AUSTRALIAN CHAMBER ORCHESTRA & RICHARD TOGNETTI
Freitag 21. Oktober 2022 19.30 Uhr
Richard Tognetti Violine und musikalische Leitung
Béla Bartók (1881–1945)
Divertimento für Streichorchester Sz 113 (1939)
I. Allegro non troppo
II. Molto adagio
III. Allegro assai
Carlo Gesualdo (1566–1613)
Asciugate i begli occhi Madrigal für fünf Stimmen Bearbeitung für Streichorchester von Richard Tognetti
Brett Dean (*1961)
Carlo Musik für Streicher und Sampler (1997)
Pause
Wojciech Kilar (1932–2013)
Orawa für Streichorchester (1986) Pjotr Tschaikowsky (1840–1893)
Serenade für Streichorchester C-Dur op. 48 (1880)
I. Andante non troppo - Allegro moderato - Andante non troppo
II. Walzer. Moderato. Tempo di Valse
III. Élégie. Larghetto elegiaco
IV. Finale (Tema russo). Andante - Allegro con spirito
AUSTRALIAN CHAMBER ORCHESTRA, RICHARD TOGNETTI & WILLIAM BARTON
Samstag 22. Oktober 2022 19.00 Uhr
Richard Tognetti Violine und musikalische Leitung William Barton Gesang, Didgeridoo, Gitarre
William Barton (*1981)
Didge Fusion für Stimme, Didgeridoo, akustische Gitarre und Streicher (2012)
Thomas Adès (*1971)
Shanty – Over the Sea für Streichorchester (2020)
Ruth Crawford Seeger (1901–1953) Andante for Strings (1931)
Leoš Janáček (1854–1928)
Streichquartett Nr. 1 „Die Kreutzersonate“ (1923)
Bearbeitung für Streichorchester von Richard Tognetti
I. Adagio – Con moto
II. Con moto
III. Con moto – Vivace – Andante
IV. Con moto – Adagio – Più mosso
Pause
George Walker (1922–2018)
Lyric for Strings (1946/1990)
Ludwig van Beethoven (1770–1827)
Sonate für Violine und Klavier A-Dur op. 47 „Kreutzersonate“ (1802/03)
Bearbeitung für Streichorchester von Richard Tognetti
I. Adagio sostenuto – Presto
II. Andante von Variazioni
III. Finale. Presto
Auf Entdeckungsreise
Nach Aussage seines künstlerischen Leiters Richard Tognetti wurde das Australian Chamber Orchestra im Jahr 1975 „aus dem Schoß der Academy of St Martin in the Fields geboren“. „Meine eigenen Vorstellungen und meine musikalische Position lagen jedoch im Grenzbereich zur Avantgarde“, erklärt der Violinist, der das Ensemble seit 1989 leitet. Das entsprach der revolutionären Geistes haltung im Bereich der Alten Musik in diesen bewegten Zeiten. „Es waren radikale Jahre“, erinnert er sich. „Und ich hatte einen radikalen Ansatz. Es ging nicht nur darum, die alten Meisterwerke von ihrer Patina zu befreien. Das waren ganz neue Klänge.“
Unter Tognettis Leitung entwickelte sich das Australian Cham ber Orchestra (ACO) zu einem facettenreichen, dynamischen Ensemble, das sich einer pauschalen Kategorisierung entzieht. Dass es sich seine Abenteuerlust bis heute bewahrt hat, zeigen die Pro gramme der beiden Konzerte im Pierre Boulez Saal sehr deutlich. Was genau aber zeichnet das ACO aus? Von Anfang an ließ Tognetti das Orchester im Stehen spielen, was zu dieser Zeit noch etwas völlig Neues war. Er führte verschiedene Stimmungen innerhalb eines Konzerts ein (etwa 415 oder 433 Hz in der ersten Hälfte, 440 in der zweiten) und ermutigte die Musiker:innen, „zu recherchieren, Fragen zu stellen und sokratisch-dialektisch zu dis kutieren“. Es fanden auch Kooperationen mit Künstler:innen aus der Pop- und Indie-Musik wie Jonny Greenwood von Radiohead oder Bryce Dessner von The National statt. Die Produktion einzig artiger Konzertfilme, die mehr als nur eine filmische Wiedergabe der Aufführung sein wollen (und auf der Website des Orchesters verfügbar sind), ist ebenfalls ein Markenzeichen des Ensembles.
