Martha Argerich & Daniel Barenboim - Weihnachtsbaum

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Martha Argerich & Daniel Barenboim Weihnachtsbaum EinfĂźhrungstexte von / Program Notes by AndrĂŠ Podschun & Paul Thomason


MARTHA ARGERICH & DANIEL BARENBOIM Weihnachtsbaum Samstag Montag

23. Dezember 2017 19.00 Uhr

25. Dezember 2017 15.00 Uhr

Kinderkonzert

Martha Argerich Daniel Barenboim Klavier

Georges Bizet (1838–1875) Jeux d’enfants für Klavier zu vier Händen op. 22 (1871) I. L’Escarpolette (Die Schaukel). Rêverie II. La Toupie (Der Kreisel). Impromptu III. La Poupée (Die Puppe). Berceuse IV. Les Chevaux de bois (Das Karussell). Scherzo V. Le Volant (Federball). Fantaisie VI. Trompette et Tambour (Trompete und Trommel). Marche VII. Les Bulles de Savon (Seifenblasen). Rondino VIII. Les quatre Coins (Bäumchen, wechsle dich). Esquisse IX. Colin-Maillard (Blindekuh). Nocturne X. Saute-Mouton (Bockspringen). Caprice XI. Petit Mari, petite femme (Kleiner Mann, kleine Frau). Duo XII. Le Bal (Das Tanzvergnügen). Galop


Maurice Ravel (1875–1937) Ma Mère l’Oye Fünf Kinderstücke für Klavier zu vier Händen (1910) I. Pavane de la Belle au bois dormant (Dornröschens Pavane). Lent II. Petit Poucet (Der kleine Däumling). Très modéré III. Laideronnette, Impératrice des Pagodes (Laideronnette, Kaiserin der Pagoden). Mouvement de marche IV. Les Entretiens de la Belle et de la Bête (Gespräche zwischen der Schönen und dem Tier). Mouvement de Valse très modéré V. Le Jardin féerique (Der Feengarten). Lent et grave

Pause

Franz Liszt (1811–1886) Weihnachtsbaum S 613 für Klavier zu vier Händen (1874–81) I. Psallite. Altes Weihnachtslied II. O heilige Nacht! Weihnachtslied nach einer alten Weise III. Die Hirten an der Krippe. In dulci jubilo IV. Adeste fideles. Gleichsam als Marsch der heiligen drei Könige V. Scherzoso. Man zündet die Kerzen des Baumes an VI. Carillon VII. Schlummerlied VIII. Altes provençalisches Weihnachtslied IX. Abendglocken X. Ehemals XI. Ungarisch (Magyar) XII. Polnisch (Mazurka)


Wo Sprache aufhört, fängt Musik an Franz Liszts Weihnachtsbaum A ndré Po ds chun

Weihnachten gilt als Fest der Familie. Mit ungeduldigem Begehren blicken die Kinder auf bunt verpackte Geschenke unter einem reich geschmückten Weihnachtsbaum, während die Großeltern in den Augen ihrer Enkel nicht selten ihre eigene Kindheit gespiegelt sehen – als Vater und Mutter noch lebten und der Höhepunkt des Jahres durch lange Wochen des Herbeisehnens kaum erwartet werden konnte. Überall verströmt sich der Duft der Heimlichkeit, bleiben Zimmer verschlossen und werden die Tage bis zum Heiligen Abend mit steigender Spannung gezählt, versüßt mit allerlei Gebäck, während sich, zumindest in der Erinnerung der Älteren, die Landschaft verändert und sich das Grau der Gegend in ein strahlendes Weiß verwandelt. Der Mensch sucht nach Licht, nach Erleuchtung. Seinem Bedürfnis nach Aufhellung kommt der festlich glänzende Baum entgegen. Mit ihm verbindet sich die Hoffnung auf ein familiäres Beisammensein, wenn man vereint vor dem Weihnachtsbaum sitzt und, vom dünnen Sopran des Knaben bis zum brummenden Bass des Großvaters, die altbekannten Lieder singt – eine Vision, deren Realisierung oft genug an der bitteren Erkenntnis scheitert, weit entfernt von diesem Traum zu sein. Als Franz Liszt 1874 seine Klaviersuite Weihnachtsbaum zu komponieren beginnt, steht er in seinem 62. Lebensjahr. Er ist längst Großvater, unter anderem von Cosimas ältester Tochter Daniela Senta. Cosima, Liszts Tochter, hat Daniela am 12. Oktober 1860 in Berlin geboren,Vater des Kindes ist der Pianist und Dirigent Hans von Bülow, Liszts Schüler. Später wird Liszt seinem ersten Enkelkind den Weihnachtsbaum widmen. Derweil stehen im Geburtsjahr der Enkelin die Zeichen gut für die Heirat Liszts mit der Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein. Liszt hat seine Stellung als Kapellmeister in Weimar aufgegeben. Auch leistet der Mann der


