Kinan Azmeh, Brooklyn Rider & Mathias Kunzli

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Kinan Azmeh, Brooklyn Rider & Mathias Kunzli

Einführungstexte von / Program Notes by Thomas May

KINAN AZMEH, BROOKLYN RIDER & MATHIAS KUNZLI

Freitag 9. Juni 2023 19.30 Uhr

Kinan Azmeh Klarinette

Johnny Gandelsman Violine

Colin Jacobsen Violine

Nicholas Cords Viola

Michael Nicolas Violoncello

Mathias Kunzli Schlaginstrumente

Colin Jacobsen (*1978)

A Mirror for a Prince für Streichquartett, Klarinette und Schlaginstrumente (2015)

I. Busalik

II. Golestan

III. A Walking Fire

Kinan Azmeh (*1976)

Dabke on Martense Street für Streichquartett (2020)

Kinan Azmeh

In the Element für Klarinette, Streichquartett und Schlaginstrumente (2017–18)

I. Run

II. Rain

III. Grounded Pause

Kinan Azmeh

The Fence, the Rooftop and the Distant Sea für Klarinette und Violoncello (2016)

I. Prologue

II. Ammonite

III. Monologue

IV. Dance

V. Epilogue

Colin Jacobsen

Starlighter für Klarinette und Streichquartett (2019)

Ljova (*1978)

Everywhere Is Falling Everywhere für Klarinette, Streichquartett und Schlaginstrumente (2011)

Aus Licht wird Energie

Ein Gespräch mit Colin Jacobsen und Kinan Azmeh

Wo immer Brooklyn Rider auftaucht, sind dem aufmerksamen Ohr musikalische Abenteuer sicher. Seit seiner Gründung vor fast zwei Jahrzehnten zählt das Quartett zu den besonders innovativen musikalischen Grenzgängern und pflegt enge Beziehungen zu Musiker:innen jenseits der westlichen klassischen Sphäre. Sein Name ist sowohl eine Hommage an die multikulturelle Energie des New Yorker Stadtteils Brooklyn, wo das Ensemble beheimatet ist, als auch an den interdisziplinären Eklektizismus des Künstlerkollektivs Der Blaue Reiter, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in München wirkte.

Anlässlich seines Debüts im Pierre Boulez Saal tritt Brooklyn Rider gemeinsam mit dem Klarinettisten, Komponisten und Improvisator Kinan Azmeh auf, der hier als regelmäßiger Gast bereits mit verschiedenen anderen Musiker:innen zu erleben war. Aus seiner Heimat Syrien kam Azmeh im Sommer 1992 als Teenager mit einem Stipendium für ein Kammermusikstudium am Apple Hill Center in New Hampshire zum ersten Mal in die USA. Die Arbeit an Mozarts Klarinettenquintett, das er dort zusammen mit einem Streichquartett musizierte, so erinnert er sich, spielte eine entscheidende Rolle bei seinem Entschluss, den Berufsweg als Musiker einzuschlagen.

Azmeh, der heute ebenfalls in Brooklyn zuhause ist, lernte mehrere seiner Brooklyn-Rider-Kollegen während des Studiums an der Juilliard School in New York kennen und ist seither in verschiedenen Konstellationen mit ihnen aufgetreten, unter anderem in Yo-Yo Mas Silkroad Ensemble und zusammen mit dem von Colin Jacobsen (dem Geiger von Brooklyn Rider) und seinem Bruder

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Eric (der bis 2016 Cellist des Quartetts war) gegründeten Ensemble The Knights.

Im heutigen Konzert ist Azmeh ebenso als Musiker wie als Komponist zu hören: Drei der Werke stammen aus seiner Feder. Außerdem mit dabei in diesem Programm mit Musik von Azmeh, Jacobsen und Ljova (Lev Zhurbin) ist der in der Schweiz geborene und in den USA lebende Percussionist Mathias Kunzli. Gemeinsam haben die fünf Musiker diese Stücke kürzlich für das im September erscheinende Album Starlighter aufgenommen. Jacobsen und Azmeh sprachen per Zoom über ihre Zusammenarbeit und ihre gemeinsamen Interessen.

Wie ist diese Zusammenarbeit zustande gekommen?

