MICHAEL BARENBOIM, JÖRG WIDMANN & MICHAEL WENDEBERG
Sonntag 30. April 2023 16.00 Uhr
Pierre Boulez (1925–2016)
Anthèmes 2 für Violine und Live-Elektronik (1997/2008) Libre –
I. Très lent, avec beaucoup de flexibilité –Libre –
II. Rapide, dynamique, très rythmique, rigide –Libre –
III. Lent, régulier – Nerveux, irrégulier –Libre –
IV. Agité, instable – Rythmiquement stable –Libre –
V. Très lent, avec beaucoup de flexibilité – Subitement nerveux et extrêmement irrégulier –Libre –
VI. 1. Allant, assez serré dans le tempo –
2. Calme, régulier – Agité – Brusque –
3. Calme, sans traîner, d’un mouvement très régulier –Libre
Michael Barenboim Violine
Gilbert Nouno Electronic Music Design und Live-Elektronik
Dialogue de l’ombre double für Klarinette und Tonband (1984)
Sigle initial –Strophe I–VI –Sigle final
Jörg Widmann Klarinette
SWR Experimentalstudio Live-elektronische Realisation
Michael Acker Klangregie
Tim Abramczik Klangregie
Pause
Philippe Manoury (*1952)
Das wohlpräparierte Klavier (…troisième sonate…) für Klavier und Live-Elektronik (2020)
Michael Wendeberg Klavier
Gilbert Nouno Electronic Music Design und Live-Elektronik
Philippe Manoury Klangregie
Wechselgesänge
Zu Pierre Boulez’ Anthèmes 2
Im Schaffen von Pierre Boulez findet sich eine Reihe von Werken, die musikalisches Material teilen und in unterschiedlichen, aufeinander aufbauenden Entwicklungsstufen präsentieren. Das gilt auch für Anthèmes. Unter diesem Titel veröffentlichte der Komponist 1991 ein Stück für Violine solo. Vier Jahre später nahm er die Arbeit daran wieder auf, und es entstand Anthèmes 2 für Violine und Live-Elektronik. Der Gedankengang des ursprünglichen Werks wird durch technische Hilfsmittel in eine räumliche Dimension hinein aufgefächert und das natürliche Klangspektrum des Instruments erweitert – die Violine wird so zu einem Meta-Instrument, das Klangveränderungen, harmonische Ausweitungen und die Vervielfältigung der Klänge in Raum und Zeit ermöglicht. Im Aufbau orientiert sich Anthèmes 2 unmittelbar an der ersten Version (der später im Titel die Ziffer 1 hinzugefügt wurde), doch die räumliche Dimension der Gestalten, die höhere Dichte im Inneren, erzeugt auch eine Verlängerung der äußeren Proportionen: Mit etwa 19 Minuten Spieldauer ist Anthemes 2 mehr als doppelt so lang wie sein Vorgänger. Aus dem Monolog ist eine Art Dialog mit sich selbst geworden, ein Gespräch mit dem eigenen (Klang-)Schatten, wie es Boulez schon 1984 in Dialogue de l’ombre double für Klarinette und Tonband entworfen hatte.
Der Titel des Stückes ist ein Wortspiel aus dem englischen „anthem“ (Antiphon) und dem französischen „en thèmes“. Als Antiphone werden in der liturgischen Musik die Kehrverse bestimmter Wechselgesänge bezeichnet. Ihre gliedernde Funktion übernehmen bei Boulez kurze variierte Zwischenspiele, die dadurch deutlich erkennbar sind, dass sie nur aus gehaltenen Flageolettklängen bestehen, denen in den mittleren Refrains noch Glissandi angehängt werden. Der Ausdruck „en thèmes“ (in Themen, auf thematische Weise) verweist auf zweierlei: zum einen auf die Dichte der thematischmotivischen Arbeit, in der durch die Verarbeitung kleiner Zellen die einzelnen Abschnitte geradezu klassisch kohärent erscheinen. Zum anderen sind die Abschnitte selbst durch klare, sozusagen thematische Kontraste einander gegenübergestellt. Durch die Refrains werden insgesamt sechs Abschnitte wie Strophen voneinander getrennt. Sie folgen sowohl dem Prinzip des Kontrasts (am deutlichsten wird dies durch den Wechsel zum pizzicato im zweiten Abschnitt) als auch dem
der Weiterverarbeitung des Vorausgegangenen. Während die ersten fünf Abschnitte von relativ kurzer Dauer sind, hat der letzte annähernd denselben Umfang wie die vorausgegangenen zusammen. Hier treten unterschiedliche Charaktere unmittelbar einander gegenüber, nicht mehr getrennt durch Zwischenspiele – das theatralische Moment, das diese Musik auch besitzt, gewinnt die Oberhand. Den Abschluss bildet ein Epilog in fließend gleichförmiger Bewegung.