Liszt und die Familie Wagner

Fürstin keinen Widerstand mehr. Die ausstehende Ungültigkeitserklärung der Ehe muss wegen kirchenrechtlicher Schwierigkeiten vom Papst anerkannt werden, weswegen sich die Fürstin ab Mai 1860 in Rom aufhält. Dort soll die Heirat an Liszts 50. Geburtstag im Oktober 1861 stattfinden. Doch unmittelbar zuvor trifft die Nachricht vom Verbot ein, das die Familie des Fürsten erwirkt hat. Eine der Vertrauten der Fürstin bemerkt: „Dieses Begehren in allerletzter Stunde erscheint nun auch ihr als der entscheidende Schicksalsschlag – sogar ihr Mut ist endgültig gebrochen […] Von nun an entspinnt sich das qualvolle Martyrium dieser beiden Menschen, die einander alles gewesen und die jetzt wie Erblindete einander unaufhörlich suchen, ohne sich zu finden.“ Liszt zieht sich nach Rom zurück, empfängt 1865 die niederen Weihen und wagt den Schritt zum Abbé. 1869 ist er wieder in Weimar.  Von Rom aus kümmert sich die Fürstin um sein Wohlbefinden. Sie wählt die junge Adelheid von Schorn zu seiner Hausdame und richtet mahnende Worte an sie: „Nehmen Sie diesen Platz in meinem Namen ein, damit andere ihn nicht einnehmen! Ergreifen Sie allmählich Besitz von seinem Heim!“ Als Liszt intensiveren Kontakt zu Cosima und ihrem zweiten Mann Richard Wagner sucht, bleibt die Fürstin misstrauisch. Nur mühsam kann sie ihre Angriffe gegen Cosima und Wagner verbergen, bittet Adelheid von Schorn um diskrete Informationsdienste und hält Liszt brieflich immer wieder seine Nähe zu Bayreuth vor. Liszt reagiert verletzt und kündigt an: „Nach Ihrem heutigen Brief nehme ich davon Abstand, nach Rom zurückzukehren.“ Cosima gesteht er, sein Verhältnis zur Fürstin „auf die wichtigsten Punkte unserer Existenz zurückzuführen.“ Die Bande zu seiner Tochter und deren Kindern wirken stärker. Demonstrativ bleibt er 1876/77 in Bayreuth und erlebt, wie Daniela, eben aus der Internatsschule Luisenstift bei Dresden zurückgekehrt, mit knapp 17 Jahren zu einer talentierten jungen Pianistin heranwächst, die dem Großvater gelegentlich vorspielt. Liszt genießt die Nähe zu „seiner Familie“.

Mit dem 1876 vollendeten und später noch über­ arbeiteten Weihnachtsbaum, einer Sammlung reizvoller Impressionen, nimmt Liszt nach einer zehnjährigen Phase 5