Kinan Azmeh Sie hat sich ergeben aus vielen miteinander verbundenen Beziehungen und Freundschaften, die sich im Laufe der Jahre sehr organisch entwickelt haben. Johnny habe ich in den 90er Jahren in einem Sommercamp in Frankreich kennengelernt, Colin und Nicholas durch die New Yorker Musikszene und Michael bei Juilliard.

Colin Jacobsen Wir sind nicht nur durch das Silkroad Ensemble und The Knights verbunden, sondern haben mit Brooklyn Rider in den letzten vier Jahren vor allem mit Kinan zusammengespielt. Durch Silkroad haben wir auch den iranischen Komponisten und Kamantsche-Virtuosen Kayhan Kalhor kennengelernt, der meine Leidenschaft für klassische persische Musik und Volksmusik geweckt hat. [Jacobsen komponierte seine Suite A Mirror for a Prince ursprünglich für Kalhor und das Quartett.] Obwohl diese Musik immer eine sehr persönliche und poetische Stimmung vermittelt, besitzt sie auch eine enorme Dimension von Zeit und Geschichte.

Uns ging es darum herauszufinden, was wir in der Besetzung mit Streichquartett und diesen beiden wunderbaren Musikern Kayhan und Kinan entwickeln können, um tiefer in ihre Musik einzutauchen. Ljova arbeitet schon lange mit allen an diesem Projekt Beteiligten zusammen, auch mit Mathias Kunzli, der in Ljovas Ensemble Kontraband spielt.

Welche Idee liegt dem neuen Album Starlighter und dem heutigen Programm zugrunde?

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CJ Es ist Musik für eine sehr spezielle Kombination von Klarinette, Streichquartett und Schlagwerk, geschrieben von Menschen, die die Beteiligten und ihre Fähigkeiten sehr gut kennen. Das Bild, das ich bei Kinans Musik im Kopf habe, ist die erste Zeile aus Samuel Becketts Erzählung Gesellschaft, die ich aus dem Zweiten Streichquartett von Philip Glass kenne: „Eine Stimme kommt zu einem im Dunkeln. Erträumen.“ Die Kombination aus Klarinette und Streichquartett lässt mich an Kinan als Starlighter [Sternenanzünder] denken: Das Streichquartett ist die Menschheit, eine Gruppe von Gleichen. Die Klarinette steht für die Ergänzung durch das Andere: Durch sie entsteht ein wunderschönes Zusammenspiel, und sie belebt das Gespräch zwischen allen Beteiligten. Und schließlich ist da noch Mathias’ Schlagwerk, das dem Ganzen Bodenhaftung und Schubkraft aus der Tiefe verleiht.

KA Ich glaube, in diesem Programm geht es nicht so sehr um eine musikalische Gattung, sondern um Freundschaft. Wir wollten schon seit Jahren ein gemeinsames Projekt machen, weil wir so oft in verschiedenen Besetzungen auf der Bühne gestanden haben. Die übergreifende Idee ist ein Album, das von Freundschaft inspiriert ist und mit dem wir versuchen, das Streichquartett auch als Band zu verstehen. Ich finde es wunderbar, was passiert, wenn bei einer Band alles passt. Mit Brooklyn Rider und Mathias passt es, weil wir Musik spielen wollen, die wir lieben. Und wie es der Zufall will, lieben wir alle die verschiedensten Musikrichtungen. Letztlich besteht diese Band aus Individuen, die versuchen etwas entstehen zu lassen, das größer ist als die Summe ihrer Persönlichkeiten – etwas, das tiefgründiger und komplexer ist als das, was sie einzeln zustande bringen könnten.

Wie schaffen Sie es, dass diese Mischung funktioniert?

KA Ich versuche, für Menschen zu schreiben, nicht für ihre Instrumente und auch nicht nur für die jeweilige Besetzung. Dabei berücksichtige ich auch, welche enorm vielseitigen Erfahrungen diese fünf Kollegen über die Jahre gesammelt haben. Sie sind bereit, sich der Herausforderung unkonventioneller Werke mit derselben Hingabe und dem gleichen Einsatz zu stellen, mit der sie an Stücke aus dem Kanon herangehen. Das verleiht ihnen eine unglaubliche Flexibilität und Offenheit, die ich sehr erfrischend finde.

