Hagen Quartett
Einführungstext von Martin Wilkening
Program Note by Richard Wigmore
HAGEN QUARTETT
Lukas Hagen Violine
Rainer Schmidt Violine
Veronika Hagen Viola
Clemens Hagen Violoncello
Sonntag 4. Juni 2023 18.00 Uhr
Wolfgang Amadeus Mozart (1756–1791)
Streichquartett G-Dur KV 387 (1782)
I. Allegro vivace assai
II. Menuetto. Allegro – Trio
III. Andante cantabile
IV. Molto allegro
Streichquartett d-moll KV 421 (417b) (1783)
I. Allegro moderato
II. Andante
III. Menuetto. Allegretto – Trio
IV. Allegretto ma non troppo – Più allegro
Pause Streichquartett Es-Dur KV 428 (421b) (1783)
I. Allegro non troppo
II. Andante con moto
III. Menuetto. Allegro – Trio
IV. Allegro vivace
Dienstag 6. Juni 2023 19.30 Uhr
Wolfgang Amadeus Mozart
Streichquartett B-Dur KV 458 „Jagd-Quartett“ (1784)
I. Allegro vivace assai
II. Menuetto. Moderato – Trio
III. Adagio
IV. Allegro assai
Streichquartett A-Dur KV 464 (1785)
I. Allegro
II. Menuetto – Trio
III. Andante
IV. Allegro non troppo
Pause
Streichquartett C-Dur KV 465 „Dissonanzen-Quartett“ (1785)
I. Adagio – Allegro
II. Andante cantabile
III. Menuetto. Allegro – Trio
IV. Allegro molto
Mühsame Arbeit und festlicher Glanz
Mozarts „Haydn-Quartette“ Martin WilkeningInsgesamt 23 Streichquartette hat Wolfgang Amadeus Mozart geschrieben – doch nur die letzten zehn, entstanden in den Jahren 1782 bis 1790, können als ambitionierte Kunstwerke im emphatischen Sinn gelten. Zu ihnen gehören die sechs sogenannten „HaydnQuartette“, die Mozart in der Druckausgabe keinem adeligen Gönner, sondern seinem Komponistenkollegen Joseph Haydn gewidmet hat. Diese Widmung ist keine gesellschaftliche Geste, sie kennzeichnet das Opus vielmehr als eine Art „Kunstbuch“ und markiert auch eine innere Referenz für diese Werke, die gleichzeitig weit darüber hinausgehen.
Vorausgegangen waren diesen reifen Quartetten bereits 13 weitere, komponiert auf Reisen in den Jahren 1772/73 in Mailand und Wien, bei denen Leopold Mozart seinen 17-jährigen Sohn der musikalischen Welt vorstellte und die von rastloser Tätigkeit erfüllt waren. Aus Bozen berichtete der Vater an seine Frau in Augsburg: „Der Wolfg: befindet sich wohl; er schreibt eben für die lange Weile ein quatro. Er empfiehlt sich allen.“ Im Gegensatz dazu entstanden die späteren Quartette niemals mit leichter Hand. Das Autograph der „Haydn-Quartette“ zeigt ebenso wie überlieferte Skizzen den teilweise langwierigen Entstehungsprozess. Es finden sich zahlreiche Korrekturen, Ausradierungen und Ergänzungen, auch Verschiebungen von Einfällen an andere Stellen des Formprozesses.