spärlichen Schaffens das Komponieren für Klavier wieder auf. (Das Stück existiert sowohl in zweihändiger wie vierhändiger Fassung.) Im Rückgriff auf altvertraute Lieder und Erinnerungen scheint er den Anschluss an die Jahre der Jugend zu suchen, als das geringste Ereignis noch unzählige Schwingungen hervorrief und die Welt reich an Verheißungen war. Erstmals aufgeführt hat die Enkelin Daniela das Werk am Weihnachtstag 1881 in einem römischen Hotel als Geschenk für ihren Großvater. Cosima feierte außerdem an diesem Tag Geburtstag – bezeichnenderweise, und nicht untypisch für ihr sendungsbewusstes Leben, erblickte sie in der Weihnachtsnacht das Licht der Welt. Liszt jedenfalls bescherte das Werk eine klingende Familienzusammenführung mit Tochter und Enkeltochter. Die ersten beiden Nummern gehen auf alte deutsche Weihnachtslieder zurück. Psallite, das erste Lied, wird dem Wolfenbüttler Kapellmeister Michael Praetorius zugeschrieben, der es 1609 in seinem Sammelwerk Musæ Sioniæ veröffentlicht hat. O heilige Nacht, voll himmlischer Pracht findet sich im alten lutherischen Gesangbuch. Das dritte Lied, Die Hirten an der Krippe, folgt der bekannten Melodie In dulci jubilo („In süßer Freude“) eines aus dem 15. Jahrhundert stammenden Kirchenlieds. Die weiche Tonart Des-Dur sowie der sanfte Rhythmus des Wiegenlieds verweisen auf die Tradition des tröstlich-unschuldigen Kindleinwiegens, während im folgenden Lied der Marsch der drei Weisen aus dem Morgenlande nach Bethlehem ins Bild gesetzt wird. Die sechste Nummer trägt die französische Bezeichnung Carillon, Glockenspiel. Sein Name ist von „quatrillionem“ abgeleitet, dem rhythmischen Anschlag von vier Glocken, wie er bereits von Turmwächtern im 14. Jahrhundert praktiziert wurde. Liszt verleiht dieser Nummer einen geradezu impressionistischen Hauch mit einer unverkennbaren Freude am Spiel. Die letzten drei Lieder berühren Liszts persönliche Erinnerungssphäre und führen zurück zu den Anfängen seiner Liebe zu Carolyne von Sayn-Wittgenstein. Zumindest ruft Ehemals, in seiner Atmosphäre verwandt mit Liszts Valses oubliées, das erste Treffen mit ihr wach, bevor mit der Bezeichnung Ungarisch das Portrait Liszts gezeichnet und mit Polnisch der Herkunft der Fürstin aus einer alten polnischen Adelsfamilie gedacht wird. Dass Liszt am Ende des Werks den Fokus wieder auf die Liebenden richtet, macht den Ursprung einer erfüllten, sich reproduzierenden Familie sichtbar: Es ist die Nähe zweier 6


Die Weisen aus dem Morgenlande

Menschen, aus der das weihnachtliche Wunder fassbar wird, die Geburt eines neuen Lebens, das auch die Eltern wieder in die Sphäre eines spielenden Kindes versetzt. Das gemeinsame Erleben dieser beglückenden Erfahrung bleibt Liszt und der Fürstin verwehrt. Und auch in Liszts „Bayreuther Familie“ nimmt das wohlige Eintauchen in ein intaktes Familienleben spürbar ab, je mehr sich eine allgemeine Sprach­ losigkeit verbreitet. Liszt, der im November 1882 nach Venedig reist, um zwei Monate mit Cosima, ihrem Mann und den Kindern zu verbringen, hält in der Lagunenstadt fest: „Hier im Palazzo Vendramin setzt sich das friedvolle und sehr innige Familienleben fort, ohne Monotonie. Aber von den Dingen, die mich am meisten berühren, kann ich nur unbeholfen sprechen. Also besser, ich sage gar nichts.“ Wagner und Liszt, die sich seit vielen Jahrzehnten kennen, umkreisen einander, dazwischen die verzweifelte Cosima, die eine bezeichnende Szene am 2. Dezember 1882 wiedergibt: „Vor dem Abendbrot hatte R. eine kleine Komposition von meinem Vater vorgenommen aus dem ‚Weihn[achts]Baum‘, und wie ich ihn bitte, ihm selbst seine Bemerkung darüber zu machen, sagt er: Das würde grausam sein.“ Die künstlerische, aber auch menschliche Entfremdung zweier ehemals nahestehender Komponisten lässt sich im Winter 1882/83 nicht mehr auflösen. Auf ihrer Kehrseite sind allerdings noch Reste einer stillschweigenden Anerkennung sichtbar, Spuren gegenseitigen Respekts. Beide, Schwiegervater und Schwiegersohn, treibt die Erinnerung dahin: Wo Sprache aufhört, fängt Musik an – so unterschiedlich sie auch klingen mag.

André Podschun studierte Musikwissenschaften in Berlin und arbeitete als Dramaturg und Redakteur bei den Salzburger Festspielen und bei John Neumeiers Hamburg Ballett. Seit 2015 ist er Dramaturg der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Er verfasste zahlreiche Programmheftbeiträge, u.a. für das Lucerne Festival, das Konzerthaus Berlin und das Philharmonische Staatsorchester Hamburg.