Die Proben mit Brooklyn Rider machen immer großen Spaß, weil alles Mögliche infrage gestellt wird und wir die Dinge wie

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in einer Band musikalisch ausdiskutieren können. Manchmal hat das Einfluss darauf, wie detailliert man die Musik ausgestalten möchte. Ich versuche für mich selbst, die Rolle des Musikers von der des Komponisten zu trennen. Wenn wir zusammen proben, gehe ich mit der Partitur um, als hätte jemand anders die Noten geschrieben. Wir entscheiden dann gemeinsam, wie wir das Stück am besten angehen. Ich bin froh über diese Offenheit und dass wir Entscheidungen gemeinsam treffen. Die Musik in diesem Programm ist von verschiedenen Kunstformen, verschiedenen kammermusikalischen Besetzungen, verschiedenen musikalischen Ausdrucksformen und Traditionen inspiriert – ohne durch irgendeine davon eingeengt zu werden.

CJ Wie Brooklyn Rider und wie Mathias hat auch Kinan mehrere musikalische Identitäten. Er ist klassisch ausgebildeter Klarinettist, aber natürlich auch mit allen Melodien und Modi der Musik Syriens aufgewachsen. Der Grund, warum das alles funktioniert, ist, dass keiner von uns sich über ein bestimmtes Genre definiert. Bei dieser Zusammenarbeit geht es mehr um die jeweiligen Instrumente und die spezifischen Freundschaften und darum, was jeder von uns einbringen kann. Es ist eine sehr schöne musikalische Mischung, die organisch gewachsen ist, weil wir uns gegenseitig so gut kennen.

Colin, wie hat die Musik des Nahen Ostens Ihre eigene Sprache erweitert, und wie verhält sich das zu westlichen Einflüssen?

CJ „Musik des Nahen Ostens“ ist ein sehr weit gefasster Begriff für eine ganze Reihe verschiedener musikalischer Traditionen. Als ich Kayhan [Kalhor] bei Silkroad kennenlernte, war ich überrascht davon, welche Bedeutung der Gemütszustand oder der Affekt hat, je nach Tonart oder Modus – ähnlich wie in der Barockmusik. Und dann geht es darum, wie tief man in diese Welt eintauchen kann. Das unglaublich Ornamentale der bildenden Kunst im Nahen Osten und der Sinn für komplexe Muster ist ebenso wichtig und findet sich auch in der Musik wieder. Ich mag es, wenn sich das sehr Alte sehr modern anfühlt und wie eine Tradition sich immer wieder selbst mit Leben füllt.

Manche Elemente der nahöstlichen oder persischen Musik oder auch der Minimal Music finde ich reizvoll, aber was ich schreibe, ist nichts von alledem. Es ist etwas Eigenständiges. Da wir Stücke von Kinan gespielt haben, weiß ich um seine besonderen Sensibilitäten und musikalischen Vorlieben und hatte

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sie im Hinterkopf. Irgendwo im Hintergrund spielte auch immer das Klarinettenquintett von Brahms eine Rolle, das eines meiner Lieblingsstücke ist.

Kinan, in Ihren Stücken gibt es einige Stellen, an denen improvisiert werden kann. Wie verhält sich für Sie Improvisation zur komponierten Musik?

KA Sind sie nicht voneinander zu trennen. Komposition ist nur eine andere Form der Improvisation. Und Improvisation ist eine andere Form der Komposition. Ich bewege mich gern in diesem Freiraum, den die Improvisation bietet. Improvisation ist ansteckend. Wenn man an auskomponierte Stücke mit einer improvisatorischen Einstellung herangeht, bekommt die Musik eine besondere Frische, und es ermutigt alle Beteiligten, außerhalb irgendwelcher Schubladen zu spielen – unabhängig davon, ob tatsächlich improvisiert wird. Ich arbeite gerne mit wenigen Vorgaben, weil man dann trotz der selbst auferlegten Beschränkungen improvisieren kann.

Die Fragen stellte Thomas May.

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Zur Musik

A Mirror for a Prince

Der Titel von Colin Jacobsens Suite, die ursprünglich für Brooklyn Rider, den Kamantsche-Spieler Kayhan Kalhor und Schlagwerk geschrieben wurde, bezieht sich auf das Genre der Traktate, die Herrscher des Mittelalters und der Renaissance in der Regierungskunst unterwiesen (das bekannteste westliche Beispiel dafür ist Machiavellis Il principe). Die ersten beiden Sätze stammen aus einer Sammlung osmanischer Hofmusik aus dem 16. und 17. Jahrhundert, als persische Musiker aufgrund ihres guten Rufs eine wichtige Rolle spielten. Allerdings wurde diese Quelle von einem zeitgenössischen iranischen Musiker und Gelehrten „nach seinem eigenen Geschmack und den Werten der modernen persischen Musik“ bearbeitet, um sie mit Leben zu füllen.

