francesco, Assisi

Wir beginnen mit einem frühen, sehr eindrucksvollen Meisterwerk Giottos: dem Freskenzyklus in der Basilika von Assisi, der das Leben des heiligen Franziskus zeigt. Hier ist die berühmte Predigt an die Vögel zu sehen, die an die mythologische Figur des Orpheus und seine wundersame Gabe, Tiere und sogar leblose Gegenstände zu betören, erinnert.

Mit der gleichen Einfachheit wie das Fresko von Giotto sind die frühesten erhaltenen Beispiele für einstimmige religiöse Gesänge in Italien, die sogenannten Laude aus dem Laudario di Cortona gestaltet. Noch hat die Zeit der Ars nova nicht begonnen, und wir hören nach wie vor die Klangwelt des späten 13. Jahrhunderts. Sia laudato San Francesco (Gelobt sei der heilige Franziskus) ist eines der bekanntesten und charakteristischsten Beispiele für dieses Genre.

We start with one of Giotto’s early and very impressive masterpieces: the cycle of frescoes illustrating the life of Saint Francis in the Basilica of Assisi. Here we can see the famous sermon to the birds, which recalls the mythological figure of Orpheus and his miraculous ability to enchant animals and even inanimate objects.

The earliest surviving examples of monophonic, religious songs in Italy, called laude, are found in the Laudario di Cortona and share the simplicity of Giotto’s fresco. Ars Nova has not yet arrived, and we can still hear the sound world of the late 13th century. Sia laudato San Francesco (Praised be Saint Francis) is one of the most famous and representative examples of the genre.

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Maria Magdalenas Reise nach Marseille / Mary Magdalene’s Journey to Marseille (1297 1300) Basilica di San Francesco, Assisi

Dieses Fresko aus demselben Zyklus in Assisi zeugt von Giottos Interesse an Dingen des täglichen Lebens. Wir sehen Maria Magdalena zusammen mit einer Gruppe anderer Heiliger an Bord eines Schiffes, auf dem – nach der Legenda aurea von Jacobus de Voragine, einer weit verbreiteten Sammlung von Heiligengeschichten aus dem 13. Jahrhundert – Nichtchristen sie ohne Ruder dem Tod auf dem Meer überlassen hatten, das aber wundersamerweise Marseille erreichte. Nachdem sie von Bord gegangen waren, stellte Maria mit Schrecken fest, dass die Bevölkerung der Stadt Götzen opferte, und forderte sie auf, sich zum Christentum zu bekehren. Die Heiligen auf dem Schiff, das Meer, die Insel mit den beiden Bäumen, der Hafen, die Mauern und Türme der Stadt sind sorgfältig und mit naturalistischen Details ausgeführt.

Diese Verschmelzung des Heiligen mit dem Weltlichen ist auch ein Merkmal der Musik der Ars nova. Eine der berührendsten Melodien aus dem italienischen Repertoire ist ein anonymes Alleluia, das sich im Codex Santa Maria Maggiore 1 in Guardiagrele erhalten hat. Die Melodie könnte ebenso gut die eines Liebesliedes sein, doch hier erscheint sie als sinnliches, melismatisches Alleluia, das das Wunder der die Küste erreichenden Heiligen in Musik übersetzt.

This fresco from the same cycle in Assisi demonstrates Giotto’s interest in the details of everyday life. We see Mary Magdalene in a boat together with a group of other saints, who—according to Jacobus de Voragine’s Legenda aurea, a widely read 13th-century anthology of traditional lore about the saints—were abandoned rudderless by non-Christians to die at sea, but miraculously arrived in Marseille. Once disembarked, Mary, horrified to see that the city’s inhabitants were sacrificing to idols, invited them to convert to Christianity. The saints on the boat, the sea, the island with two trees, the port, the walls and towers of the city are carefully painted in naturalistic detail.

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This fusion of the sacred and the secular is a feature of Ars Nova music, too. One of the most touching melodies we have from the Italian repertoire is an anonymous Alleluia preserved in the Codex Santa Maria Maggiore 1 in Guardiagrele. The melody could well be of a love song, but here it appears as a sensual, melismatic Alleluia that translates the miracle of the saints reaching the shore into music.