Vor allem aber fällt das ACO durch seine ungewöhnliche, durch dachte Programmgestaltung heraus. Die Bearbeitungen, die Tognetti für die Musiker:innen auf Grundlage existierender Quellen erstellte, haben für ein außergewöhnlich breites Repertoire gesorgt. Um seine Situation in den Anfangsjahren des Ensembles zu beschreiben, zitiert Tognetti gerne Haydns berühmte Bemerkung, er habe „original werden“ müssen. Damit spielte der österreichi sche Komponist darauf an, wie sehr ihn die Abgeschiedenheit auf Schloss Esterházy beflügelte, wo er sich jahrzehntelang „von der Welt abgesondert“ für seinen Gönner und Arbeitgeber plagte. Bei Tognetti war es die frustrierende Dürftigkeit des Repertoires für Streichorchester, die den kreativen Ansporn für seine Bearbeitun gen von Streichquartetten und anderen Werken gab, die zu einem Erkennungszeichen für die innovative Ausrichtung des ACO ge worden sind.
Programm I Freitag, 21. Oktober
Béla Bartóks Divertimento ist fester Bestandteil des Reper toires für Streichorchester. Mit diesem Komponisten fühlt sich Richard Tognetti persönlich verbunden, da er in jungen Jahren bei William Primrose studierte, dem Auftraggeber für das Bratschen konzert, das Bartók vor seinem Tod im Jahr 1945 nicht mehr voll enden konnte. Das Divertimento wurde während eines Aufenthalts in den Schweizer Alpen im Sommer 1939 – wenige Wochen vor Ausbruch des Weltkriegs – innerhalb kürzester Zeit niederge schrieben. Die Außensätze verbinden neoklassizistische Elemente aus dem barocken Concerto grosso mit kraftvoller rhythmischer Energie und kernigem Modalismus. Das dazwischen erklingende Adagio steht für sich: „sotto voce“-Stellen wechseln sich mit schrillen Ausrufen ab, der Satz atmet den düsteren, surrealen Charakter der Bartók’schen „Nachtmusik“.
Neben neuen Bearbeitungen hat das ACO sein Repertoire natürlich auch durch Auftragskompositionen erweitert. Die in diesem Konzert erklingenden Werke von Carlo Gesualdo und Brett Dean stehen beispielhaft für diese beiden Aspekte in der Arbeit des Ensembles. Gesualdo ist für seine erstaunlich unortho doxe harmonische Sprache bekannt, die der Spätrenaissance um Jahrhunderte voraus war, allerdings ebenso für den brutalen Mord
an seiner ersten Frau und ihrem Liebhaber. Asciugate i begli occhi („Trockne diese schönen Augen“), ein fünfstimmiges Madrigal aus Gesualdos Fünftem Madrigalbuch von 1611, ist hier in Tognettis Bearbeitung zu hören.
Gesualdo beging sein ruchloses Verbrechen in Neapel am Abend des 26. Oktober 1590. Brett Dean bezieht sich am Ende seiner Komposition Carlo, die das ACO 1997 in Auftrag gab und die Tognetti als „merkwürdig filmisch“ beschreibt, auf dieses Ereignis. Dean, ein enger Freund Tognettis, ist ebenfalls Australier. Nach 14-jähriger Tätigkeit als Bratscher bei den Berliner Philharmonikern wandte er sich dem Komponieren zu; in diesem Stück stellt er un bequeme Fragen über das Verhältnis zwischen der Schaffenskraft eines Künstlers und seinem verwerflichen persönlichen Verhalten. Sollte man beides völlig auseinanderhalten? Ist das überhaupt möglich?