In dieser Form wurde das Material dann von Kalhor weitergegeben. Jacobsen vergleicht diese Übertragungskette mit einem „Stille-PostSpiel über die Jahrhunderte“ seit der osmanisch-safawidischen Zeit. Die musikalischen Phrasen sind oft durch umfangreiche rhythmische Zyklen bestimmt – im ersten Satz (Busalik) bestehend aus 48 Schlägen –, was ihren Ursprung in kunstvollen poetischen Formen widerspiegelt. Der Titel des dritten Satzes (A Walking Fire) zitiert eine Zeile von Rūmī, dem persischen Dichter und Sufi-Mystiker aus dem 13. Jahrhundert, in der er einen befreundeten Menschen, den er als „lebendige Verkörperung der Liebe“ bezeichnet, mit „einem schreitenden Feuer“ vergleicht.

Dabke on Martense Street

Zu Beginn des Lockdowns während der Pandemie erlebte Kinan Azmeh, wie die reale Welt auf „eine stille Straße in Brooklyn“ zusammenschrumpfte – die Martense Street, in der er lebt. Doch gleichzeitig sorgte dieser Zustand für „eine Ausdehnung meiner Vorstellungswelt, die sich exponentiell vergrößern musste, um das zu kompensieren“. Er stellte sich vor, dass auf der Straße eine „fiktive Feier unter Fremden und Nachbarn stattfand, die sich wieder an den Händen halten und tanzen wollten“, und dabei eine Version des in seiner Heimat Syrien verbreiteten Rundtanzes Dabke getanzt würde.

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Mit diesem Stück – Teil einer Reihe, in der er seine „Verbindung zu bestimmten Räumen“ zum Ausdruck bringen möchte – würdigt Azmeh seine enge Verbindung zu Brooklyn Rider. „In einigen dieser Stücke“, erklärt er, „versuche ich, persönliche Erfahrungen an einem bestimmten Ort zu dokumentieren, andere sind vom Erscheinungsbild und dem Klang einer Stadt inspiriert und wieder andere (wie Dabke on Martense Street) von fiktiven Personen und Bildern, von einer Zusammenkunft, die, wie ich hoffe, irgendwann tatsächlich stattfinden wird.“

In the Element

In the Element wurde 2017/18 im Auftrag des Quatuor Voce als Klarinettenquintett geschrieben (mit später ergänzten Schlaginstrumenten) und ist von zwei denkwürdigen Momenten inspiriert, die Kinan Azmeh erlebte. Auf einen davon beziehen sich die ersten beiden Sätze. Während eines Besuchs des Apple Hill Center for Chamber Music in New Hampshire im Jahr 2017, wo er seit etlichen Jahren als Coach und Klarinettist tätig ist, wurde Azmeh beim Joggen von einem Regenschauer überrascht. „Ich rannte klatschnass zum Camp zurück, setzte mich draußen auf eine Bank und schaute nach oben in den Regen“, erinnert er sich. Ein Kollege beschrieb die Szene als Bild eines Menschen, der „in seinem Element“ sei, und traf damit für Azmeh mitten ins Schwarze. „Der Regen, der Lauf und die Geräuschkulisse bewirkten genau das“, sagt er. „Die Sätze Run und Rain versuchen, etwas von diesem Gefühl, ‚in seinem Element‘ zu sein, wiederzugeben.“

Den abschließenden dritten Satz (Grounded) fügte Azmeh hinzu, nachdem er im Januar 2018 zum ersten Mal nach sechs Jahren wieder zu einem kurzen Besuch in seine Heimatstadt Damaskus gereist war. Obwohl er auf der Fahrt von der libanesischen Grenze zu seinem Elternhaus in der Stadt eine Kombination von „Liebe, Wut und Traurigkeit“ durchlebte, „war die überwältigendste Empfindung während dieser 48 Stunden zu Hause das Gefühl, geerdet zu sein: Dies ist mein Zuhause, das mir niemand wegnehmen kann. Zu Hause sein, in seinem Element sein, sich geerdet fühlen und nach vorne schauen – darum geht es in diesem Werk.“