Die elektronischen Mittel, die Boulez einsetzt, wirken auf drei Ebenen. Der Klang wird durch vier Harmonizer und zwei Ringmodulatoren mit Filtern harmonisch verbreitert. Zwei Sampler gruppieren die in Echtzeit aufgenommenen Violinklänge um, transformieren sie in andere Farben und entwerfen komplexe Texturen der raum-zeitlichen Vervielfältigung. Die hierbei entstehenden Gebilde folgen Zufallsprozessen, so dass jede Aufführung individuell unterschiedlich ist. Ein System zur Verräumlichung verteilt die entstehenden Klänge über sechs Lautsprecher in einer Weise, bei der für die Hörenden eine größere Zahl von imaginären Raumpunkten entsteht. Besonders spannend sind dabei die Übergänge zwischen Phasen der deutlich wahrnehmbaren Gegenüberstellung des direkten Geigenklangs und seiner Spiegelungen zu jenen Augenblicken, in denen sich das reale Instrument kaum mehr unterscheidbar in den multiplen Gestalten der von ihm ausgelösten Klangschatten verliert – und sich so in ein neuartiges und körperloses Instrument transformiert.
Martin WilkeningDie Gestalt des Schattens
Zu Pierre Boulez’ Dialogue de l’ombre double
In Dialogue de l’ombre double empfinde ich das, was die Boulez’sche Musik ausmacht, was vielleicht die französische Musik überhaupt ausmacht, in verfeinertster Form. Das, was anderswo rein ornamental oder redundant wirken würde, all die Akzidenz-Noten, Vorschlagsfiguren, Trillerfiguren, erscheint mir hier – ich möchte fast sagen geschmeidig. Es besitzt eine ungeheure Leichtigkeit, eine große Meisterschaft. Natürlich steht das Stück nicht im luftleeren Raum. Es hat historische Vorbilder, und es hat auch im Boulez’schen Schaffen ein Vorgängerwerk. Ohne die Drei Stücke für Klarinette solo von Strawinsky wäre es gar nicht denkbar. Zum anderen verweist es zurück auf den Klarinettensolo-Satz aus dem Quatuor pour la fin du temps von Messiaen, „Abîme des oiseaux“, „Der Abgrund der Vögel“. Wenn man sich anschaut, welche Figuren dort im Mittelteil vorherrschen, ist der Weg nicht weit zu dieser Art von Figurationen. Das Dritte, und das wird oft vernachlässigt bei der historischen Einordnung von Boulez, ist seine Faszination für die Musik von Bartók. Die Klarinettenkaskaden, die es im Wunderbaren Mandarin gibt oder am Beginn der Contrasts, findet man hier wieder. Das Vorgängerstück von Boulez selbst ist Domaines für Klarinette solo, das 1968 entstanden ist. Wie so oft bei ihm ist hier das Material schon angelegt. Ohne es zu sehr werten zu wollen, aber für mich hat dieses Stück fast Studiencharakter, kompositorisch und experimentell, im Vergleich zu dem, was in Dialogue dann so organisch und meisterlich verwirklicht ist. Diese beiden Partituren kann man nicht ohne einander denken.