„Bis heute zeigen Historiker eine gewisse Unentschlossenheit, wenn es um die wahren Verdienste Gesualdos als Komponist geht“, bemerkt Dean. „Es scheint kaum möglich, die Eigenheiten seiner Kompositionen, die harmonisch ebenso extrem wie überraschend sind und eine komplexe Struktur aufweisen, von der Niedertracht des Mörders Gesualdo zu trennen […]. Was Gesualdo angeht, so glaube ich, sollte man nicht versuchen, seine Musik von seinem Leben und seiner Zeit abgelöst zu betrachten. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Die Texte seiner späteren Madrigale, von denen man annimmt, dass Gesualdo sie selber geschrieben hat, quellen förmlich über vor Anspielungen auf Liebe, Tod, Schuld und Selbstmitleid. Bedenkt man noch dazu, dass Gesualdos Vokal musik für mich seit je zu den größten und faszinierendsten Musik erlebnissen überhaupt gehört, dann hat man den Ausgangspunkt für mein Stück.“
Mit seiner Besetzung aus 15 Streichern, Tonband und Sampler stellt Carlo die „Avantgardemethode“ des präparierten Tonbands (das als Verweis auf die ferne Vergangenheit Gesualdos Madrigal Moro, lasso sampelt) ironisch dem traditionellen akustischen Klang der Streicher gegenüber, um Deans Betrachtungen zur Gegenwart zu verdeutlichen. „Nach und nach“, erklärt der Komponist, „be teiligt sich das Orchester an diesem Prozess, indem es zunächst die aufgenommenen Zitate aus Moro, lasso durch andere GesualdoMotive ersetzt und uns schließlich in Klangbereiche führt, die sich eher nach 20. Jahrhundert anhören. […] Auf der Reise durch diese beiden Zeitzonen werden Gesualdos Madrigale schließlich immer mehr reduziert, bis die Texte bloß noch geflüstert werden und
nur mehr nervöse Atemgeräusche erklingen. Diese gewinnen an dramatischer Intensität und werden schließlich zu einer Art orches tralem Echo jener verhängnisvollen Nacht…“
Moderne und zeitgenössische polnische Komponisten in teressieren Tognetti besonders – eines seiner ACO-Programme, Indies and Idols, geht der Frage nach, wie sich Jonny Greenwood und Bryce Dessner von der Musik Karol Szymanowskis, Witold Lutosławskis und Krzysztof Pendereckis inspirieren lassen. Der in der heutigen Ukraine geborene Pole Wojciech Kilar wirkte als produktiver Komponist von Filmmusiken (mehr als 140) und wirk te mit Regisseuren wie Francis Ford Coppola (Dracula), Roman Polanski (The Pianist) und Andrzej Wajda zusammen.
Kilar war von der traditionellen Volksmusik, wie sie in den Ausläufern des Tatragebirges (an der Grenze zwischen Südpolen und der Slowakei) existiert, fasziniert. Das 1986 komponierte Werk Orawa, dessen Titel auf eine historische Bezeichnung für diese Region zurückgeht, ist zu Kilars Visitenkarte in den Konzertsälen geworden. Adrian Thomas, Experte für polnische Musik, bezeich net das Stück als „lebendige und prägnante Neudeutung einer traditionellen Hochland-Streicherkapelle“. Tognetti schätzt es als „äußerst aufregende“ Variante des Minimalismus.
Das erste Konzert des ACO im Pierre Boulez Saal schließt mit einem Klassiker des Streichorchesterrepertoires. Tschaikowsky beschrieb seine 1880 entstandene Serenade als ein Stück, das „von Herzen“ komme, „aus innerem Antrieb“ geschrieben worden und irgendwo „zwischen Symphonie und Streichquartett“ ange siedelt sei. Tatsächlich entspricht die Struktur der eines erweiterten Streichquintetts. Das Stück umfasst vier Sätze und wird – mit den Worten des Tschaikowsky-Biographen Roland John Wiley – durch ein „engmaschiges motivisches Netzwerk“ zusammengehalten, das von der choralartigen Musik der langsamen Einleitung abgeleitet ist.
Auf den ersten Satz, eine Hommage an Tschaikowskys Vorbild Mozart, folgen ein schwungvoller Walzer und im emotionalen Zentrum des Werks eine anrührende Elegie. Besonders bemerkens wert ist Tschaikowskys Fähigkeit, die aus seinen Orchesterwerken geläufige klangliche Vielfalt nachzuempfinden, selbst wenn er seine
Mittel bewusst auf eine einzige Instrumentenfamilie beschränkt. Auch im „Tema russo“-Finale (dem ebenfalls eine langsame Ein leitung vorangestellt ist) imitiert er russische Volksinstrumente. Indem er tatsächliche Volksweisen aufgreift, vermittelt Tschaikowsky eine „westlich-russische Annäherung“, wie Wiley es nennt, die letztlich das Russische „favorisiert“.