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The Fence, the Rooftop and the Distant Sea

Dieses Stück entstand als Duo für Klarinette und Cello für Azmeh und Yo-Yo Ma im Auftrag der Hamburger Elbphilharmonie und wurde dort im Januar 2017 als Teil der Eröffnungsfeierlichkeiten uraufgeführt. Eine Version für Klarinette und Streichquartett wurde 2018 vom Aizuri Quartett in Auftrag gegeben. Azmeh vollendete das Stück im Dezember 2016 während einer Reise nach Beirut, wo „von meinem Schreibtisch aus ein Zaun, ein Dach und in der Ferne das Meer zu sehen waren… eine Erinnerung daran, wie nah meine Heimatstadt Damaskus war und wie weit sie doch entfernt zu sein schien, nachdem ich fünf Jahre lang fort war“, erklärt er. „In dem Stück geht es um zufällige Erinnerungen von Menschen, genauer gesagt um zwei Personen, die auf der Suche nach Erinnerungen an ihre Heimat sind, sich von ihren eigenen Gedanken treiben lassen und von einer zufälligen Erinnerung zur nächsten springen, bis sie erkennen, dass die einfachsten Erinnerungen die stärksten waren und sich daran unaufhörlich festhalten.“

Starlighter

Zu diesem Stück wurde Jacobsen durch Gespräche mit seinem Schwiegervater Melvin Okamura angeregt, der sich als Forscher jahrelang mit Photosynthese beschäftigt hat, dem Prozesses, „bei dem Pflanzen und Bakterien das von dem uns nächstgelegenen Stern, der lieben Sonne ausgestrahlte Licht absorbieren und in Energie umwandeln“, wie er sagt. „Dabei nehmen sie Kohlendioxid auf und geben Sauerstoff ab und sind somit im Grunde für die Luft verantwortlich, die wir atmen und auf die wir angewiesen sind.“ Okamura beschäftigt sich insbesondere mit der Umwandlung von Licht in Energie auf molekularer Ebene, und Jacobsen stellte fest, dass dieser Prozess als Analogie zur klassischen westlichen Sonatenform betrachtet werden kann: „mit Ausgangsmaterial (das heißt dem eintretenden Licht), das zu einem angeregten Zustand führt, einer Entwicklung oder Durchführung (in der das Elektron bzw. die Musik eine Reihe von energetischen Veränderungen bzw. Wechselwirkungen durchläuft) und einer Reprise (in der aus dem Alten etwas Neues synthetisiert wird).“ Man könnte Starlighter insofern als Programmmusik interpretieren, sagt Jacobsen, obwohl er selbst es lieber als „eine freie Fantasie über diese Themen“

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bezeichnet denn als „strenge und sklavische Darstellung dieses sehr komplizierten und schönen Prozesses der Photosynthese“.

Everywhere Is Falling Everywhere

Der Komponist, Bratschist und Arrangeur Lev Zhurbin, der unter dem Künstlernamen Ljova bekannt ist, arbeitet ebenfalls häufig mit Brooklyn Rider zusammen. Geboren als Sohn des bekannten Filmkomponisten Alexander Zhurbin und der Dichterin Irena Ginzburg, zog er als Kind mit seiner Familie von Moskau nach New York. Kinan Azmeh beschreibt Ljova als einen Komponisten, „der Improvisation und Komposition nahtlos und auf sehr schöne Weise miteinander verbindet. Sein natürliches melodisches und rhythmisches Verständnis ist einzigartig. Und für ihn ist es selbstverständlich, dass andere Menschen das auf ebenso natürliche Weise tun, was eine wunderbare These ist.“

Wie der dritte Satz von Jacobsens A Mirror for a Prince ist auch Everywhere Is Falling Everywhere vom Werk des persischen Dichters Rūmī aus dem 13. Jahrhundert inspiriert – insbesondere von Rūmīs atemberaubendem Gedicht Die neue Regel, in dem er beschreibt, wie wir uns aus unserem zerrütteten, beschädigten Leben, in dem „überall überall hinfällt“ (so der Stücktitel), neu erfinden und ihm entkommen können: „Dies ist die neue Regel: zerbrich das Weinglas / und lass dich fallen, dem Atem des Glasbläsers entgegen.“

Thomas May

Übersetzung aus dem Englischen: Sylvia Zirden

Thomas May ist Autor, Kritiker, Dozent und Übersetzer. Seine Texte erscheinen in der New York Times, in Gramophone und vielen anderen Publikationen. Er ist verantwortlicher Redakteur für die englischsprachigen Veröffentlichungen des Lucerne Festival und schreibt außerdem Programmeinführungen für das Ojai Festival in Kalifornien.

