JACK Quartet: Catherine Lamb

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JACK Quartet

Einführungstext von / Program Note by Paul Griffiths

JACK QUARTET

Sonntag 23. April 2023 18.00 Uhr

Christopher Otto Violine

Austin Wulliman Violine

John Pickford Richards Viola

Jay Campbell Violoncello

Catherine Lamb (*1982)

divisio spiralis für Streichquartett (2019)

Deutsche Erstaufführung

Keine Pause

Teil des Unendlichen

In ihrem Einführungstext zu divisio spiralis, das sie 2019 für das JACK Quartet komponierte, greift Catherine Lamb auf eine frühe Erinnerung zurück. „Seit meiner Kindheit“, schreibt sie, „habe ich eine Art synästhetische Wahrnehmung von Zahlen. Sie äußerst sich allerdings nicht in Licht- und Farbphänomenen, sondern vielmehr in Formen, Figuren und Strukturen. Als ich mit dem Zählen anfing, stellte ich mir einen langen Faden vor, der sich nach oben zog, und wenn ich nach oben blickte, sah ich, wie diese Linie irgendwann eine Kurve beschrieb, bis sie sich schließlich in eine unendliche Spirale verwandelte, mit meinem Fuß auf der Zahl Eins.“

Wir haben es also ganz offensichtlich mit einer Künstlerin und Visionärin zu tun, die gleichzeitig mit beiden Beinen fest auf dem Boden steht, wie ihre eigene Beschreibung ihres kompositorischen Schaffens vielleicht schon vermuten lässt: „sacred realism“, eine Art heiliger Realismus also. Durch Reales – Zahlen, Zahlenverhältnisse sowie Frequenzen und Intervalle, die diesen Verhältnissen eine konkrete Form verleihen – wird eine Transzendenz hergestellt, eine unendlich weit nach oben reichende klare Linie, die ohne Dogmen oder Metaphysisches auskommt.

In der westlichen Musik, wie sie heute gespielt wird, sind die Schwingungszahlen, also die Tonhöhen, meist nach der gleich-

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schwebenden Zwölftonstimmung organisiert – das ergibt die 88 gleich großen Halbtöne eines herkömmlichen Klaviers. Ein Großteil der Musik kommt kaum über die 50 mittleren Töne dieser Spanne hinaus. Doch die Tonstufen können auch sehr viel kleiner sein als Halbtonschritte, unendlich klein, und verschiedene Stimmungen können eine wilde Palette ebenso seltsamer wie wundersamer Intervalle beinhalten, jenseits der domestizierten Parameter, mit denen wir vertraut sind. Wie die meisten Musiker:innen, die sich mit diesem weitgehend unberührten Gebiet befassen, bedient sich Lamb der reinen Stimmung, deren Grundlage einfache Schwingungsverhältnisse sind, ohne die Anpassungen, wie sie die gleichschwebende Temperierung erfordert: im Fall der Quinte etwa das Verhältnis 3:2, während die Quinte der gleichschwebenden Stimmung etwas kleiner sein muss. Die Anzahl solcher Verhältnisse ist natürlich unbegrenzt, doch der Unterschied zwischen einer reinen Quinte im Verhältnis 3:2 und einer Quinte im Verhältnis 80:53 beispielsweise ist zu gering, als dass das Ohr ihn wahrnehmen und Musizierende ihn abschätzen könnten. Lamb bewegt sich im Bereich des praktisch Anwendbaren, auch wenn sie Intervalle an der Grenze der auditiven Unterscheidungsfähigkeit, die etwa bei einem Achtelton liegt, mit einbezieht.

divisio spiralis basiert auf einem extrem tiefen, imaginierten Grundton mit einer Frequenz von 10 Hertz (das entspricht etwa einem Es), der weit unterhalb des Tonumfangs des Cellos liegt. Darauf baut Lamb in der Folge ein System auf, in dem jeder Ton ein Oberton dieser Grundfrequenz ist. Auf den Grundton und seine ersten vier Obertöne verzichtet sie, weil sie zu tief sind, und beginnt stattdessen mit dem B, auf das die C-Saite des Cellos umgestimmt ist, und arbeitet sich dann über fünf Oktaven nach oben. (Alle 16 Saiten des Ensembles sind anders gestimmt als üblich.) Der daraus resultierende harmonische Raum entsteht für sie durch „sich wiederholende und interagierende Zahlen [...]. Indem ich die vier Streichinstrumente als unabhängige Resonanzkammern in diesem Raum platziere, habe ich dieses Bild als Inspiration für das gesamte Stück genutzt.“