Programm II Samstag, 22. Oktober
Mit seiner komplexen Dramaturgie, die auch unterreprä sentierte Stimmen berücksichtigt, reflektiert das zweite Konzert programm des ACO andere Möglichkeiten der Annäherung. Tognetti und seine Mitstreiter:innen verweisen zunächst auf die große Entfernung zwischen Australien und dem Westen – nicht nur geographisch, sondern auch kulturell. „Es ist schwierig, die Geschichte der australischen Ureinwohner, die mindestens 60 000 Jahre zurückreicht, genau zu datieren“, erklärt Tognetti.
William Barton würdigt mit Didge Fusion die musikalischen Traditionen seiner Vorfahren, der Aborigines, aus unvordenklichen Zeiten. Der 1981 in Mount Isa im Nordwesten von Queensland geborene Musiker hat sich als einer der international führenden Interpreten des Didgeridoo profiliert, des charakteristischen Instru ments der Aborigine-Kultur, das man an seiner Mischung aus brummenden und perkussiven Klängen sofort erkennt. Barton zu folge verbindet Didge Fusion „verschiedene musikalische Einflüsse und die unendlichen klanglichen Möglichkeiten des Didgeridoo […] und schafft einen Raum, in dem sich Künstler und Publikum auf einer gemeinsamen Grundlage begegnen können. Es gibt keine Grenzen, und die Bühne wird zur Projektionsfläche für musikalische Erkundungen und das Erzählen von Geschichten, für kulturelle Identität, Tradition und Sprache.“
Barton schrieb Didge Fusion, „um die Weitergabe der Kultur von einer Generation an die nächste zu würdigen. In meiner Jugend in Mount Isa wurde mir dieses Geschenk bei nächtlichen Lagerfeuern zuteil, wo wir unseren Ältesten zusahen, ihnen zuhörten und von ihnen lernten, sodass wir selber zu Hütern und Bewahrern von Wissen wurden. Durch dieses Stück teile ich dieses Wissen mit meinen Kollegen vom ACO auf der Bühne.“
Thomas Adès’ Shanty – Over the Sea ist ein vom ACO in Auftrag gegebenes Werk aus jüngster Zeit (2020), das in ähnlicher Weise den Bezug zu etwas Zeitlosem herstellt. „Es passt klanglich besonders gut zu Willie Bartons Werk und Ruth Crawford Seegers Andante“, erklärt Tognetti. Der Komponist selbst erläutert: „Ein Shanty ist ein Lied mit zahlreichen Strophen, das von einer Gruppe von Seeleuten bei der Arbeit gesungen wird. Die Melodie wird mehrfach wiederholt, jedoch nie genau gleich, sie hat einen starken rhythmischen Puls, ist aber nicht zwangsläufig im wörtlichen Sinne einheitlich. […] In diesem Shanty lassen 15 einzelne Stim men manchmal vereint, manchmal divergierend eine ausgedehnte Meereslandschaft entstehen. Die zyklischen Strophen eines Shanty erzählen von der harten, mühseligen Arbeit unter der Aufsicht des kleinlichen und engstirnigen Kapitäns und steigern sich zum Wunsch nach Meuterei. Wie in einem Spiritual schwingt auch hier die Sehnsucht nach Befreiung vom falschen Willkürregime der Kapitäne und der Traum von einem fernen sicheren Hafen mit.“
Ruth Crawford Seeger komponierte ihr außergewöhnliches Streichquartett im Jahr 1931, als sie mit einem Guggenheim-Stipen dium (dem ersten, das an eine Frau vergeben wurde) in Berlin leb te. Vor allem der langsame dritte Satz zog die Aufmerksamkeit des amerikanischen Ausnahmekünstlers Henry Cowell auf sich, der ein überzeugter Fürsprecher des Werks wurde und es als „das vielleicht Beste, was in diesem Land je für Quartett geschrieben wurde“ be zeichnete. Später bearbeitete die Komponistin diesen Satz als eigen ständiges Stück für Streichorchester, das Andante for Strings
Die Komposition beruht auf dem verblüffend originellen Prinzip, die Veränderungen in der Lautstärke für jedes Instrument so zu staffeln, dass eine Stimme stärker wird, während eine andere schwächer wird. Das Ergebnis nannte Crawford „eine Art Kontra punkt von Crescendi und Diminuendi“ oder „eine Studie in dissonanter Dynamik“. Das Andante baut sich in eindringlichen clusterartigen Klangwellen langsam auf, um auf dem Höhepunkt abzubrechen. Die eng miteinander verwobenen Stimmen verselb ständigen sich wieder, während die Musik schließlich zur Ruhe kommt.