Dialogue de l’ombre double ist – nicht nur als Klarinettist – eines meiner absoluten Lieblingsstücke von Boulez, ich sehe es als eines seiner großen Werke. Es gehört sicherlich zu den schwersten Stücken für Klarinette überhaupt – hypertroph virtuos, bis an die Grenzen des Machbaren. Aber das hat Boulez eben gereizt. Es gibt unter meinen Kollegen nur wenige, die es tatsächlich spielen, auch weil es ein so großer Aufwand ist, es vorzubereiten. Die Tonhöhen sind dabei schon ein Studium für sich, und dazu kommt dann die dynamische Ebene und vor allem, was bei Boulez sehr wichtig ist, die flexiblen Tempi. Schon in der ersten Strophe sieht man es ganz deutlich, denn in fast jedem Takt passiert etwas. „Fluide“, „calme“, „flexible“ – es bleibt nie das gleiche Tempo. Da ist auch der riesige
Unterschied zwischen „ralenti“, also langsamer werdend, und „cédé“, was nur ein minimales Nachgeben im Tempo bedeutet. In der vierten Strophe gibt er dann ein absurd schnelles Tempo vor, doch gleichzeitig schreibt er „Ne pas jouer dans la force“, also gewissermaßen „nicht übertreiben“. Und an den Stellen, wo man ausruhen könnte, kommen dann Trillerfigurationen, also noch schnellere Phrasen. Boulez stellt höchste Anforderungen an die Fingertechnik. Es ist ein extremes Stück, atemberaubend in jeder Hinsicht – ein Mount Everest der Klarinettenliteratur.
Das Echo oder den Dialog des doppelten Schattens, von dem der Titel des Stücks spricht, muss man sich praktisch so vorstellen: Der Klarinettist lernt zwei Stücke. Lange vor der Aufführung gehe ich ins Studio und spiele die Teile ein, die später vom Band kommen. Dann beschäftige ich mich mit dem Live-Stück. In der Aufführung werden beide hintereinander- oder parallelgeschaltet. Es beginnt im Dunkeln – ich bin noch gar nicht im Raum – und das Band startet. Boulez hat eine ganz einfache Lichtregie in die Partitur geschrieben: Immer dann, wenn der Live-Klarinettist spielt, geht das Licht an, wenn die Musik vom Band kommt, geht es aus, und so wechselt es sich ab durch die sechs Strophen. Es findet tatsächlich ein Dialog statt. Das Stück ist relativ klar aufgeteilt zwischen dem Live-Part und dem präfigurierten Band, aber die spannendsten Momente sind die Überlappungen dazwischen. Dort passiert etwas ganz Magisches, weil für das Publikum nicht immer deutlich erkennbar ist, welche der beiden Klarinetten, die fast irreal übereinander liegen, gerade zu hören ist. Das Spiel mit dem Schatten ist also ganz konkret. So hat man das Gefühl, über die 20 oder 25 Minuten, die das Stück dauert, ein Klang-Kontinuum zu hören. Dabei entstehen durch die Live-Elektronik wirklich neue Klangräume, die sich bei aller Kunst und Modulationsfähigkeit des Klarinettentons sonst nie realisieren lassen würden. Ganz am Schluss des Stücks schreibt Boulez ein lang gehaltenes hohes klingendes C im Pianissimo. Dazu kommen vom Band wilde Figurationen, vielleicht noch virtuoser, als wir sie bisher gehört haben. Der live gespielte Ton bleibt gleich, während die Bandschicht in einem Fade-Out-Prozess immer mehr verklingt. Und nun kommt etwas ganz Wesentliches: Vom Band erklingt ein vierfaches Forte – fast trompetenartig, als wenn sieben Trompeten mit Dämpfer im fünffachen Forte spielen. Es ist der gleiche Ton,
auf dem gleichen Instrument, doch allein durch diese extreme Dynamik werden zwei vollkommen unterschiedliche Klangräume aufgerissen. Das ist ein ganz magischer Augenblick. In dem Moment, in dem ich als Hörer das Konstruktionsprinzip des Stücks entschlüsseln könnte – in der Sekunde ist es vorbei. Das ist ein unglaubliches Timing. Dort, wo sich das Ganze entlarven könnte, hört es auf. Es bleibt ein Rätselstück.