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Die Beweinung Christi / The Mourning of Christ (1303 05) Cappella degli Scrovegni, Padua

Giottos Beweinung Christi ist Teil seines zweiten großen Fresken zyklus, den er um die Wende zum 14. Jahrhundert im Auftrag des Paduaner Bankiers Enrico degli Scrovegni in der Scrovegni-Kapelle in Padua malte. Diese Fresken, die allgemein als Wendepunkt in der westeuropäischen Kunstgeschichte gelten, zeigen die ganze Pracht und Neuartigkeit von Giottos Kunst. Himmel und Erde sind durch Tränen und sichtbares Leid vereint. Die Jünger, die Heiligen und die Engel im Himmel, die offensichtlich alle große seelische und körperliche Qualen leiden, stimmen in das kosmische Klagelied über ihren Verlust und ihre Hilflosigkeit ein.

Keine Musik der damaligen Zeit vermochte Gefühle mit der gleichen Intensität auszudrücken. Eine sogenannte desperata, ein Liebeslied für einen toten Geliebten wie das fast 100 Jahre später entstandene Merçè o Morte von Ciconia, reicht vielleicht an diese Ausdruckskraft heran. Johannes Ciconia verbrachte die meiste Zeit seines Lebens in Padua und starb auch dort. Seine Motette O Padua sidus praeclarum preist die Stadt unter anderem als Heimat der Künste und Künstler:innen (wobei die entsprechenden Worte in der am stärksten synkopierten, also gewissermaßen kunst vollsten Passage des Stücks eindrucksvoll vertont wurden). Zuvor erklingt ein instrumentales Kyrie aus dem Codex Faenza 117.

Giotto’s Mourning of Christ is part of his second great cycle of frescoes, painted in Padua’s Scrovegni Chapel at the turn of the 14th century on commission from the Paduan banker Enrico degli Scrovegni. These frescoes, widely considered a watershed in Western European art history, exemplify all the grandeur and novelty of Giotto’s art. Heaven and earth are united by tears and visible pain. The disciples, saints, and the angels in the sky, all of them obviously in great emotional and physical distress, chiming in with the cosmic lament about their loss and helplessness.

No music of the time was able to express the same intensity of emotion. A desperata, a love song for a dead lover such as Ciconia’s Merçè o Morte, written almost 100 years later, might come close.

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Johannes Ciconia spent most of his adult life in Padua and died there. His motet O Padua sidus praeclarum praises the city as, among other things, a home for the arts and artists (with the respective words effectively set to music in the piece’s most syncopated, i.e., artful phrase). This piece is preceded by an instrumental Kyrie from the Codex Faenza 117.

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Die Begegnung Joachims und Annas an der Goldenen Pforte / Meeting of Anna and Joachim at the Golden Gate (1303–05) Cappella degli Scrovegni, Padua

Einer apokryphen christlichen Überlieferung zufolge traf sich das kinderlose Paar Anna und Joachim am Goldenen Tor in Jerusalem, nachdem ein Engel Anna offenbart hatte, dass sie endlich ein Kind empfangen habe, nämlich Maria. Direkt vor dem Tor umarmen sich die beiden und küssen sich zärtlich – ein Verweis auf die Zeugung. Der Lehre der Franziskaner zufolge wurde Maria allein durch diesen Kuss gezeugt. Erstaunlich ist hier der Realismus in Giottos Darstellung der körperlichen Zuneigung zwischen den beiden.

Diese Szene wird in Marchetto da Padovas Marienmotette Ave regina caelorum / Mater innocencie in Musik übersetzt, einer der ersten italienischen Motetten und einem Meilenstein der Ars nova. Die ersten Wörter jeder zweiten Zeile des Textes im Ave regina caelorum ergeben zusammen das Gebet „Ave Maria gratia plena“, während die ersten Buchstaben der Zeilen von Mater innocencie den Namen von Marchetto selbst bilden (Marcum Paduanum). Die Musikwissenschaftlerin Eleonora Beck geht davon aus, dass das Stück anlässlich der Einweihung der Scrovegni-Kapelle am 25. März 1305 komponiert wurde. Doch selbst wenn dies nicht zutrifft, könnten sich Giotto und Marchetto in Padua oder am angevinischen Hof in Neapel begegnet sein. Marchettos revolutionärer Zugang zur Komposition, zur musikalischen Notation und zur Musiktheorie ist mit Giottos Revolution in der bildenden Kunst vergleichbar.