Die Komposition bewegt sich natürlich innerhalb der Zeit durch diesen spiralförmigen harmonischen Raum, daher sind auch Fragen der Form zu klären. Lamb fragt sich, wo ein formales Element –zum Beispiel eine Melodie – erkennbar wird und wieder endet und an welcher Stelle sich die Zuhörer:innen verirren und verlieren könnten. „Wo“, so überlegt sie weiter, „liegt der unscharfe Bereich

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zwischen der melodischen Vorwärtsbewegung und dem eindeutig damit interagierenden expandierenden harmonischen Raum?“ In ihrer Partitur unterscheidet sie je nach Funktion drei Arten von Tönen: aktive Töne, aus denen sich eine lineare, melodische Bewegung ergibt; aktiv-passive Töne, die stärker den harmonischen Raum erforschen, und passive Töne, die sich auf andere Töne im Stück beziehen. Um ein Beispiel vom Beginn des Werks zu nennen: Die erste Violine hebt an mit einem aktiven, mittelhohen B, bewegt sich etwa einen Viertelton nach unten und kehrt dann zum gleichen B zurück, das nun passiv ist, während die Bratsche, die auf demselben Ton begonnen hat, die gleiche Bewegung nach unten und zurück vollzieht. Die Melodien und Harmonien des gesamten ersten Abschnitts bleiben innerhalb eines schmalen Spektrums von Tonhöhen und bewegen sich, in traditioneller Terminologie gesprochen, nie weiter als eine Terz unter den Ausgangspunkt oder als eine leicht vergrößerte große Sekunde darüber – sie bleiben also innerhalb einer Quarte.

Das Werk besteht aus 13 Abschnitten, langen Atemzügen, in denen der Tonraum zunächst ganz allmählich erweitert wird. Die Oktave ist im vierten Abschnitt erreicht, und am Ende des fünften beträgt der Tonumfang schließlich eine Duodezime. Nach dem sechsten Abschnitt, der in einem ähnlichen Tonumfang erklingt, verengt sich der siebte Abschnitt plötzlich, und es beginnt eine Abwärtsbewegung. Diese verläuft jedoch nicht vollkommen geradlinig, denn während tiefere Töne eingeführt werden, erwecken sie gelegentlich höhere Bezugstöne wieder zum Leben und weiten den Tonumfang auf die Doppeloktave und darüber hinaus aus. Im elften Abschnitt sind alle Töne um das eingestrichene C herum angesiedelt, zumindest bis sich die erste Geige – und anschließend die zweite Geige in etwas geringerem Maße – weit nach oben wagt. In der Folge sind die oberen Register aus dem Spiel, es sei denn, ein leichter Bogenstrich – der im Verlauf des Stücks gelegentlich verwendet wird – erzeugt höhere Obertöne.

Innerhalb jedes Abschnitts gibt es Bereiche, in denen die Schwingungsverhältnisse einfacher sind – Bereiche der Harmonizität, die der Konsonanz früherer Zeiten ähneln (auch wenn man vielleicht das Gefühl hat, diese Musik sei noch älter). Jeder Abschnitt gipfelt in einem solchen Bereich, der so elementar sein kann wie eine offene Quinte (im zweiten Abschnitt). Die Inharmonizität mit ihren komplexen Tonverhältnissen motiviert dazu, sich durch Sondierung der Harmonien und Beschleunigung der Melodien von

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einer Harmonizität zur nächsten zu bewegen. Das Tempo wird von den Ausführenden bestimmt, doch die Musik verlangt eine stetige, aber dennoch bewegliche Konzentration über eine Gesamtdauer von weit mehr als einer Stunde hinweg.