Die drei letzten Werke dieses Programms sind durch eine Art Nebenhandlung miteinander verknüpft, die in Beethovens Opus 47 von 1802/03 gipfelt, der neunten und umfangreichsten seiner zehn Sonaten für Violine und Klavier. Tognettis Bearbeitung für Streichorchester ist im Grunde ein für den kürzlich verstorbenen israelischen Musiker Ivry Gitlis entstandenes Violinkonzert, zu dem er sich von Beethovens eigener Charakterisierung des Werks („wie ein Konzert“) inspirieren ließ.
Hinter dem Beinamen „Kreutzersonate“ verbirgt sich eine komplexe Geschichte, in der es um die historische Auslöschung einer Person geht, die durch Rassismus noch verschärft wird. Der Geiger George Bridgetower, ein Virtuose afro-karibischer und deutsch-polnischer Abstammung, inspirierte Beethoven zu seiner A-Dur-Sonate und spielte sie bei der Uraufführung mit dem Kom ponisten am Klavier. Beethoven widmete ihm die Komposition und versah die Partitur mit der Bemerkung „mulattische Sonate, komponiert für den Mulatten Bridgetower, großer Narr und mulattischer Komponist“.
Tognetti beschreibt die Beziehung der beiden als „Männer freundschaft“, die auseinanderging, als der Geiger sich in grober Weise über eine Frau äußerte, „die Beethovens ‚Unsterbliche Geliebte‘ gewesen sein könnte“. In einem Wutanfall brach der Komponist den Kontakt zu Bridgetower ab und veröffentlichte die Partitur mit einer neuen Widmung an den französischen Geiger Rodolphe Kreutzer (dem das Stück nicht gefiel und der es nie ge spielt hat). In ihrer 2008 erschienenen Sammlung Sonata Mulattica versuchte die mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Lyrikerin Rita Dove das historische Unrecht wiedergutzumachen, das die Unterschlagung der Verbindung zwischen Bridgetowers Namen und einem der zentralen Werke des Kanons bedeutete.
Der vor einigen Jahren verstorbene George Walker, der 1996 als erster Schwarzer Komponist den Pulitzer-Preis für Musik erhielt, war auch ein ausgezeichneter Pianist – doch aufgrund des ver breiteten tiefsitzenden Rassismus blieb ihm die Möglichkeit einer Karriere als Solist verwehrt. Tognetti schätzt Walkers frühe Kom position Lyric for Strings aus dem Jahr 1946 als „außerordentliches, wunderbar ausgearbeitetes Stück“. Lyric entstand als langsamer Satz eines Streichquartetts, als dessen Teil es der Erinnerung an Walkers Großmutter gewidmet war.
Ginge es nach Tognetti, wäre Beethovens Opus 47 als „Bridge tower-“ und nicht als „Kreutzersonate“ bekannt. Doch dieser
Name hat sich durchgesetzt und wurde von Leo Tolstoi 1889 als Titel für seine Novelle über den an Gesualdos Tat erinnernden Mord durch einen eifersüchtigen Ehemann verwendet. Diese wiederum inspirierte Leoš Janáčeks Streichquartett Nr. 1 aus dem Jahr 1923. Tognetti bezeichnet das Werk des tschechischen Komponisten als „eine Art Hip-Hop-Tirade gegen Tolstoi. Er hat diese bösartige, widerliche, sexistische Novelle wirklich gehasst.“ Gegenüber Kamila Stösslová – der jungen, verheirateten Frau, in die er verliebt war – erklärte Janáček, er sympathisiere mit der Haltung der Ehefrau in Tolstois Geschichte und denke dabei an „eine arme, gequälte, geschlagene, zu Tode geprügelte Frau“. Das „Kreutzersonaten“-Quartett setzt sich auch musikalisch radikal über Konventionen hinweg, indem es die Leidenschaften und die Figuren aus Tolstois Erzählung in Klangbilder verwandelt, die miteinander verschmelzen und so über bloße programmatische Anspielung hinausgehen.