According to apocryphal Christian tradition, the childless couple of Anna and Joachim met at Jerusalem’s Golden Gate after an angel had revealed to Anna that she had finally conceived a child—Mary. They embrace each other and kiss affectionately right outside the gate, which alludes to procreation. Franciscan doctrine maintains that Mary was conceived through this very kiss alone. The realism in Giotto’s depiction of their physical affection is striking.

This scene is translated into music in Marchetto da Padova’s Marian motet Ave regina caelorum / Mater innocencie, one of the first Italian motets and an Ars Nova benchmark. Taken together, the first words of every other line of the text in Ave regina caelorum

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make up the prayer “Ave Maria gratia plena,” while the first letters of each line in Mater innocencie form Marchetto’s own name (Marcum Paduanum). Musicologist Eleonora Beck believes that the piece was composed for the consecration of the Scrovegni Chapel on March 25, 1305, but even if it was not, Giotto might still have met Marchetto either in Padua or at the Angevin court in Naples. Marchetto’s revolutionary approach to composition and to musical notation and music theory is on a par with Giotto’s revolution in the visual arts.

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Mariae Tempelgang / The Presentation of Mary at the Temple (1303–05)

Cappella degli Scrovegni, Padua

Maria, die durch den bereits erwähnten Kuss zwischen Anna und Joachim gezeugt wurde, ist hier im Tempel dargestellt. Die wahr scheinlich ebenfalls aus der Legenda aurea von Jacobus de Voragine stammende Episode zeigt, wie die heranwachsende Maria in Begleitung ihrer Mutter die Stufen hinaufsteigt. Die Menschen im Hintergrund und auf der rechten Seite, die die Szene verfolgen, während sie auf etwas zeigen und sich unterhalten, vermitteln den Eindruck einer alltäglichen Situation.

Johannes Ciconia schrieb seine Motette O felix templum jubila zu Ehren von Stefano da Carrara, der 1402 zum Bischof von Padua gewählt wurde.

Mary, conceived through the kiss between Anna and Joachim that we have seen before, is presented at the temple. The episode, probably also derived from Jacobus de Voragine’s Legenda aurea, shows the adolescent Mary climbing the steps accompanied by her mother. Passers-by in the back and to the right, observing the scene while pointing and chatting among themselves, create an atmosphere of everyday life.

Johannes Ciconia wrote his motet O felix templum jubila in honor of Stefano da Carrara, who was elected Bishop of Padua in 1402.

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Deckenfresko / Ceiling Fresco (1303–05)

Cappella degli Scrovegni, Padua

Die verschiedenen Freskenreihen in der Scrovegni-Kapelle krönte Giotto mit einem erstaunlichen Sternenhimmel (volta stellata) im Gewölbe der Kapelle. Die Ausstrahlung und Intensität des Blaus ist einzigartig und verleiht der gesamten Kapelle Tiefe und ein Gefühl von Unendlichkeit.

Matteo da Perugia ist ein Hauptvertreter des späten Ars-novaStils. Seine Motette Ave sancta mundi salus, die die Erlösung der Welt beschwört, ist von einer ebenso mystischen Atmosphäre durchdrungen, auf die mit Benedicamus Domino eine instrumen tale Diminution eines Cantus planus aus dem Codex Faenza 117 folgt.

Crowning his multiple series of frescoes in the Scrovegni Chapel, Giotto painted the chapel’s vault with an astonishing starry sky (volta stellata). The resonance and intensity of the blue is unique, giving the whole chapel depth and a sense of the infinite.

Matteo da Perugia is a protagonist of the late Ars Nova style. His motet Ave sancta mundi salus, evoking the world’s salvation, is pervaded by an equally mystical atmosphere, followed by Benedicamus Domino, an instrumental diminution of a plainchant found in Codex Faenza 117

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Das Jüngste Gericht / Last Judgment (1303–05) Cappella degli Scrovegni, Padua

Das wohl eindrucksvollste Fresko Giottos in der Scrovegni-Kapelle ist das Jüngste Gericht. Der triumphierende Christus sitzt auf einer Regenbogenwolke in einer irisierenden Mandorla und ist zweifellos der Dreh- und Angelpunkt der ganzen Szene, sein Blick und seine rechte Hand den Auserwählten, die in den Himmel kommen, zugewandt und den Verworfenen zu seiner Linken abgewandt. Heerscharen von Engeln dominieren den oberen Teil des Freskos, und um die Mandorla herum preisen Seraphen singend und spielend die Herrlichkeit Christi.