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Light into Energy

Open-eared musical adventures are guaranteed whenever Brooklyn Rider is part of the equation. Since they emerged almost two decades ago, the quartet has been among the most innovative of border crossers, developing close relationships with musicians outside the Western classical sphere. Their name pays homage both to the multicultural energy of their home base in Brooklyn, New York, and to the cross-disciplinary eclecticism exemplified by Der Blaue Reiter (The Blue Rider), the Munich-based artistic collective from the early 20th century.

For their Pierre Boulez Saal debut, Brooklyn Rider joins with acclaimed clarinetist, composer, and improviser Kinan Azmeh, a Pierre Boulez Saal favorite who has performed here with several different formations. Azmeh first visited the U.S. from his native Syria as a teenager, in the summer of 1992, when he received a scholarship to study chamber music at the Apple Hill Center in New Hampshire. He recalls that playing chamber music with a string quartet in that setting, when he worked on Mozart’s Clarinet Quintet, inspired him to make his decision to become a professional musician.

Azmeh, who also makes his home in Brooklyn, got to know several of his Brooklyn Rider colleagues while they were students at the Juilliard School in New York and has performed with them in various capacities, including as part of Yo-Yo Ma’s Silkroad Ensemble

and in collaboration with The Knights, an ensemble co-founded by Brooklyn Rider violinist Colin Jacobsen and his brother Eric (the quartet’s cellist until 2016).

Tonight’s program presents Azmeh as both performer and composer: three of the pieces here were written by him. The Swissborn, U.S.–based percussionist Mathias Kunzli likewise brings his talents to the mix for this selection of compositions by Azmeh, Jacobsen, and Ljova (Lev Zhurbin), which the musicians recently recorded together and will release in September as the album

Starlighter. Jacobsen and Azmeh spoke via Zoom about their collaboration and shared interests.

How did you forge this relationship?

Kinan Azmeh It comes from lots of interconnected relationships and friendships that developed very organically over the years. I met Johnny back in the ’90s in a summer camp in France, Colin and Nicholas through the New York City music scene, and Michael at Juilliard.

Colin Jacobsen Besides our connections through the Silkroad Ensemble and The Knights, we’ve been playing with Kinan specifically as part of Brooklyn Rider for the last four years or so. Silkroad is also where we met the Iranian kamancheh virtuoso and composer Kayhan Kalhor, who inspired my love affair with Persian classical and folk music. [It was originally for Kalhor and the quartet that Jacobsen composed his suite A Mirror for a Prince.] There’s something in this music that seems to speak to an epic sense of time and history but is always grounded in an intensely personal and poetic state of mind.

We wanted to see what we could do with string quartet and Kayhan and Kinan, who are both amazing musicians—to go deeper into their music with this format. Ljova is a longtime collaborator of all parties involved in this project, including Mathias Kunzli, who plays with his band the Kontraband.

What’s the underlying concept for the new album Starlighter and this program?

CJ It’s music for a very specific combination of clarinet, string quartet, and percussion, written by people who know those involved and their talents very well. The image that comes to me, when I think of what Kinan does, is the first line in the novella

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Company by Samuel Beckett, which I know from the Second String Quartet by Philip Glass: “A voice comes to one in the dark. Imagine.” There’s something about the clarinet plus quartet that makes me think of Kinan as the Starlighter: the quartet is humanity—it’s the group of similar beings. The clarinet is the addition of the Other: it interacts so beautifully and elevates the discourse between all parties. And then you have the percussion of Mathias, which gives the earth and the thrust from below.

KA I think what this program celebrates is not a musical genre but friendship. We’ve been wanting to do a project together for years, since we’ve played so many times onstage in different capacities. The overarching concept is an album ignited by friendship that tries to think of the string quartet also as a band. I love what happens when a band is clicking. With Brooklyn Rider and Mathias, we click because we want to play music that we love. And we all happen to love a variety of different kinds of music. At the end of the day, it’s a band where there’s a bond between individuals who try to create something that is larger than the sum of their personalities—something that is deeper and more complex than what they can offer individually.