Jörg WidmannInterpretation und Interaktion
Zu Philippe Manourys Das wohlpräparierte KlavierEr zählt zu den bekanntesten französischen Komponisten der Gegenwart und zu den Pionieren der Musik mit Live-Elektronik –und hat doch in seinen Kompositionen nicht mit der Musik der Vergangenheit gebrochen. Philippe Manoury studierte zunächst Klavier, dann parallel Komposition und Analyse an der École
Normale de Musique in Paris. 1974 wechselte er ans Conservatoire National Supérieur de Musique – just in dem Jahr, in dem ihm Claude Helffer mit der Uraufführung von Cryptophonos, einer Klavierkomposition, zu erster internationaler Aufmerksamkeit verhalf. Nach Stationen in Brasilien, am IRCAM in Paris, am Conservatoire in Lyon und zuletzt in San Diego lebt und arbeitet Manoury heute in Strasbourg.
Seit den 1980er Jahren ist für seine Werke eine schöpferische Auseinandersetzung mit den stetig erweiterten Möglichkeiten der Live-Elektronik charakteristisch. Ausgehend von seriellen Konzepten (Boulez, Stockhausen) und stochastischen Verfahren (Xenakis) entwickelte Manoury die Idee einer „virtuellen Partitur“, bei der erst durch die Interaktion von Interpret und Elektronik während der Aufführung das Werk immer wieder neu vervollständigt wird. Der Rechner analysiert dabei zunächst das individuelle Spiel (etwa eines Pianisten), gleicht das „errechnete“ Ergebnis mit vorgegebenen Elementen ab und erzeugt dann in Abhängigkeit davon seinerseits Töne und Klänge.
In einem Gespräch mit Patrick Hahn anlässlich der Uraufführung seines Lab.Oratorium (2019) berichtete Philippe Manoury über seine unbefriedigenden Erfahrungen während der Studienzeit, als er begann, sich für elektronische Musik zu interessieren: „Autodidakt, der ich [auf diesem Gebiet] größtenteils war, hatte ich ein Bedürfnis nach theoretischer Begründung und Formalisierung. Ich wollte verstehen, wie Neue Musik gemacht und welche formellen Vorgehensweisen damit verbunden waren. Wenn es keine Intuition gibt, gibt es keine Musik. Das ist eine Sache. Aber die Intuition allein reicht nicht aus. Ich war eine Art Tourist in der Klasse für elektronische Musik, ich wollte verstehen, wie dort komponiert wird, aber die Antworten auf meine Fragen blieben immer vage.“ Die heute von Manoury verfolgte Synthese aus instrumentalem Spiel und einer interagierenden, computergestützten elektronischen Tonerzeugung
ist das Ergebnis dieser Neugier im Spannungsfeld zwischen Komponist und Notat, Interpret und Maschine sowie der klanglichen Realisation.
Herr Manoury, der Titel Ihres Werks – das Daniel Barenboim im September 2021 hier im Pierre Boulez Saal uraufgeführt hat – spielt offenkundig auf Johann Sebastian Bach und das Wohltemperierte Klavier an. Es geht um eine Entsprechung zwischen der Zeit Bachs und der unsrigen: Bach komponierte sein Wohltemperiertes Klavier als Teil einer Kontroverse über die richtige Stimmung. Er zeigte, dass es möglich ist, auf dem Klavier in wirklich jeder Tonart zu spielen. Heute beschäftigen sich vor allem in den USA einige Komponist:innen damit, den ursprünglichen Charakter der Instrumente elektronisch zu verändern: Ein Klavier ist nicht einfach ein Klavier, eine Klarinette nicht einfach eine Klarinette, sondern eine Art Transformationszentrum der Klänge. Das Klavier ist zwar optisch noch vorhanden, doch der Klang kann auch perkussiv sein. Während der acht Jahre, die ich in Kalifornien unterrichtet habe, traf ich viele Komponist:innen, die weiterhin für dieses präparierte Klavier im Sinne von John Cage schrieben – es gab schlichtweg keine Weiterentwicklung. Deshalb sage ich: Wenn wir es ernst meinen und dieser Ästhetik etwas wirklich Ernsthaftes, eher wissenschaftlich Begründetes entgegensetzen und den Klang dabei exakt kontrollieren wollen, müssen wir elektronische Verfahren hinzuziehen. Zu Bachs Zeit wurden die Tonhöhen des Klaviers neu gestimmt oder bestimmt. Nun ist es der Klang. Deshalb habe ich den Titel Das wohlpräparierte Klavier gewählt.