Ein würdiges musikalisches Pendant zu diesem Meisterwerk sind das Sanctus und Benedictus aus Guillaume de Machauts Missa de Notre Dame, einem der charakteristischsten, kraftvollsten und glanzvollsten Stücke der Ars-nova-Zeit.

Possibly the most impressive of Giotto’s frescoes in the Scrovegni Chapel is the Last Judgement. Christ triumphant is seated on a rainbow cloud inside an iridescent mandorla and clearly is the fulcrum of the whole scene, turning his gaze and right hand toward the elect who will go to heaven and away from the reprobates on his left. Hosts of angels dominate the upper part of the fresco, and around the mandorla seraphs sing and play the praise of Christ’s glory.

A worthy musical companion piece for this masterwork are the Sanctus and Benedictus from Guillaume de Machaut’s Missa de Notre Dame, one of the most representative, powerful, and glorious pieces of the Ars Nova period.

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Giottos Grablegung Mariae, die in der Gemäldegalerie in Berlin zu sehen ist, ist das erste Kunstwerk in unserem Programm, das kein Fresko, sondern ein Gemälde in Eitempera und Blattgold auf Holz ist. Die Form dieses Retabels deutet darauf hin, dass es zusammen mit der bekannten Ognissanti-Madonna, die wir an anderer Stelle im Programm noch sehen werden, ursprünglich einen Seitenaltar in der Chiesa di Ognissanti in Florenz schmückte. Die verstorbene Jungfrau Maria liegt inmitten von Engeln und Aposteln, während Christus im Zentrum steht und die „animula“ hält, die als Kind dargestellte Seele Marias. Der Ausdruck von Schmerz und Trauer auf den Gesichtern der Beteiligten ist ebenso bemerkenswert und raffiniert wie bei den früheren Fresken in Assisi und Padua. Die Flügel der Engel treten in leuchtenden Farben hervor, und alle Figuren sind als in irgendeiner Weise aktiv dargestellt: Sie sprechen miteinander, blasen in ein Weihrauchgefäß, blicken Maria aufmerk sam an; die Apostel beten, singen und lesen – alles zu Ehren Marias. Ave stella matutina ist eine der frühesten italienischen Sequenzen des in Mensuralnotation verfassten Canto misurato, der im Gegensatz zur älteren modalen Notation eine größere Vielfalt an rhythmischen Variationen zuließ. Es ist eine schlichte, aber reizvolle und schön gestaltete Melodie, die in einem zweistimmigen hieratischen Amen endet. Dieses poetische Loblied auf Maria, den Morgenstern, stammt aus dem Sieneser Kloster der Servi di Maria, einem zu Giottos Zeit Ende des 13. und Anfang des 14. Jahrhunderts sehr bekannten Bettelorden.

Giotto’s Dormition of the Virgin Mary, on view at the Gemäldegalerie in Berlin, is the first artwork on our program that is not a fresco, but a painting in egg tempera and gold leaf on wood. The shape of this retable suggests that it originally adorned a side altar in the Chiesa di Ognissanti in Florence, together with the well-known Ognissanti Madonna, which we will see later in the program. The deceased Virgin Mary lies surrounded by angels and apostles, while Christ stands at the center, holding the “animula,” Mary’s soul, represented as a child. The expression of pain and sorrow on the faces of the participants is as striking and elegant as in the earlier

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Die Grablegung Mariae / Dormition of the Virgin Mary (ca. 1310) Gemäldegalerie, Berlin

frescoes from Assisi and Padua. The wings of the angels stand out in resonant colors, and all figures are depicted in some form of activity: they speak to each other, blow into a censer, look intensely towards Mary; the apostles pray, sing, and read—everything in honor of Mary.

Ave stella matutina is one of the earliest Italian sequences in canto misurato, written in mensural notation, which in comparison to the older modal notation allowed for a greater variety of rhyth mical variation. It is a simple, yet charming and beautifully designed melody ending in a two-part hieratic Amen. This poetic praise of Mary, the morning star, originated in the Sienese convent of the Servi di Maria, a mendicant order well known in late 13th and early 14th century, when Giotto was active.