How do you make this blend work?

KA I try to write for people, not for the instruments they play, and not just for the combination. I take into account how the experience these guys have had over the years is incredibly diverse. They are willing to take on the challenge of works that are unconventional with the same depth and thoughtfulness with which they approach pieces from the canon. That gives them an incredible flexibility and openness that I find refreshing.

Every time I rehearse with Brooklyn Rider is fun, because lots of things get challenged, and we can thrash them out the same way a band would. Sometimes it affects how much detail you want to put in the music. I’ve tried to separate these two personalities of mine as a performer and a composer. So when we rehearse together, I deal with the score as if it’s somebody else’s notes. Then we decide collectively: How do we make this work for the best? I’m glad to be part of that openness, the fact we take decisions collectively. This concert presents music that is inspired by several art forms, several configurations of chamber music, several musical vocabularies and traditions—without being limited by any of these.

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CJ Like Brooklyn Rider, and like Mathias, Kinan is someone with multiple musical identities. He’s a classically trained clarinetist but of course he grew up breathing in deeply all the melodies and modes of Syria as well. The reason this all works is that none of us defines ourselves by genre. In this collaboration, it’s more about the specific instruments and the specific friendships and what we bring to the table. It’s a nice mix of music that organically grew from us knowing each other.

In your compositions, Colin, how has Middle Eastern music expanded your own language—and how do you balance that with Western influences?

CJ “Middle Eastern music” is a very large umbrella for a ton of different musical systems. From the beginning, when I met Kayhan [Kalhor] in Silkroad, I was struck by the way that the state of mind, or the affect, determines so much, depending on the scale or mode—sort of like Baroque music. Then it becomes about how deep you can go into that world. The incredible ornamentation of the visual arts in the Middle East and the sense of intricate patterns is also important and comes together in the music as well. I love this sense of the very ancient feeling very modern and how a tradition keeps breathing life into itself.

I’m drawn to elements of Middle Eastern or Persian music or even of Minimalism, but what I write isn’t any of those things. It has its own identity. We’ve played pieces by Kinan, so I’m aware of his sensitivities and what he enjoys in music and had that in mind. Also hovering in the background somewhere was the Brahms Clarinet Quintet, which is one of my favorite pieces.

Kinan, there are a few pockets open for improvisation in your pieces. How do you balance improvisation with through-composed music?

KA I don’t think of them as separate. Composition is just another aspect of improvisation. And improvisation is another aspect of composition. I like to explore that space of freedom that improvisation allows. Improvisation is contagious. If you approach written pieces with an improvisatory attitude—regardless of whether you actually improvise—it gives the music freshness and encourages everyone to play outside the box. I like to work with limited parameters, because you improvise in spite of the limitations that you impose on yourself.

Interview: Thomas May

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Notes on the Music

A Mirror for a Prince

The title of Colin Jacobsen’s suite—originally written for Brooklyn Rider, percussion, and kamancheh virtuoso Kayhan Kalhor —refers to the medieval-Renaissance genre of manuals instructing rulers on proper governance (the best-known Western version of which is Machiavelli’s Il principe). The first two movements derive from a collection of 16th- and 17th-century Ottoman court music, where Persian musicians were prominent because of their high reputation. This source has been mediated, however, by a contemporary Iranian musician and scholar “using his own taste and modern Persian music values” to bring them to life.

In that form, the material was then shared by Kalhor. Jacobsen likens this chain of transmission to “a game of telephone over the centuries” since the Ottoman/Safavid era. The musical phrases tend to consist of rhythmic cycles—48 beats in the first movement (Busalik)—reflecting their origin from elaborate poetic forms. The name of the third movement (A Walking Fire) quotes a line from the 13th-century Persian poet and Sufi mystic Rūmī that compares a friend who is “a living embodiment of love” to “a walking fire.”

Dabke on Martense Street

Early in the pandemic lockdown, Kinan Azmeh saw the real world he experienced shrink to “a quiet street in Brooklyn”— Martense Street—which is his home base. But that encouraged “an expansion in my imaginary world which had to grow exponentially to compensate.” He imagined a version of the dabke, which is a circular dance common in his native Syria, taking place on his street as “a fictional party of strangers and neighbors who are willing to hold hands again and dance” unfolds.