Können Sie die rein technische Seite der Komposition, den akustischen Aufbau im Saal kurz skizzieren?
Unter dem Klavier sind Kontaktmikrofone installiert, die zwei Aufgaben haben: Sie nehmen den Klang auf, der dann vom Computer transformiert wird, sie stellen aber auch die Rohdaten zur Verfügung, mit denen der Computer das Spiel analysiert und damit die elektronischen Klänge modifiziert. Wenn beispielsweise
Daniel Barenboim im hohen oder tiefen Register spielt, wird dies in ein anderes Register transponiert. Doch nicht nur der Ton wird analysiert, auch die Dynamik. An einigen Stellen geschehen Dinge automatisch, hier folgt der Computer dem Klavier – er weiß, wo wir uns in den Noten befinden, z.B. wenn einer Staccato-Note wieder eine Staccato-Note folgt.
Sie haben das zugrundeliegende Computerprogramm selbst geschrieben –oder sollte man sagen „komponiert“?
Hinsichtlich der Daten habe ich das Programm tatsächlich selbst geschrieben, doch das, was wir „patch“ nennen, hat Gilbert Nouno erstellt, der Designer für elektronische Musik ist und mit dem ich schon lange zusammenarbeite. Er hat sozusagen die „Maschine“ gebaut. Mir ging es um bestimmte Arten von Raumklang, von Klangsynthese, von Sampling – er hat all das zusammengestellt. Danach habe ich wiederum die Datei geschrieben, die die Informationen dafür liefert. Ich glaube, Komponist:innen sollten heute über ein gewisses Computerwissen verfügen. Ich kann zwar selbst programmieren, bin aber bei der Umsetzung auf Kollegen wie Gilbert Nouno angewiesen, die mich in meinen Intentionen unterstützen.
Wie würden Sie diese Form der Arbeitsteilung beschreiben?
In gewisser Weise lässt es sich mit Kino vergleichen: Jemand ist zuständig für die Bildfolge, jemand anderes für die Beleuchtung oder für den Ton. Ich habe zwar die Komposition für das Klavier und die Elektronik erstellt, brauche aber technische Unterstützung und Leute, die mir auch einmal Neues zeigen, gerade im Bereich der Medientechnologie.
Diese Zusammenarbeit inspiriert Sie dann auch bei der Komposition?
Ja, beispielsweise im ersten Teil, wenn das Publikum elektronische Klänge hört, bevor Daniel Barenboim zu spielen beginnt. Sehr wichtig ist mir in der Musik die Idee der Attraktion, der Anziehung. In tonaler Musik spielt diese eine wichtige Rolle, etwa vom Leitton in den Grundton: Beim Hören haben wir das Gefühl, dass Klänge in eine bestimmte Richtung gehen wollen. In meiner Musik möchte ich diese Idee der Anziehung wieder einführen, nachdem sie in der seriellen Musik keine Verwendung mehr gefunden hat. Dafür verwende ich zu Beginn des Stücks eine Technik, die eigentlich jeder kennt, nicht aber ihren Namen: das sogenannte „flocking“ [engl. flock: Schwarm, Herde]. Wenn Sie einen Vogelschwarm beobachten, sehen Sie, wie einzelne Vögel sich bewegende Formationen bilden; ein Vogel gibt eine Richtung vor und beeinflusst damit die andern. Dem entspricht ein Computermodell, das dieses „flocking“ im Raum nachbildet. Wenn das Publikum in den Saal kommt, ist es von sich bewegenden Klangschwärmen umgeben. Der Grundgedanke in meiner Musik ist
nun, dass es zwar nur Klänge sind, sie aber miteinander kommunizieren. Sie übermitteln sich gegenseitig Informationen – zum Beispiel sagt der Klang in der Ecke hinten links „Komm zu mir!“ und ein anderer Klang folgt ihm. Die Klänge tauschen Informationen über ihren Ort, ihre Dauer, Klangfarbe, Vibration usw. aus, und manche werden voneinander angezogen. Wichtig ist: die Klänge sprechen miteinander.