„Töne“, um noch einmal Lambs Einleitung zu zitieren, „sind ungezwungen/entspannt, haben pulsierende Kerne und sind dennoch aufeinander abgestimmt, um ihre Wechselwirkungen und ihre gemeinsamen Formen zu bestimmen. Melodische Phrasen sollen den harmonischen Raum und die Ränder der Formen hervorheben/ entfalten, die oftmals in den Gesamtklang eingebettet sind. Die Expressivität beruht auf der klaren und reinen Entfaltung der harmonischen Färbungen.“

Die Mitglieder des JACK Quartets befassen sich bereits seit etlichen Jahren mit Lambs Musik. „Die radikal bewusstseinserweiternden Herausforderungen von Catherines Streichquartetten bringen mir Freude und Befriedigung“, schreibt der Geiger Christopher Otto, der als Komponist selbst in ähnlichen Sphären arbeitet. „Sich klangliche Verbindungen vorzustellen und sie zu gestalten, führt zur Integration von Zahlen und Klängen und eröffnet einen Weg zur vollkommenen Einheit. Indem sie Ohren und Geist für eine unendliche Vielfalt von Mustern öffnen, dringen diese Resonanzen tief in unser Inneres ein. Jede Auswahl von Tönen definiert einen einzigartigen Satz periodischer Muster und offenbart nach und nach ihre jeweilige Qualität. Die kleinsten Intervalle werden zu Rhythmen und bewirken subtile, aber weitreichende Veränderungen im Charakter.“

Zweifellos stellt dividio spiralis Künstler:innen und Publikum vor ganz besondere Herausforderungen. „Als Musiker und Zuhörer“, schreibt Otto weiter, „versuche ich, die musikalischen Muster zu verdeutlichen, indem ich gezielt erwünschte harmonische Zusammenhänge verstärke und nicht gewünschte Schwebungen reduziere; indem ich zusätzliche Töne (Differenztöne, Obertöne) hervortreten lasse und dabei die Eigenarten des vom Menschen erzeugten Klangs berücksichtige. Mir ist bewusst, dass die Idee der perfekten Intonation, die unerwünschte Schwebungen auf Null reduziert, nur in der Vorstellung existieren kann, und ich genieße die Beziehung zwischen der akustischen Wirklichkeit und dem transzendenten Raum, auf den sie verweist.“

Das JACK Quartet spielte das Stück 2021 ein, doch die Beschäftigung des Ensembles mit dieser Musik geht weiter, wie Otto betont. „Die Aufnahme war nicht der Abschluss, sondern Teil eines fort-

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laufenden Prozesses – einer kontinuierlichen Entwicklung, in der abstrakte Beziehungen konkret werden und künstliche Trennungen zwischen Melodie, Harmonie und Klangfarbe, zwischen Körper, Geist und Seele verschwinden.“

Übersetzung: Sylvia Zirden

Paul Griffiths schreibt seit mehr als 50 Jahren über Musik. Darüber hinaus verfasst er auch Romane, zuletzt Mr. Beethoven (2020) und The Tomb Guardians (2021).

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Part of the Infinite

In her own program note on divisio spiralis, which she composed for the JACK Quartet in 2019, Catherine Lamb goes back to an early memory. “Since I was a child,” she writes, “I have possessed a kind of synesthesia with regard to numbers. Rather than phenomena of light and color, this has generally involved forms, shapes, and structures. When I first began to count, I imagined a long thread extending upwards and, when looking up, at some point I began to see a curve forming in the line until eventually the line transformed into an infinite spiral, with my foot planted at the number one.”

Here is an artist-visionary, then, with her feet decisively on the ground, as is perhaps implied by the term she applies to her work as a composer: “sacred realism.” By way of the real—numbers, ratios, and the frequencies and intervals the ratios embody—a transcendence is achieved, a line reaching infinitely upwards, traveling clean, without dogma or metaphysics.

In most Western music, as performed today, matters of frequency, of pitch, are organized according to twelve-note equal temperament, which gives us the 88 notes of a standard piano. A great deal of that music barely outsteps the 50 in the middle of this span. But divisions can be much finer than by the semitone, infinitesimally fine, and tuning can take into account a whole jungle of wild and

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wonderful intervals, beyond the tamed preserve of those with which we are familiar. Like most musicians exploring this largely untouched territory, Lamb goes by way of just intonation, whose basis is simple frequency ratios, rather than the adjustments that equal temperament requires: 3:2 for the fifth, for example, where the equal-tempered fifth has to be a tiny bit smaller. Of course, there is no limit to the number of such ratios, but the difference between a pure 3:2 fifth and one whose ratio is, say, 80:53 is too small for the ear to perceive and therefore for the musician to gauge. Lamb stays this side of practicality, though she does embrace intervals close to the limits of aural discrimination, around an eighth-tone.