Azmeh pays tribute to his close ties with Brooklyn Rider in this piece, part of a series in which he has been articulating his “connection to spaces.” He explains: “Some of these pieces attempt to document personal experience in a given location, some are inspired by the look and the sound of a city, and some (like Dabke on Martense

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Street) are inspired by fictional characters and imagery, a sort of gathering that I hope will take place sometime in the near future.”

In the Element

Composed on a commission from Quatuor Voce in 2017–8 as a clarinet quintet (with percussion later added to the score), In the Element was inspired by two separate epiphanies Kinan Azmeh experienced. One of these pertains to the first two movements. During a visit to the Apple Hill Center for Chamber Music in New Hampshire in 2017, where he has been serving as a coach and clarinetist over the years, Azmeh got caught by a rain shower while out for a run. “I ran back to the camp soaking wet and sat on one of the benches outside and looked up as the rain was falling,” he recalls. When a colleague described the scene as the picture of a person being “in his element,” it struck home. “The rain, the run, and the surrounding soundtrack did that,” notes Azmeh. “The movements Run and Rain try to depict some of that feeling of being ‘in the element.’”

Azmeh later added a third and final movement (Grounded) following a short trip in January 2018 to his native Damascus, where he had not visited for six years. Although he experienced a combination of “love, anger, and sadness” while driving from the Lebanese borders to his parents’ home in the city, “the most overwhelming feeling during these 48 hours at home was a feeling of being grounded: this is my home and no one shall take that away from me. Being at home, in the element, feeling grounded, and looking forward are what this work is about.”

The Fence, the Rooftop and the Distant Sea

This piece originated as a duo for clarinet and cello for Azmeh and Yo-Yo Ma, which they premiered in January 2017 as a commission for the opening of Hamburg’s Elbphilharmonie. A version for clarinet and string quartet was then commissioned by the Aizuri Quartet in 2018. Azmeh completed the piece in December 2016 while on a trip to Beirut, where “a fence, a rooftop, and the distant sea were all present there facing my desk … a reminder of how near my hometown of Damascus was yet how far it seemed after being

away for five years,” he says. “The piece is about random memories of individuals—more precisely, it is about two characters searching for memories from home, and how they jump from one random memory to another while allowing themselves to drift away with their own thoughts, until they realize that the most powerful memories were the simplest, and they hold on to that endlessly.”

Starlighter

In writing this piece, Jacobsen was inspired by discussions with his father-in-law, Melvin Okamura, a longtime researcher into photosynthesis, the process “by which plants and bacteria absorb light emitted by our nearest star, our beloved sun, and turn the light into energy,” as he explains. “As a byproduct of this process, they ingest carbon dioxide and emit oxygen, effectively being responsible for the air we breathe and depend upon.” Okamura focuses specifically on this transformation of light into energy on the molecular level. Jacobsen realized that this process could be seen as analogous to Western classical sonata form: “with opening material (i.e., light entering) leading to an excited state; a development (in which the electron/music goes through a series of energy changes/interactions); and recapitulation (in which something new is synthesized out of the old).” Starlighter might thus be interpreted as a piece of program music, he observes, though he prefers to call it “a free fantasy on those themes rather than a strict and slavish depiction of this very involved and beautiful process of photosynthesis.”

Everywhere Is Falling Everywhere

The composer, violist, and arranger Lev Zhurbin, known by his stage name Ljova, is another frequent collaborator of Brooklyn Rider. Son of the prominent film composer Alexander Zhurbin and the poet Irena Ginzburg, he moved with his family from Moscow to New York City as a child. Kinan Azmeh describes Ljova as a composer “who merges improvisation and composition in such a beautiful and seamless way. His thinking is unique, both melodically and rhythmically, and natural. He assumes that everybody will do that naturally, too, which is a wonderful assumption.”

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Like the third movement of Jacobsen’s A Mirror for a Prince, Everywhere Is Falling Everywhere is inspired by the work of the 13th-century Persian poet Rūmī—specifically, The New Rule, Rūmī’s astounding poem of how from our broken, shattered lives, where “everywhere is falling everywhere,” we can remake ourselves and escape: “Here’s the new rule: break the wineglass, / and fall toward the glassblower’s breath” (in the translation by Coleman Barks).

Thomas May is a writer, critic, educator, and translator whose work appears in The New York Times, Gramophone, and many other publications. The English-language editor for the Lucerne Festival, he also writes program notes for the Ojai Festival in California.

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