Die Spieldauer des gesamten Werkes beträgt eine knappe halbe Stunde. Gibt es nach dem einleitenden „flocking“ deutlich wahrnehmbare Abgrenzungen zwischen den einzelnen Teilen?
Das Stück beginnt mit einer Art Fantasie. Sie klingt wie ein langsamer Marsch und enthält bereits einen Abschnitt, der auf die „Sonate“ vorausweist. Diese Sonate wiederum hat zwei Themen oder Grundideen: das erste nach Art einer Toccata, das zweite mit dem Rhythmus kurz-lang, kurz-lang. Diese Hauptthemen sind während der Exposition vom Computer und auf dem Klavier zu hören. Es folgt ein Übergang, dann eine Art Durchführung, in der beides kombiniert wird, wie bei Beethoven. Die Motive verändern sich im Erscheinungsbild und im Ausdruck; sie sind beim Hören nur schwer auszumachen, bleiben aber gegenwärtig.
Knüpfen Sie damit ganz bewusst an ältere Formmodelle an?
Ja, ich bin beeinflusst von der Tradition, von Bach und Beethoven, und von der Idee der Form. Es ist wichtig, einen geistigen Rahmen zu haben.
Sie kombinieren dies dann mit Abschnitten in offener Form wie vor dem zweiten Interludium oder im Interludium Nr. 3.
Mein Ziel ist, eine Verbindung herzustellen zwischen aktueller Technologie und klassischer zeitgenössischer Komposition. Ich verwende keine Synchronisation, keine konzeptionellen Elemente. Meine Arbeit basiert auf musikalischen Strukturen. Es gibt auch einen Abschnitt, in dem nur das Klavier erklingt und die Elektronik vollständig pausiert. Dort steht dann übrigens „quasi una cadenza“…
Michael KubeLucidity and Precision
Pierre Boulez: Anthèmes 2The protean metamorphic processes at work in much of Pierre Boulez’s music evoke Arnold Schoenberg’s concept of “developing variation”: both are predicated on the idea of continuous transformation in lieu of traditional thematic development. The provenance of Anthèmes 2, which dates to 1997, epitomizes Boulez’s approach to composition as an organic process in which germinal ideas are harvested from other works and allowed to proliferate. The original incarnation of the piece, a short violin solo titled Anthèmes 1 (premiered in 1991, with the numeral added to the title later), was itself derived from Boulez’s … explosante-fixe …. In adapting and expanding the solo as an electro-acoustic work, the composer sought to differentiate its constituent musical elements, or “families,” more clearly. To that end, the violin is equipped with a contact microphone used both for amplification and for real-time sound processing via a computer. A technical manual supplied with the score explains that as the piece advances section by section, it is “progressively re-written to varying degrees in order to take advantage of the new musical possibilities offered by the inclusion of electronics.” Both the amplified and the live-processed sound are projected into the concert hall, creating “a virtual sound space surrounding the audience.” (The score contains detailed instructions for positioning the soloist and the multiple sources of “spatialized,” electronically generated sound.)