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Kinderspiele, Märchenbilder Zu den Werken von Bizet und Ravel Pa ul T ho m ason

Am 24. Mai 1861 hielt sich Franz Liszt in Paris auf und aß zu Abend im Hause Fromental Halévys, des heute vor allem für seine Oper La Juive bekannten Komponisten. Nach dem Essen spielte er am Klavier eine neue Komposition, die so außer­ordentlich schwierig war, dass er anschließend erklärte: „Ich kenne nur zwei Pianisten in Europa, die dieses Stück so wie es dasteht und im richtigen Tempo spielen können – Hans von Bülow und ich.“ Halévy wandte sich an einen der anderen Gäste, spielte einige Noten aus einem bestimmten Abschnitt des Werks und fragte: „Erinnern Sie sich an diese Stelle?“ Der junge Mann setzte sich ans Klavier und spielte den betreffenden Abschnitt nach einmaligem Hören aus dem Gedächtnis nach. Liszt, beeindruckt, stellte das Manuskript des Stücks aufs Klavier und der Gast spielte es ohne zu zögern fehlerfrei. „Ich habe mich geirrt“, erklärte Liszt. „Es gibt drei von uns, die den Schwierigkeiten dieses Stücks gewachsen sind. Und gerechterweise sollte ich hinzufügen, dass der Jüngste dieser drei vielleicht der kühnste und brillanteste ist.“ Dieser brillante 23-Jährige war Georges Bizet. Es besteht kein Zweifel, dass er als reisender Virtuose eine glänzende Karriere hätte machen können und damit zu Ruhm und Reichtum gekommen wäre. Doch wie ein Freund bemerkte: „Er unternahm ebenso große Anstrengungen, seine Fähigkeiten am Klavier zu verbergen, wie andere es tun, um die ihrigen zur Schau zu stellen.“ In einem Brief erklärte Bizet: „Nichts auf der Welt könnte mich dazu bringen, öffentlich aufzutreten. Der Beruf des Interpreten ist mir zuwider.“ Doch seine Weigerung, Konzerte zu geben, hatte für Bizet zur Folge, dass er sich oft in finanziellen Schwierigkeiten fand und seinen Lebensunterhalt mehr schlecht als recht mit Unterrichten verdiente (was er meist ebenso hasste) oder Brotarbeit verrichtete wie das Arrangieren von Opernklavierauszügen für verschiedene Musikverleger. Angesichts seiner 9


Ein Meisterwerk aus zwölf Miniaturen

Liebe zum Klavier und der Tatsache, dass er sich seine virtuosen Fähigkeiten zeitlebens bewahrte, überrascht es, dass er so wenig für das Instrument komponiert hat.Vieles von dem, was er schrieb, war für Amateurpianisten zu schwierig, und den traditionellen solistischen Formen wie etwa der Sonate widmete er sich gar nicht erst. Doch seine letzte Komposition für Klavier war ein Meisterwerk: die zwölf vierhändigen Miniaturen Jeux d’enfants („Kinderspiele“) von 1871. Jedes der Stücke ist perfekt ausbalanciert: nichts gerät zu lang, jede Note hat Anteil an Farbe und Textur, ohne je gekünstelt oder affektiert zu wirken. Insgesamt betrachtet ist Jeux d’enfants von geradezu Mozart’scher Vollendung – „ein wunderbares Beispiel für höchste Raffinesse im Dienst scheinbarer Naivität“, wie es der Musikwissenschaftler Hugh Macdonald formulierte. Ursprünglich hatte Bizet zehn Stücke geschrieben; die Nummern 7 und 8 („Seifenblasen – Rondino“ und „Bäumchen, wechsle dich – Esquisse“) kamen erst kurz vor der Druckveröffentlichung hinzu. Es ist durchaus denkbar, dass der Verleger Durand mit Blick auf die Vermarktung der Noten bei einigen der individuellen Titel seine Hand im Spiel hatte. In Bizets Manuskript erscheinen sie in der gleichen Größe wie die Gattungsbezeichungen, in der Erst­ ausgabe wurden die Gattungsbezeichnungen jedoch viel kleiner gedruckt. Als Bizet später fünf der Nummern für Orchester instrumentierte und sie als Petite Suite zusammenstellte, verzichtete er ganz auf die Titel, da sie ihm „zu kindisch“ erschienen. Sie zu betonen (wie etwa „Das Karussel“ oder „Bockspringen“) und dagegen die allgemeinen Bezeihnungen (wie Scherzo oder Caprice) in den Hintergrund zu stellen, verzerrt den Blick auf die Musik, wie Egon Voss in seinem Vorwort zur Partitur feststellt. Die Titel, so schreibt er, verleihen den Stücken „eine[n] Beigeschmack aus Infantilismus, Gartenlaube und dementsprechender Salonmusik, der gänzlich unangemessen ist. Es handelt sich weder um Musik für Kinder noch um kindliche Musik.“