In divisio spiralis, she starts out by imagining an ultra-low fundamental tone with a frequency of 10 Hertz (which is roughly equivalent to a tempered E flat), way below the range of the cello. She then builds a system in which every note is a harmonic of this, leaving aside the notionary fundamental and its first four harmonics as too low, to begin with the B flat to which the cello’s C string is tuned, and extending upwards through five octaves. (All 16 of the ensemble’s strings are tuned differently from the norm.) The resulting harmonic space she sees as “numbers in repetition and interaction, generating/blooming outwards … Situating the four string instruments inside that space as distinct resonating chambers, I utilized this image as an inspiration for the total piece.”

The composition must, of course, inhabit and investigate this spiraling harmonic space through time, and so questions of form have to be addressed. Lamb asks herself where the entry and exit points might be in the recognition of some formal element—a melody, for instance—and where the listener might become lost, and succumb to being lost. “Where,” she asks further, “lies the blurred zone between melodic movement in a forward direction and clearly interacting/expanding harmonic space?” In her score she distinguishes three kinds of tone by function: those that are active, implying linear, melodic movement onward; those that are active/passive, exploring more the harmonic space; and those that are passive, relating to others in play. To give an example from the very beginning of the work, the first violin starts with a mediumhigh B flat that is active, the line slipping down roughly a quartertone and returning to the same B flat, now passive as the viola, which had entered on the same note, executes the same downward dip and return. Melodies and harmonies throughout the whole first

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section keep within a narrow band, never venturing, in traditional nomenclature, more than a third below the starting point or a slightly widened major second above—held, therefore, within a fourth.

The work consists of 13 sections—long breaths—that at first very gradually widen the space. The octave is reached in the fourth such section, and the fifth section achieves a span of a twelfth at its close. After a sixth section ringing through similar spans, the seventh makes a sudden narrowing and begins a process of descent. This is not completely straightforward, though, for as lower tones are introduced, they may spark life back into higher relatives, widening the span to the double octave and more. In the eleventh section everyone is settled into a region around middle C, at least until the first violin ventures way above, followed by the second to a lesser extent. After this the upper registers are out of bounds, except when light bowing—occasionally in use throughout the piece—stimulates higher partials.

Within each section there will be zones where the frequencies are related by simpler ratios—zones, that is, of harmonicity, paralleling the consonance of former times (though we may feel we are in the presence of a music more ancient yet). Each section comes to a culmination in such a zone, which may even be as rudimentary as an open fifth (in the second section). Inharmonicity, with its complex ratios, provides the spur to move from one harmonicity towards another, by way of harmonic exploration and of the melodies proceeding at a faster pace. Tempo is to be judged by the performers, but the music implies steady, if always mobile concentration and a total duration of well over an hour.

“Tones,” to once again quote Lamb’s preface, “are unforced/ relaxed, with vibrant cores, yet balanced together to define their interactions and total shapes. Melodic phrases are to highlight/ unfold the harmonic space and the edges of the shapes, often embedded within the total sound. Expressivity lies in the clear and plain unfolding of the harmonic colorations.”

The members of the JACK Quartet have immersed themselves in Lamb’s music for a number of years now. “The radically mindexpanding challenges of Catherine’s string quartets have given me great joy and satisfaction,” writes violinist Christopher Otto, himself a composer working in similar realms. “Imagining and creating the sonic relations yields an integration of number and sound, offering a pathway toward ultimate oneness. Opening ears and mind to

infinitely rich patterns, these resonances penetrate deeply to the core. Each collection of tones defines a unique set of periodicities and reveals its distinct quality over time. The smallest intervals become rhythms and yield subtle but vast changes in character.”

There is no doubt dividio spiralis poses unique challenges for musicians and audiences alike. “As a performer and listener,” Otto adds, “I try to clarify the music’s patterns, focusing on reinforcing desired harmonic alignments and slowing down undesired beatings, bringing forth additional tones (difference tones, overtones), while accommodating the idiosyncrasies inherent in human-produced sound. Aware that the idea of perfect intonation, slowing down the undesired beating all the way to zero, can exist only in the mind, I enjoy the relation between the acoustic reality and the transcendent space toward which it points.”

The JACK Quartet recorded the piece in 2021, but Otto is quick to point out that the ensemble’s journey with this music goes on. “Making the recording was not an endpoint, but part of a broadening process—a continuous evolution of abstract relationships becoming concrete, erasing artificial divisions between melody, harmony, and timbre, between body, mind, and spirit.”

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Paul Griffiths has been writing on music for more than 50 years. He also writes novels, including most recently Mr. Beethoven (2020) and The Tomb Guardians (2021).
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