Übersetzung aus dem Englischen: Sylvia Zirden
Thomas May ist Autor, Kritiker, Dozent und Übersetzer. Seine Texte erscheinen in der New York Times, in Gramophone und vielen anderen Publikationen. Er ist ver antwortlicher Redakteur für die englischsprachigen Veröffentlichungen des Lucerne Festival und schreibt außerdem Programmeinführungen für das Ojai Festival in Kalifornien.
Journeys of Discovery
According to artistic director Richard Tognetti, the Australian Chamber Orchestra (ACO) was “born out of the loins of the Academy of St Martin in the Fields” when it was founded in 1975. “But my own viewpoints and musical attitudes were very much in the new frontier of avant-gardism,” says the violinist, who has led the ensemble since 1989. This was in keeping with the mindset of the Early Music revolution in those heady years. “These were radical days,” he recalls. “What I brought was a radical approach. It wasn’t just a matter of cleaning the patina off these old masterworks. These were new sounds.”
Tognetti helped shape the Australian Chamber Orchestra’s iden tity as a multifaceted, dynamic ensemble that resists reductive cate gorization. And its musicians maintained that adventurous outlook ever since—an outlook amply on display in the back-to-back pro grams they have chosen to perform during their Pierre Boulez Saal residency.
What sets the ACO apart? From the beginning of his leader ship, Tognetti got the orchestra to perform standing, which was still a novelty at the time. He introduced hybrid tunings during a single concert (say, 415 or 433 Hz in the first half, 440 in the second), encouraging the players “to research and question and use Socratean, dialectical argument.” Collaborations with musicians from pop and indie music, such as Radiohead’s Jonny Greenwood or Bryce Dessner from The National, were likewise embraced. Another distinctive activity is the creation of bespoke concert films (available on the orchestra’s website) that aspire to more than a filmed tran scription of performance.
The ACO especially stands out for provocative, thoughtfully curated programming. The arrangements Tognetti has crafted for the players from preexisting sources have opened the door to a re markable span of repertoire. Describing the situation he faced in their early years, he likes to quote Haydn’s famous remark about being “forced to become original.” The Austrian composer was referring to the stimulation that resulted from being “cut off from the world” at Esterházy Castle, the remote outpost where he spent decades toiling for his patron. In Tognetti’s case, it was the frustrating paucity of repertoire for string orchestra that provided the creative impetus for his arrangements of string quartets and other works that have become a signature of ACO’s innovative temperament.
Program I Friday, October 21
Béla Bartók’s Divertimento is a staple of the repertoire that does exist for string orchestra. Richard Tognetti refers to a personal connection he feels with the composer from having studied in his early years with William Primrose, who commissioned the Viola Concerto that Bartók was unable to complete before his death in 1945. The Divertimento was written at a rapid pace in the summer of 1939 during a retreat in the Swiss Alps—mere weeks before the onset of world war. The outer movements marry neoclassical devices drawn from the Baroque concerto grosso with bracing rhythmic energy and earthy modalism. The central Adagio stands apart: sotto voce voicing alternates with stabbing outcries, summon ing the darker, surreal world of Bartók’s “night music.”
Beyond new arrangements, another way the ACO has expand ed its repertoire is of course through commissioning. The selections by Carlo Gesualdo and Brett Dean exemplify both aspects of the ensemble’s practice side by side. Gesualdo is known for an astonish ingly unorthodox harmonic language that sounds centuries ahead of the late Renaissance, but also for his brutal murder of his first wife and her lover. Asciugate i begli occhi (“Dry Those Beautiful Eyes”), a five-part madrigal from Gesualdo’s Fifth Book of Madrigals, pub lished in 1611, is heard here in Tognetti’s arrangement.
Gesualdo committed his nefarious crime in Naples on the night of October 26, 1590. Dean alludes to this moment at the end of Carlo, which the ACO commissioned in 1997—a piece Tognetti
describes as possessing something “strangely cinematic.” A fellow Australian and close friend who turned to composing after a 14year tenure as violist with the Berliner Philharmoniker, Dean raises uncomfortable questions about the relation between an artist’s creativity and despicable personal behavior. Should they be entirely divorced—is that even possible?