Mozart selbst hat diese für ihn scheinbar ungewöhnliche Komplizierung des Arbeitsprozesses mit einem berühmt gewordenen Ausdruck auf den Begriff gebracht, der „mühsamen“ oder „mühevollen Arbeit“. In seinem im Original italienischen Widmungsblatt der sechs Quartette an Haydn schreibt er, der während der Arbeit an diesen Werken zwischen 1782 und 1785 selbst zweimal Vater geworden war: „Berühmter Mann und mein teuerster Freund, nimm hier meine Kinder! Sie sind wahrhaftig die Frucht einer langen, mühsamen Arbeit, doch ermutigte und tröstete mich die Hoffnung – einige Freunde konnten sie mir geben –, diese Arbeit wenigstens zu einem Teil belohnt zu sehen.“
1781 hatte Mozart das verhasste Salzburg verlassen, war nach Wien gegangen, hatte geheiratet, als Klaviervirtuose und -komponist schnell Aufmerksamkeit erregt und 1782 mit der Entführung aus dem Serail einen großen Publikumserfolg errungen. Alljährliche Umzüge in immer größere Wohnungen spiegelten den gewonnenen Status. Als Leopold Mozart zu Beginn des Jahres 1785 für einige Monate bei seinem Sohn zu Gast war, staunte er nicht schlecht und berichtete nach Salzburg an seine Tochter auch von Wolfgangs geschäftlichen Erfolgen, die – in jener Zeit – die Streichquartettkompositionen mit einschlossen: „Diesen Augenb: erhalte 10 Zeilen von deinem Bruder, wo er schreibt, daß er vergangenen Samstag seine 6 quartetten, die er dem Artaria für 100 duccatten verkauft habe, seinem lieben Freund Haydn und anderen guten freunden habe hören lassen.“ 100 Dukaten – das ist der gleiche Betrag, den Mozart für die Komposition des Figaro oder des Don Giovanni erhielt (er entspricht nach heutigem Wert etwa 13000 Euro). Für einen Stimmensatz der sechs Quartette musste man umgerechnet etwa 180 Euro bezahlen.
In dem zitierten Brief erwähnt der Vater auch die wahrscheinlich erste Aufführung der Quartette, von der wir nicht wissen, ob sie tatsächlich alle sechs Werke umfasste und wer daran beteiligt war. Jedenfalls war Haydn vier Wochen später erneut bei Mozart zu Gast, um diese Musik zu hören, und auch davon berichtet der als Geiger berühmte Leopold, der bei dieser Aufführung wahrscheinlich den Part der ersten Violine spielte, während Wolfgang die von ihm geliebte Bratsche übernahm: „Am Samstag war abends H: Joseph Haydn und die 2 Baron Tindi bey uns, es wurden die neuen quartetten gemacht, aber nur die 3 neuen die er zu den anderen 3, die wir haben, gemacht hat, sie sind zwar ein bischen leichter, aber vortrefflich componiert: H: Haydn sagte mir: ich sage ihnen vor
gott, als ein ehrlicher Mann, ihr Sohn ist der größte Componist, den ich von Person und den Nahmen nach kenne; er hat geschmack, und über das die größte Compositionswissenschaft.“
Dass Leopold Mozart die zweite Trias der „Haydn-Quartette“ als „leichter“ bezeichnet, bezieht sich nicht auf die spieltechnischen Anforderungen, sondern auf Einzelmomente ihres Stils und auf den geistigen Gehalt. Man könnte dabei etwa an den genreartigen äußeren Eindruck des Anfangssatzes zum B-Dur-Quartett mit seinen Dreiklangsmotiven im Sechsachteltakt denken, dem das Quartett seinen Beinamen „Jagdquartett“ verdankt. Allerdings gehört zu diesen letzten drei Werken auch das als „Dissonanzen-Quartett“ bekannte C-Dur-Werk, das mit seiner langsamen Einleitung zum ersten Satz das Ohr auf ganz besondere Weise herausfordert. „Größte Compositionswissenschaft“ spricht Haydn Mozart anhand dieser Werke zu – und diese prägt den verdichteten Tonsatz, den freien Umgang mit Formmodellen und schließlich die beständige Verknüpfung unterschiedlichster Gedanken, Gesten und Gefühle.
Genau dies jedoch erweckte bald nach der Veröffentlichung 1785 auch Unverständnis, Kritik, Widerspruch und schließlich nachlassendes Interesse. Beethoven erinnerte sich viel später: „Man sagte von den 6 Mozartschen Quartetten, daß sie zum totlachen seyen; sie stimmen gar nicht.“ Und Carl Ditters von Dittersdorf sah bei Mozarts Verleger Artaria eine Chance für seine eigenen gefälligeren Quartette, als er ihm 1788 schrieb, dass Mozarts Quartette „zwar bey mir, so wie bey noch grössern Theoretiquern alle Hochachtung verdienen, aber wegen der allzugrossen darinne beständig herrschenden Kunst nicht Jedermanns Kauf seyn“.