Although Anthèmes 2 is notated with Boulez’s customary lucidity and precision, the violinist is frequently instructed to play “freely” or “with a great deal of flexibility.” In the first half of the 20-minutelong piece, the sections are set off by brief transitional passages featuring ghostly harmonics and slow, slithering glissandi; in the second half, the differentiation among various musical families is effected through changes in tempo, character, timbre, articulation, and dynamics. Throughout the work, Boulez strikes a well-judged balance between regular and irregular motion, brusqueness and calm. Anthèmes 2 closes with a short, sharp shock: a dissonant doublestop played, or rather struck, with the wood of the bow, in “a deliberate but not ostentatious gesture.”
—Harry HaskellThe Shape of the Shadow
Pierre Boulez: Dialogue de l’ombre doubleIt seems to me that in Dialogue de l’ombre double the ingredients that characterize Pierre Boulez’s music—possibly characterize French music in general—appear in their most refined form. What would appear purely ornamental or redundant elsewhere, all those accidentals, grace notes, trill figures, here seems—I would almost like to say sinuous. There is an incredible lightness here, a great mastery. Of course the piece does not stand alone or isolated. It has historical models, and it also has a precursor in Boulez’s work. Without Stravinsky’s Three Pieces for Solo Clarinet it would be unthinkable. It also makes reference to the solo clarinet movement from Messiaen’s Quatuor pour la fin du temps, “Abîme des oiseaux,” or “Abyss of the Birds.” If you look at the figures dominating its middle part, it is a small step to this kind of figuration. The third element, which is often neglected in talking about Boulez’s position in history, is his fascination with the music of Bartók. The clarinet cascades that appear in The Miraculous Mandarin or at the beginning of Contrasts are recognizable here. And finally, the precursor in Boulez’s own output is Domaines for solo clarinet, written in 1968. As was so often the case with him, the material is already sketched out there. Without trying to evaluate it, Domaines to me almost has the character of a study, in terms of its composition and experimental quality, compared to the way the material then reappears in such an organic, masterful treatment in Dialogue. It is impossible to consider these two scores independently of each other.
Speaking not only as a clarinetist, Dialogue de l’ombre double is one of my absolutely favorite Boulez pieces, and I consider it one of his great works. It is surely among the most difficult pieces ever written for clarinet—hypertrophic in its virtuosity and approaching the very limits of the feasible. But that is what appealed to Boulez. There are very few among my colleagues who actually perform it, also because it requires so much painstaking preparation. The pitches alone demand intense study, then you have to add the dynamic level and the fluidity of the tempi—which is essential in Boulez’s music. You can see it very clearly even in the first strophe, there’s something happening in almost every measure. “Fluide,” “calme,” “flexible”— the tempo never remains the same. There is also the enormous difference between “ralenti,” which means slowing down, and
“cédé,” which indicates only a minimal reduction in tempo. In the fourth strophe, he prescribes an absurdly fast tempo, but at the same time writes, “Ne pas jouer dans la force,” in other words, “don’t overdo it.” And those spots where you might rest for a bit then have trill figurations, which means even faster phrases. Boulez makes incredibly high demands of the fingering technique. It is an extreme piece, breathtaking in every way—a Mount Everest of clarinet literature.
The echo or dialogue of the double shadow that is expressed in the work’s title can be imagined in quite practical terms: the clarinetist learns two pieces. Long before the performance, I go into a recording studio and record the sections that will be played back during the performance. Then I start working on the live piece. In concert, both will be heard subsequently, or in parallel. The tape begins playing in darkness—even before I have entered the hall. Boulez put down a very simple lighting concept in the score: whenever the live clarinetist plays, the light comes on; when the music is pre-recorded, it goes out; and so it switches back and forth throughout the six strophes. There is an actual dialogue happening. The piece is relatively clearly divided between the live part and the preconfigured recording, but the most fascinating moments are those when the two overlap. That is where the magic happens, because the audience cannot always distinguish clearly which of the two clarinets, which are layered in a way as to appear almost unreal, is heard. The interplay of shadows is quite specific. So the impression is one of hearing a sound continuum that goes on for the 20 or 25 minutes the piece lasts. The live electronics really create new sound spaces that would otherwise be impossible, even given the most artful player and the clarinet’s ability to produce modulated sound. At the very end of the piece, Boulez asks for a sustained sounding high C, played pianissimo. Meanwhile, the tape offers wild figurations, perhaps even more virtuosic than any we have heard so far. The live note remains the same, while the prerecorded layer fades out. And now something essential happens: from the tape, we hear a quadruple forte—sounding almost like a trumpet, as if seven trumpets were playing a five-fold forte with mutes. It is the same note, on the same instrument, but these extreme
dynamics open up two totally different sound spaces. It is quite a magical moment. The second the listener might be able to decode the piece’s constructive principle, it ends. The timing is incredible. At the exact instance where the whole thing might be unmasked, it stops. It really is a mystery piece.