“Historians to the present day still seem undecided as to the true merits of Gesualdo the composer,” Dean observes, “unable to separate the characteristics of his compositions, with their harmonic extremities and surprises and their textural complexities, from the infamy of Gesualdo the murderer…. I believe that with Carlo Gesualdo one shouldn’t try to separate his music from his life and times. They are intrinsically interrelated. The texts of his later madrigals, thought to be written by Gesualdo himself, abound with references to love, death, guilt, and self-pity. Combine this with the fact that I’ve always found Gesualdo’s vocal works in any case to be one of music’s great and most fascinating listening experiences and you have the premise of my piece.”
Scored for 15 strings, pre-recorded tape, and sampler, Carlo iron ically juxtaposes the “avant-garde” mode of prepared tape (sampling Gesualdo’s madrigal Moro, lasso to reference the distant past) with the traditionally acoustic sonority of the strings to filter Dean’s present-day reflections. “Gradually,” the composer explains, “the orchestra becomes involved … at first displacing the taped quotes … with other Gesualdo motives and eventually leading us to altogether more 20th-century realms of sound. Throughout this journey between these two different time zones, Gesualdo’s madrigals are eventually reduced to mere whisperings of his texts and nervous breathing sounds. These eventually also grow in dramatic intensity into what may be seen as an orchestral echo of that fateful night …”
Modernist and contemporary Polish composers are of special interest for Tognetti—one of his curated ACO programs, Indies and Idols, explores the ways in which Jonny Greenwood and Bryce Dessner find inspiration in the music of Karol Szymanowski, Witold Lutosławski, and Krzysztof Penderecki. Wojciech Kilar, a Polish
composer born in modern-day Ukraine, was a prolific creator of film scores (more than 140) who worked with such directors as Francis Ford Coppola (Dracula), Roman Polanski (The Pianist), and Andrzej Wajda.
Kilar became fascinated by the folk music traditions associated with the foothills of the Tatra Mountains (at the border of southern Poland and Slovakia). Orawa, composed in 1986, takes its title from a traditional name for this area and has become Kilar’s calling card in the concert hall. The Polish music authority Adrian Thomas calls the work “a lively and succinct reimagining of a traditional highland string band.” Tognetti admires it as a “hyper-exciting” variant of Minimalism.
The ACO’s first Pierre Boulez Saal program closes with one of the pillars of the string orchestra repertoire. Tchaikovsky described his 1880 Serenade for Strings as “a piece from the heart” written “from inner compulsion” and occupying a space somewhere “between a symphony and a string quartet.” The texture is actually that of a magnified string quintet. Cast in four movements, the piece is unified by what biographer Roland John Wiley refers to as a “closely knit motivic network” derived from the chorale-like music heard in the slow introduction.
The first movement pays homage to Tchaikovsky’s idol Mozart and is followed by a lilting waltz and, at the emotional center of the work, a touching Elégie. Especially striking is Tchaikovsky’s ability to mimic the timbral variety familiar from his orchestral writing even when deliberately limiting his palette to a single instrumental family. He mimics Russian folk instruments, too, in the Tema russo finale (also preceded by a slow introduction). Drawing on actual folk tunes, Tchaikovsky effects what Wiley calls a “Western/ Russian rapprochement” that ultimately “favors” the Russian.
Program II Saturday, October 22
In its intricate dramaturgy involving underrepresented voices, the second program of the ACO’s residency reflects other kinds of rapprochement. Tognetti and his colleagues begin by acknowledg ing Australia’s vast distance from the West—not only geographically, but culturally. “It’s hard to date the history of the Australian First Nations people, who go back at least 60,000 years,” he says.
William Barton honors the immemorial musical traditions of his Aboriginal ancestors in Didge Fusion. Born in 1981 in Mount Isa in northwest Queensland, he has established himself as one of the world’s leading exponents of the didgeridoo, the signature instru ment of Aboriginal culture instantly recognizable from its blend of drone and percussive sonorities. According to Barton, Didge Fusion brings together “diverse musical influences and the endless sonic capabilities of the didgeridoo … creat[ing] a space where artists and audience can meet on common ground. There are no boundaries and the stage becomes a canvas for musical exploration, storytelling, cultural identity, legacy, and language.”
Barton wrote Didge Fusion “as a tribute to the passing of culture from one generation to the next. Growing up in Mount Isa, this gift was given to me around campfires at night, where we would watch, listen, and learn from our Elders, becoming custodians and carers of knowledge. Through this song, I share this knowledge with my ACO colleagues on stage.”