Programm I
Die Quartette KV 387, 421 und 428
Für die Veröffentlichung der „Haydn-Quartette“ wählte Mozart eine Anordnung, die im Wesentlichen der Entstehung der Werkgruppe folgte. Die beiden mittleren Quartette jedoch wurden vertauscht, so dass eine chronologisch angelegte Aufführung wie die heutige hier von der Reihenfolge der Erstpublikation abweicht. Das Es-Dur-Quartett ist zeitlich gesehen das dritte, im Erstdruck jedoch das vierte. Mozart komponierte es 1783, fast gleichzeitig mit dem d-moll-Quartett. Aus dem Jahr davor stammt das Quartett G-Dur, das die Reihe eröffnet.
Und es ist wirklich eine Eröffnung: Fast wie ein Chorsatz sind die vier Stimmen angelegt, in ihn eingebettet das fanfarenartige Aufbruchsmotiv der ersten Violine, das vom Grundton über die Quinte in die Oktave aufsteigt. Dieses Oktavmotiv verbindet die Anfangsthemen der ersten drei Quartette. Im d-moll-Quartett erscheint es in pathetischer Deklamation als Oktavsprung abwärts über der bewegten Begleitung. Und im Es-Dur-Quartett bildet der Oktavsprung aufwärts den Kopf eines seltsam statuarischen UnisonoThemas der vier Stimmen, das von dissonanten Intervallen geprägt ist. Auffällig ist in allen drei Quartetten die Tendenz zur Brechung (und indirekten Erhöhung) des Pathos durch die Dynamik. Die düstere Monumentalität zu Beginn des Es-Dur-Quartetts erscheint im geheimnisvollen Piano; der leidenschaftliche Gesang des d-mollQuartetts ist „sotto voce“, gleichsam verinnerlicht, vorzutragen; und das strahlende Forte im ersten Takt des G-Dur-Quartetts wird in der Fortsetzung durch abrupte piano-Passagen unterbrochen und erhält so etwas Flackernd-Unstetes.
Die obligatorische Viersätzigkeit der Quartette wird auf ganz unterschiedliche Art dramaturgisch gestaltet. Im Quartett G-Dur KV 387 sind die Gegensätze zunächst eher schwach ausgeprägt, die ersten drei Sätze sind annähernd gleich lang und auch von der Ereignisdichte her ähnlich angelegt. Das etwas kürzere Finale dagegen bringt gleichzeitig auch eine starke innere Verdichtung, es wirkt mit seinen abrupten Wendungen, Abbrüchen und Einschüben wie ein Opernensemble, in dem am Aktschluss noch einmal das turbulente Geschehen aus verschiedenen Perspektiven rekapituliert wird. Das Gerüst eines Sonatenhauptsatzes verbirgt sich dabei hinter der Fassade einer Fuge, deren erstes Thema sich schnell wieder in theatralischer Konfusion auflöst und mit dem zweiten Thema dann noch einmal einen erfolgreicheren Anlauf nimmt.
Das d-moll-Quartett KV 421 ist Mozarts einziges in einer MollTonart – der gleichen, die auch im geheimnisvollsten der Klavierkonzerte des Komponisten (KV 466) in Erscheinung tritt, ebenso wie in Don Giovanni oder im Requiem. In diesem Quartett umrahmen zwei ausgedehnte Außensätze die kürzeren Mittelsätze. Das Finale, vom Bewegungstyp her ein melancholisch eingefärbtes Siciliano, ist als Variationenfolge konzipiert. Das ganze Stück besitzt über die kontrastierenden Satzcharaktere hinweg starke Bindekräfte, durch die allen Sätzen gemeinsame Verteilung von Schatten und Licht, den bis in das Menuett hinein fortwirkenden emotional gespannten Tonfall und schließlich auch durch die Pathosformel des
Beginns: Die nach unten abfallende Oktave bildet das motivische Substrat des gesamten Stückes, das sie buchstäblich vom ersten bis zum letzten Takt umklammert.