Jörg WidmannFlocks of Birds, Imaginary
Philippe Manoury: Das wohlpräparierte KlavierIt all began here in the Pierre Boulez Saal, at a performance of the eponymous composer’s Répons in November 2017. Daniel Barenboim, who was in the audience, was fascinated by the movement of the computer-transformed sounds of the six solo instruments — which include two pianos—in the unique new hall. He subsequently began to imagine how a solo piano might sound under similar circumstances. In Philippe Manoury he discovered a composer who could help fulfill this dream—hence Das wohlpräparierte Klavier, written in 2020 and premiered in this hall for the opening of its 2021–22 season.
There is, of course, a double allusion in the title: to Bach and to John Cage. Activating that allusion, Manoury decided to create a work in two large wings: “a fantasia rather free in spirit and a rigorous, severe structure.” The pair parallels the Bachian prelude and fugue, but in this case with a sonata in second place, to refer with gentle irony to Cage’s major work for prepared piano, his Sonatas and Interludes. This “well-prepared piano,” to be clear, is made not with nuts and bolts but by electronic means. Also, Manoury’s sonata is far from the Scarlattian model of Cage’s set, being instead “highly developed, in the spirit of Beethoven, interrupted by interludes that are freer in form.”
As for the relationship between the performer and the digital response, the piece draws on Manoury’s three decades of experience in creating what he calls “virtual scores.” One of the earliest of these was his Pluton for piano and electronics, which he composed at IRCAM in 1988–9, and which already showed his desire for flexibility, so that the performer would not be cramped. Here, indeed, that ideal is achieved. Daniel Barenboim plays a work written out in the usual way, and his performance, picked up by contact microphones placed under the piano, is then conveyed to the computer, which analyses the information and responds. What is thus heard on the electronic side, being responsive to the piano in fine detail, will never be quite the same again—but this is true also, as Manoury notes, of a sonata by Beethoven or Schubert.
A work of this kind can reflect on the artificial-intelligence debate of our time. It can also indicate, Manoury suggests, ways in which music can reclaim the predictive element in traditional
tonality. “Our brains are so made,” he observes, “that we develop an irresistible tendency to try to predict the future.” Tonal music plays to this, in, for example, putting forward sequences of harmonies that progress quasi-logically. But a live-electronic piece can do so, too. “For example, hearing a sound slowly rotating and then accelerating while rising in pitch makes us imagine it as a force of attraction for other voices, like a star around which planets orbit by reason of gravitation. These other voices will approach it and try to mirror its motion and sonority. As I see it, sounds are not just acoustic phenomena but objects that send out information and influence each other. They talk to one another, one might say.”
Manoury finds an analogy for this in how birds flock. “A bird is in contact with seven or eight others around it, and if it flies against the flock, it can influence those seven or eight, each of which can influence another seven or eight, and so on, so that the whole flock gradually changes its direction. What is fascinating in this model is that there is no leader. Each individual can at any moment become the provisional leader.” When the audience comes in for this evening’s performance, electronic music will already be in progress, “in various layers [up to four] that influence one another, a bit like the flocking of birds. It is in this context that Daniel Barenboim will sit at his piano and start playing. He will become the ‘leader’ of the electronic music around him.”
Paul Griffiths