Ähnliches ließe sich von Ravels Ma Mère l’Oye („Mutter Gans“) sagen, obgleich es den Untertitel „Fünf Stücke für Kinder“ trägt. Ravel hatte ein besonders enges 10


Verhältnis zu Kindern und fühlte sich in ihrere Gegenwart oft wohler als unter Erwachsenen. Das mag an seiner physisch kleinen Statur gelegen haben, vielleicht zog ihn aber auch das natürlich direkte Wesen und die Spontaneität von Kindern an. Doch jedesmal, wenn Ravel sich musikalisch von der kindlichen Sicht auf die Welt inspirieren ließ, entspringt sie aus der Erinnerung. Die Welt, die uns in Ma Mère l’Oye oder in seiner zauberhaften Oper L’Enfant et les sortilèges entgegentritt, ist gefärbt vom erwachsenen Blick auf etwas Kostbares, das verlorengegangen ist. „[Der] seltsame Märchenton, der gläserne Phantasiebrücken baut zwischen Leben und Einbildung, der das Raffinierte mit dem Naiven zu versöhnen versteht, wie sonst vielleicht nur der dänische Dichter Hans Christian Andersen, Ravel hat ihn wieder und wieder gefunden“, schreibt Hans Heinz Stuckenschmidt in seiner Ravel-Biographie. Ma Mère l’Oye ist Jean und Mimie Godebski gewidmet, den Kindern von Ravels engen Freunden Ida und Cipa Godebski, um die er sich (gemeinsam mit ihrem englischen Kindermädchen) im Sommer 1908 kümmerte, während die Eltern auf Reisen waren. Offenbar schrieb er das erste Stück zu dieser Zeit, die übrigen vier folgten jedoch erst 1910. Jahre später erinnerte sich Mimie: „Ravel erzählte mir stets wundervolle Geschichten. Ich saß auf seinem Schoß, und unermüdlich begann er mit ‚Es war einmal…‘ Laideronnette, die Schöne und das Tier und vor allem die Abenteuer der armen Maus waren es, die er sich für mich ausdachte.“ Der Komponist hatte gehofft, dass Mimie und ihr Bruder das Stück erstaufführen würden, doch „diese Vorstellung ließ es mir kalt den Rücken hinunterlaufen“, erinnerte sie sich. „Trotz der Unterrichtsstunden bei Ravel war ich wie gelähmt, so dass die Idee fallengelassen wurde.“ Das Werk erlebte seine Premiere im ersten Konzert der Societé musicale indépendante am 20. April 1910, mit der elfjährigen Jeanne Leleu (der späteren „Prix de Rome“-Preisträgerin und Professorin am Konservatorium) und der 14-jährigen Geneviève Durony. Der Titel der Suite geht zurück auf Charles Perrault, dessen Werk auch die Überschriften für die ersten beiden Stücke lieferte: Pavane de la Belle au bois dormant („Dorn­ röschens Pavane“) und Petit Poucet („Der kleine Däumling“). In den Noten der zweiten Nummer fügte Ravel einen kurzen Abschnitt aus Perraults Geschichte ein: „Er hatte, wo auch immer sie gegangen waren, Brot ausgestreut, und nun 11