Im Quartett Es-Dur KV 428 sind die Kontraste am stärksten ausgeprägt, innerhalb der einzelnen Sätze ebenso wie zwischen ihnen. Hier herrscht ein kunstvolles Nebeneinanderstellen, ein fast montageartiges Verfahren von Überblendungen und Schnitten. Auf die Erhabenheit und den Ernst des Unisono-Beginns folgen sogleich Ausflüchte, Gesten der Verlegenheit. Auch das Menuett setzt diesen Widerspruch fast schon karikierend als Wechsel zwischen Auftrumpfen und Verzagtheit fort. Und die hohe Stilebene, die den ersten Satz insgesamt, wenn auch nicht ungebrochen, charakterisiert, findet im Schlusssatz ihr direktes Gegenstück: Hier wendet sich Mozart, ein einziges Mal in seinen reifen Quartetten, der einfachen Rondoform zu. Und doch geschieht dies nicht ganz uneingeschränkt, denn der Modulationsplan entspricht – im Gegensatz zur Themenanordnung – nicht der Rondo-, sondern der Sonatenform. Verfolgt man den Satz vor dem Hintergrund dieser Matrix, wird man an der Stelle der Durchführung durch eine Generalpause überrascht, die – wiederum im Sinne eines Rondos verstanden –schlicht den Wiedereintritt des Themas hinauszögert. Die Widersprüche dieses Werkes werden noch dadurch verstärkt, dass der an zweiter Stelle stehende langsame Satz nicht nur der längste des ganzen Stückes ist, sondern dass sich allein an dieser Stelle ein einheitlicher Ausdruckscharakter entfalten kann, der zudem von ganz eigenartigem Ernst erfüllt ist. Das „Thema“ des Satzes ist eigentlich keine Melodie, sondern ein eng geführter, von Vorhalten geprägter dreistimmiger Tonsatz der Oberstimmen über einer rhythmisch gleichförmigen aber intervallisch ausdrucksvollen Basslinie – fast wie ein Stück „alter“ Musik, das hier in die verwirrende Aktualität des Tages hineinklingt.
Programm II
Die Quartette KV 458, 464 und 465
Festliche Stimmung und tänzerische Bewegung verbinden die Quartette B-Dur, A-Dur und C-Dur, auch wenn ihnen Schatten nicht fehlen und das tänzerische Element gerade hier aus dem Genrehaften herausgehoben und transzendiert wird.
Das B-Dur-Quartett KV 458 verströmt mit seinem Kopfmotiv –absteigenden Dreiklangsbrechungen im Sechsachteltakt – eine Aura von Hörnerschall und divertimentoartiger Freiluftmusik, die ihm den Beinamen „Jagd-Quartett“ eingetragen hat. Das ganze Stück ist voll witziger Pointen gelehrter wie populärer Art. Zu den ersteren zählt die Tatsache, dass die Exposition des ersten Satzes das Seitenthema vorenthält und dieses dann überraschenderweise zu Beginn der Durchführung erscheint. Unterschwellig vermittelt sich solche Asynchronität verschiedener Ebenen auch intuitiv durch den Aufund Abbau von Spannungsbögen. Wirklich „gelehrt“ erscheinen hingegen die systematisch angelegten kontrapunktischen Vertauschungen der Stimmen im Schlusssatz, der aber gleichzeitig, in seinem gesanglich-fröhlichen Seitenthema, auch mit einem Zitat aus Mozarts damals populärstem Werk aufwartet, dem versöhnlichen Vaudeville aus der Schlussszene der Entführung aus dem Serail: „Wer so viel Huld vergessen kann, den seh’ man mit Verachtung an.“ Als langsamen Satz schreibt Mozart, das einzige Mal in seinen „HaydnQuartetten“, ein Adagio. Es entwickelt sich aus seinem chorischen, fast bläserartig gesetzten Beginn zunächst in ausgedehnten Passagen der ersten Violine. Sie werden später in einem Zwiegesang zwischen erster Violine und Cello fortgesetzt, der schon an Momente der späteren „Preußischen Quartette“ erinnert.
Das Quartett A-Dur KV 464 beginnt mit zwei Sätzen im Dreivierteltakt. Sonatenhauptsatz und Menuett werden hier von zwei verschiedenen Seiten aus einander angenähert. So wie der erste Satz in seiner Bewegung von latenten Menuett-Anklängen gespeist wird, so nimmt das Menuett, sicher das gewichtigste, geistvollste aller sechs „Haydn-Quartette“, Züge eines Sonatensatzes mit echter Durchführung an. Die melancholische Stimmung, die mit der tänzerischen Bewegung einhergeht, entsteht durch die gemeinsame Motivik, die nicht nur diese beiden, sondern alle vier Sätze des Werkes eng miteinander verbindet. Eigentlich sind es zwei Motive, die in den ersten beiden Takten in einer Arabeske der ersten Violine verbunden sind: ein chromatischer Abstieg von der Quinte zur Terz und ein diatonischer (d.h. der Durtonleiter entsprechender) Abstieg von der Quinte zum Grundton. Im ersten Satz erscheinen beide Motive, die Themen der mittleren Sätze werden aus dem Quintdurchgang gebildet, und der Schlusssatz benutzt das griffig-kurze, aber durch die Chromatik instabile, offene Motiv, das eine Terz umspannt.