Thomas Adès’s Shanty – Over the Sea is a recent work (2020) co-commissioned by the ACO that similarly evokes a connection to something timeless. “It goes especially well sonically with Willie Barton’s piece and Ruth Crawford Seeger’s Andante,” says Tognetti. According to the composer: “A shanty is a song in many verses sung by a group of sailors at work. The melody is sung many times, never the same, with a strong rhythmic pulse but not necessarily literal unanimity … In this shanty, 15 individual voices, sometimes together and sometimes divergent, create a widening seascape. In a shanty, the cyclical verses build a story of the harsh, mechanical routine of the petty captain’s rule, and accumulate a longing for mutiny. As in a Slave Spiritual, there is an implied yearning for liberation, freedom from the false, arbitrary regime of the petty masters, and a dream of a safe harbor beyond.”
Ruth Crawford Seeger composed her extraordinary String Quartet in 1931 while living in Berlin on a Guggenheim Fellow ship (the first awarded to a woman). Its slow third movement in par ticular attracted the attention of fellow American maverick Henry Cowell, who became a staunch champion and called it “perhaps
the best thing for quartet ever written in this country.” She later arranged this movement as an independent piece for string orchestra, Andante for Strings.
The music is built on the strikingly original principle of arrang ing changes in volume to be staggered across each instrument, so that while one line is getting louder another softens. The result is what Crawford called “a sort of counterpoint of crescendi and diminuendi” or “a study in dissonant dynamics.” The Andante slow ly builds in keening, tone-clustery waves of sound, breaking at the climax and individuating the tightly knit lines as the music subsides back into the depths.
A sort of subplot ties this program’s final three works together, culminating with Beethoven’s Opus 47 from 1802–3, the ninth and most epic of his ten sonatas for violin and piano. Tognetti’s arrange ment for string orchestra is in effect a violin concerto he fashioned for the late Israeli violinist Ivry Gitlis, inspired by Beethoven’s own description of the work as “like a concerto.”
Buried beneath the nickname “Kreutzer” Sonata is a complex story involving historical erasure exacerbated by racism. The violinist George Bridgetower, a virtuoso of mixed Afro-Caribbean and German-Polish descent, inspired Beethoven to write the A-major Sonata and gave the premiere, with the composer at the keyboard. Beethoven afterward dedicated the score to him, writing “mulatto sonata composed for the mulatto Bridgetower, great lunatic and mulatto composer.”
Tognetti describes their relationship as “a bromance” that went sour when the violinist crudely referred to a woman “who may have been Beethoven’s Immortal Beloved.” In a fit of rage, the composer broke off ties with Bridgetower and published the score with a new dedication to the French violinist Rodolphe Kreutzer (who was not a fan and never even played the piece). In her 2008 collection Sonata Mulattica, the Pulitzer Prize–winning poet Rita Dove tried to rectify the historical injustice that has erased Bridgetower’s name from its association with one of the central works in the canon.
The late George Walker, who became the first Black composer to receive the Pulitzer Prize in Music in 1996, was also a formidable pianist—but entrenched racism denied him the opportunities
essential to sustaining a career as a solo performer. Tognetti treasures Lyric for Strings, an early composition from 1946, as “an exquisite, beautifully crafted piece.” Lyric originated as the slow movement of a string quartet, where it honored the memory of Walker’s recently deceased grandmother.
If Tognetti had his way, Beethoven’s Opus 47 would be known as the “Bridgetower,” not the “Kreutzer” Sonata. But the latter name is what stuck and what Leo Tolstoy used to title his 1889 novella about a Gesualdo-like murder by a jealous husband—which in turn inspired Leoš Janáček’s String Quartet No. 1 of 1923. Tognetti describes the Czech composer’s work as “a kind of hip-hop diatribe against Tolstoy. He really detested this pernicious, nasty, sexist novella.”
To Kamila Stösslová—the young, married woman with whom he was in love—Janáček explained that he sympathized with the wife’s point of view in Tolstoy’s narrative, having in mind “a poor woman, tormented, beaten, battered to death …” The “Kreutzer Sonata” Quartet radically defies convention musically as well, trans forming the passions and characters of Tolstoy’s story into sonic images that mingle and transcend mere programmatic evocation.
Thomas May is a writer, critic, educator, and translator whose work appears in The New York Times, Gramophone, and many other publications. The English-language editor for the Lucerne Festival, he also writes program notes for the Ojai Festival in California.