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Giotto malte verschiedene Kreuzigungen; diese aus der Zeit um 1290 in der Kirche Santa Maria Novella ist eine seiner frühesten Arbeiten. Das Werk ist für die Kunstgeschichte von grundlegender Bedeutung, weil es die Ikonografie des Christus patiens, des leidenden Christus, erneuert und intensiviert. Im Vergleich zu seinen Vorgängern stellt Giotto Jesus am Kreuz in einer sehr viel natürlicheren Pose dar, gebeugt und von seinem eigenen Gewicht nach unten gezogen, während die grünliche Färbung des Leichnams den realistischen Ein druck verstärkt.

Die Kreuzigung ist eines der kontemplativsten Motive der bildenden Kunst, und das Credo, der Moment der Reflexion über Kreuzigung und Auferstehung in der Liturgie, ist das natürliche musikalische Gegenstück dazu. Das Credo „Deus Deorum“ von Antonio Zacara da Teramo ist nach seiner Ballata Deus Deorum Pluto benannt, in der der abruzzische Komponist den Gott des Geldes und seinen höllischen Hofstaat beschreibt (und dabei Pluto mit Plutus verwechselt). Auf dieser Ballata baut Zacara ein monumentales Credo auf, in dem er die mythologische Welt des „Gottes der Götter“ mit der christlichen Liturgie verschmilzt. Wie wir bereits gesehen haben, ist diese Verschmelzung von weltlicher und sakraler Ebene in der Musik der Ars nova ebenso geläufig wie in Giottos naturalistischem Ansatz in der Malerei. Zacaras „musikalischer Realismus“ kommt auch in der engen Beziehung zwischen Text und Musik zum Ausdruck. Insbesondere in diesem Credo achtet er sorgfältig auf eine anschauliche Textgestaltung: „Descendit de caelis“ erklingt als wunderbar komplexe, vom Himmel herabsteigende dreistimmige Katabasis, „Et resurrexit“ ist voller Freude, und „Et in spiritum“ wirkt erhaben und ätherisch. Den Höhepunkt des Werks bildet „Et in unam sanctam catholicam [...] ecclesiam“, wobei der höchste Ton des Stücks auf „unam“ gesungen wird, um während des bis 1417 andauernden Abendländischen Schismas mit rivalisieren den Päpsten in Rom und Avignon die Einheit der Kirche zu betonen.

Kruzifix / Crucifixion (ca.
1290)
Basilica di Santa Maria Novella, Florenz
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Giotto painted several crucifixions; this one in Santa Maria Novella from around 1290 is one of his earliest works. It is a fundamental piece in the history of art, as it renews and intensifies the iconography of Christus patiens, suffering Christ. In contrast to his predecessors, Giotto depicts Jesus on the cross in a far more naturalistic pose, bent and pulled down by his own weight, while the greenish color of the corpse adds another level of realism.

The crucifixion is the most meditative subject for visual art, and the Credo, the liturgical moment of reflection on the crucifixion and resurrection, is its natural musical counterpart. The Credo “Deus Deorum” by Antonio Zacara da Teramo owes its name to his own ballata Deus Deorum Pluto, in which the Abruzzese com poser describes the god of money (confusing Pluto with Plutus) and his infernal court. On this ballata, Zacara builds a monumental Credo, merging the mythological world of the “God of Gods” with Christian liturgy. We have already seen that this merging of secular and sacred dimensions is common in Ars Nova music as it is in Giotto’s naturalistic approach to painting. Zacara’s “musical realism” is also expressed in a close relation between text and music. Particularly in this Credo, he displays meticulous attention to wordpainting: “Descendit de caelis” is a splendidly complex catabasis in all three voices running down from heaven; “Et resurrexit” is full of joy; and “Et in spiritum” is high and ethereal. The climax of the work comes at “Et in unam sanctam catholicam [...] ecclesiam,” with the highest note of the piece sung on “unam,” emphasizing the unity of the church that had been divided between rivaling popes in Rome and Avignon since 1378.