Das A-Dur-Quartett vermittelt also einerseits eine ungewöhnliche strukturelle Dichte, andererseits umspannt es wie kein anderes Mozart’sches Quartett eine Weite musikalischer wie lebensweltlicher Bezüge. Beispielweise erscheint im letzten Satz in der Durchführung, nachdem die Bewegung in einer Generalpause plötzlich aussetzt, eine fremde, choralartig nur in ganzen und halben Noten gesetzte Musik von fast mysteriösem Charakter. Andererseits machen die Variationen des langsamen Satzes im Schlussteil ausführlichen Gebrauch von einem denkbar trivialen musikalischen Mittel, dem sogenannten Murky-Bass, der mit seinem gleichmäßigen Pulsieren über einem festgehaltenen Grundton den Klang einer Handtrommel imitiert. Doch gerade diese Passage strahlt auch etwas Geheimnisvolles aus. Der Bass (der übrigens die motivische Keimzelle des ganzen Stückes umkreist) bewegt sich seltsam getrennt von den anderen Stimmen, die ihn schließlich, langsam Abschied nehmend, in Fragmenten wieder in Erinnerung rufen. Der gesamte Variationensatz erinnert an einen, womöglich nächtlichen, Maskenzug oder an die Melancholie inmitten eines jener „Galanten Feste“ des späten Rokoko, wie sie etwa die Malerei von Antoine Watteau zum poetischen Topos gemacht hatte.
Festlicher Glanz bestimmt auch das Quartett C-Dur KV 465. Bevor aber der erste Satz zu seinem freien Flug der Empfindungen ansetzt, einem unermüdlichen Ausschöpfen der Energien des Hauptmotivs, das mit seinem Dreiachtel-Auftakt fast durchgehend präsent ist, hat Mozart dem Stück als einzigem seiner Quartette eine langsame Einleitung vorangestellt. Ungewöhnlich ist dieser Beginn nicht nur durch seine Entlehnung aus dem Bereich der Symphonie, sondern schon durch sich selbst: ein Vorantasten mit orientierungslos erscheinenden, dissonanten Einsätzen der Oberstimmen über dem pulsierenden Grund des Cellos. Von dieser Einleitung, deren Ausdruck darin besteht, dass er noch nach Gestalt sucht, hebt sich die wohlgeformt auftretende Schönheit des Folgenden umso deutlicher ab.
Gleichzeitig aber bleiben die Energien, die sich nicht mit den einmal geformten Gebilden zufriedengeben können, das ganze Stück hindurch spürbar. Auch hier besteht ein hohes Maß an motivischer Bindung, die sich vor allem in den Transformationen des Auftaktmotivs zeigt, auf das selbst noch das eigentlich nicht direkt auftaktige Thema des langsamen Satzes zurückgeführt werden kann. Tänzerische Charaktere scheinen überall in diesem Stück durch, so wirkt das Seitenthema des ersten Satzes wie eine Gavotte,
und im Andante verbinden sich, wie in traumartig gedehntem Zeitempfinden, zwei Tänze: eine Polonaise im Hauptthema und ein Menuett im zweiten Thema. Das Konfliktpotential, das in der gebundenen Formung des an sich ungebundenen menschlichen Ausdrucks steckt, hat Mozart in der Schlusswendung des Werks noch einmal witzig pointiert: Während erste Violine und Cello auf der Eins des Schlusstaktes mit einer Achtelnote ihre Linie beenden, folgen zweite Violine und Bratsche erst eine Achtel später.
Martin Wilkening, geboren 1959 in Hannover, lebt seit 1977 in Berlin, unterbrochen von mehrjährigen Aufenthalten in Korea und Albanien. Er studierte Musik und Literaturwissenschaft und arbeitet seit 1981 als Autor, Musikkritiker, Dozent, Lektor und Verleger.