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Ognissanti-Madonna / Ognissanti Madonna (1304) Galleria degli Uffizi, Florenz

Die Ognissanti-Madonna ist ein Altarbild in Tempera und Gold auf Holz, das Giotto vermutlich in Florenz malte, nachdem er von seinem Aufenthalt in Assisi zurückgekehrt war. Sie ist eines seiner berühm testen Werke und zählt zu den eindrucksvollsten Beispielen für seine Innovationen: der scharfe, den Eindruck von Dreidimensionalität und Plastizität vermittelnde Kontrast zwischen Licht und Schatten, die Verfeinerung der Farben sowie der moderne, räumliche Charakter des in intuitiver, aber überzeugender Perspektive gemalten Throns. Diese Huldigung an Maria als Mutter Gottes findet sich in dem schönsten Stück aus dem Llibre Vermell de Montserrat wieder, einer berühmten katalanischen Handschriftensammlung mit Andachtstexten, die unter anderem einige Lieder aus dem 14. Jahr hundert enthält. Mariam matrem virginem (Jungfrau und Mutter Maria) ist ein beseeltes Virelai, das kraftvoll an die Mutterschaft Marias erinnert. Ihm stellen wir ein Ave maris stella aus dem Codex Faenza 117 voran.

The Ognissanti Madonna is an altarpiece in tempera and gold on wood, probably painted by Giotto when he returned to Florence after his stay in Assisi. It is one of his most famous works, and one of the most striking testimonies of his innovations: the sharp contrast between shadow and light creating a sense of three-dimensional volume and plasticity, the refinement of the colors and the modern spatiality of the throne painted in intuitive but effective perspective.

This celebration of Mary as a mother is mirrored in the most beautiful piece from the Llibre Vermell de Montserrat, a famous Catalan manuscript collection of devotional texts containing, among others, some 14th-century songs. Mariam matrem virginem (Mary Virgin and Mother) is an inspired virelai that powerfully evokes Mary’s motherhood. We preface it with an Ave maris stella from the Codex Faenza 117.

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Das Bild des heiligen Laurentius ist ein spätes und einzigartiges Werk des Florentiner Meisters. Dieses Gemälde in Tempera und Gold auf Holz, das vermutlich einst zu einem Polyptychon mit dem Evangelisten Johannes und einer Madonna mit Kind gehörte, zeigt einen halbfigurigen heiligen Laurentius in einem weiten, mit Goldstickereien verzierten roten Gewand. Der Heilige hält die Märtyrerpalme in der Hand, und sein Gesichtsausdruck zeugt von seinem Stolz und der Gewissheit über seine Entscheidung.

Matteo da Perugia schrieb Laurea martirii / Conlaudanda est, eine der meisterhaftesten Motetten der späten Ars nova, als Lobgesang auf das Martyrium des heiligen Laurentius und den Triumph über seine Mörder.

Saint Lawrence is a late and singular work of the Florentine master. Probably once part of a polyptych with St. John the Evangelist and a Madonna with child, this painting in tempera and gold on wood depicts Saint Lawrence in half-figure, wearing a heavily draped red robe decorated with gold embroidery. The saint holds the palm of martyrdom in his hand, and his facial expression testifies to the pride and certainty of his choice.

Matteo da Perugia wrote Laurea martirii / Conlaudanda est, one of the finest motets of the late Ars Nova, to celebrate Saint Lawrence’s martyrdom and triumph over his assassins.

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Der heilige Laurentius / Saint Lawrence (1325–30) Musée Jaquemart-André, Chaalis

Der heilige Laurentius erscheint zusammen mit den Heiligen Franziskus, Klara von Assisi, Petrus, Paulus, Johannes dem Täufer und anderen auch auf diesem herrlichen und berühmten Polyptychon, einem sehr späten Werk von Giotto und seiner Werkstatt. Es handelt sich um ein Altarbild von beachtlicher Größe mit fünf Teilen. Die Krönung der Jungfrau bildet das Zentrum, während zwei Tafeln auf jeder Seite mit sehr detailliert und abwechslungs reich dargestellten Heiligen und musizierenden Engeln ausgefüllt sind. In jedem Feld der Predella befindet sich ein Sechseck mit Büsten von Heiligen und Jesus in der Mitte. Insgesamt entsteht der Eindruck eines majestätischen Werks, das nach Musik verlangt, um die Herrlichkeit Marias zu besingen.

Unsere musikalische Übersetzung dieses Gemäldes ist ein Gloria von Matteo da Perugia, bei dem die Beziehung zwischen Text und Musik einen Punkt erreicht hat, der einige der „realistischen“ Techniken in der Seconda prattica des späten 16. Jahrhunderts vor wegnimmt. Der Text ist so auf die beiden Stimmen verteilt, dass Überschneidungen verschiedener Wörter fast vollständig vermieden werden, und mit einem außerordentlichen Gespür für Rhetorik vertont, was sich in den schönen und kraftvollen Synkopen, die zu dem Wort „peccata“ (Sünden) hinführen, ebenso zeigt wie in dem Cantus, der seinen Höhepunkt auf „altissimus“ (der Höchste) erreicht, und in der kraftvollen Kadenz mit der Appoggiatur auf „magnam gloriam“ (großer Herrlichkeit). Matteos sorgfältig aus komponiertes „Rubato“ über den Verlauf des Stücks ist ein echter Höhepunkt der späten Ars nova.

Saint Lawrence, together with the saints Francis, Clare of Assisi, Peter, Paul, John the Baptist, and others, also appears in this glorious and celebrated polyptych, a very late work of Giotto and his work shop. It is an altarpiece of considerable size with five compartments. The coronation of the virgin occupies the center, while two panels on each side are filled with saints and musicking angels, depicted in great detail and variation. Each compartment of the predella contains a hexagon with busts of saints and Jesus in the center. The overall

Baroncelli-Polyptychon / Baroncelli Polyptych (1334) Basilica di Santa Croce, Florenz
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impression is that of a majestic work that requires music to sing the glory of Mary.

Our musical translation of this painting is a Gloria by Matteo da Perugia, in which the relation between text and music has reached a point that foreshadows some of the “realistic” techniques of the seconda prattica in the late 16th century. The text is disposed between the two voices in a way that avoids overlapping of different words almost entirely, and it is set with an extraordinary sensibility for rhetoric, evident in the beautiful and powerful syncopations leading to the word “peccata” (sins), the cantus reaching its climax on “altissimus” (the highest), and the powerful cadenza with appoggiatura on “magnam gloriam” (great glory). Matteo’s carefully written-out “rubato” throughout the piece really is a highpoint of the late Ars Nova.

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Die Kreuzigung Christi / Crucifixion (1320) Gemäldegalerie, Berlin

Die Kreuzigung Christi in der Berliner Gemäldegalerie ist unser letztes Beispiel für den Spätstil Giottos. In der Mitte erhebt sich das Kreuz im ätherischen Glanz des goldenen Hintergrunds. Doch Christus ist abgemagerter als je zuvor, fast körperlos – weit entfernt von dem naturalistischen Körper auf der Kreuzigung in der Florentiner Kirche Santa Maria Novella, der sich unter dem Gewicht des Toten krümmt. Klagende Engel umgeben Christus, während die rot gekleidete Maria Magdalena sich verzweifelt an das Kreuz klammert. Ein kleines Mädchen blickt Maria mit schmerzerfülltem Blick an. Wie bei der Kreuzigung von Santa Maria Novella haben wir auch hier ein Credo von Antonio Zacara da Teramo gewählt. Doch ist die Kreuzigung in diesem Stück vollkommen anders dar gestellt: Sie ist stark dissonant, während das „Passus et sepultus est“ fast bis zur Stille verklingt, bevor sich die glorreiche Auferstehung ankündigt.

The Crucifixion in Berlin’s Gemäldegalerie is our final example of Giotto’s late style. The cross rises at the center in the ethereal splendor of the golden background. But Christ is more haggard than ever, almost insubstantial—very far from the naturalistic body bent by the weight of a dead man in the Crucifixion at Florence’s Santa Maria Novella. Sorrowful angels surround Christ, while Mary Magdalene, dressed in red, desperately embraces the cross. A little girl looks at Mary with a painful gaze.

As for the Santa Maria Novella Crucifixion, we chose a Credo by Antonio Zacara da Teramo here. But the rendition of the cru cifixion in this piece is very different from the earlier one: it is set in stark dissonance, while “Passus et sepultus est” almost fades to si lence before the glorious resurrection.

Michele Pasotti

Übersetzung aus dem Englischen: Sylvia Zirden

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