glaubte er, auf diese Weise leicht den Weg wieder finden zu können. Aber dann war er doch sehr überrascht, als er auch nicht ein einziges Krümchen mehr entdecken konnte. Die Vögel waren herbeigeflogen und hatten alles aufgefressen.“ Dieser Gedanke des Wanderns wird musikalisch zum Ausdruck gebracht durch wie ziellos in wechselnden Taktarten dahinlaufende Achtelketten. Laideronnette, Impératrice des Pagodes („Laideronnette, Kaiserin der Pagoden“) basiert auf der Erzählung Die grüne Schlange von Madame d’Aulnoy. In der Geschichte wird eine Prinzessin durch einen Zauberspruch zur Hässlichkeit verdammt, bis sie sich mit einer großen grünen Schlange vermählt – woraufhin sie sich in eine Schönheit verwandelt und aus der Schlange ein wohlgestalter Prinz wird. Die Text­passage, die Ravel in den Noten zitiert, beschreibt Laideronnette, wie sie im Bad von spielzeuggroßen Diene­ rinnen und Dienern mit Musik unterhalten wird. „Einige hatten Theorben, die aus Nusschalen, andere Gamben, die aus Mandelschalen gemacht waren, denn die Instrumente mußten die für sie passende Größe haben.“ Der Gedanke der Verwandlung vom Hässlichen ins Schöne spielt eine ebenso zentrale Rolle im vierten Stück, Les Entretiens de la Belle et de la Bête („Gespräche zwischen der Schönen und dem Tier“) nach der Geschichte von Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. Der Beginn dieser Nummer als langsamer, ausdrucksvoller Walzer erinnert so sehr an Eric Saties Gymnopédies, dass Ravel verschmitzt bemerkte, Satie sei ihr „grand-papa“. Dem eleganten Walzer der Schönen ist das Fauchen des Tieres in der Basslinie gegenübergestellt, das immer eindringlicher wird, bis die Schöne in einem rauschenden Glissando ihren Widerstand aufgibt – und alles in Schönheit endet. Das Werk schließt mit Le Jardin féerique („Der Feengarten“), einer eigenen Erfindung Ravels. Nach einem Beginn von beinahe choralartiger Feierlichkeit nimmt die Musik immer ekstatischere Züge an, und es entsteht in Tönen das Bild eines im wahrsten Sinne wundervollen, Eden-gleichen Ortes.

Übersetzung: Philipp Brieler

Paul Thomason schreibt für zahlreiche Opernhäuser, Symphonieorchester und Kulturinstitutionen in Europa und den USA. Er lebt in New York.

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Christmas Songs and Children’s Tales Piano Music for Four Hands by Liszt, Bizet, and Ravel Paul T ho mason

In the 19th century—before the advent of recordings, radio and television—music was a local event. People played instruments or sang at home and in local groups. There were concerts by professional musicians, but most people who wanted to hear music, especially those who lived outside major cities, made it themselves. As the middle class grew and became more affluent, the almost ubiquitous piano was often a family’s prized possession. Children taking lessons was a sign they were well-bred and the family was a solid member of the community. Piano duets became increasingly popular, not only because two players could perform at once, but also four hands playing the piano rather than two gave the instrument richer sonorities. While some composers wrote original music for piano duets (Schubert excelled in the genre) there was a huge market for piano transcriptions of orchestral music and operatic numbers. Many people who never heard a professional orchestra play a Beethoven symphony knew the music in its piano duet form. One of the composers who fed this appetite for music-­ making was Franz Liszt, who wrote hundreds of pieces for piano. Some of it was music of staggering technical difficulty, works with which he dazzled his own audiences. But some, like his Weihnachtsbaum (“Christmas Tree”), was for family music-making, and Liszt designed a few of its 12 numbers so that even a younger child could play them, and shine at a family holiday gathering. The piece, written and revised between 1874 and 1881, is dedicated to Liszt’s first grandchild, Daniela von Bülow. Born in 1860, she was the daughter of Liszt’s star pupil, the 14


famous conductor and pianist Hans von Bülow, and Liszt’s second daughter Cosima, who left her husband for Richard Wagner when Daniela was a child. According to Cosima’s biographer Oliver Hilmes, Daniela was a brilliant pianist, but there was no question of her utilizing her gifts professionally: “Cosima could not imagine her daughters receiving a professional training or pursuing an artistic career, however obvious such a calling might have been. ‘I do not consider it possible for a woman to live a public life and at the same time fulfill her feminine duties,’” he quotes her saying. But Daniela did play the first performance of Weihnachts­baum in a hotel room in Rome as a present for her grandfather on Christmas Day, 1881. Its first nine numbers are either settings of various Christmas songs or depict things relating to the holiday, like the fifth piece, “Scherzoso—Lighting the Christmas Tree,” and numbers six and nine, “Carillon” and “Evening Bells.” The last three are secular and believed to be more personal for Liszt: the waltz “Ehemals” (Old Times) recalls the first meeting of Liszt (number 11, “Hungarian”) and his companion Princess Carolyne von Sayn-Wittgenstein (number 12, “Polish”). The composer created the enchanting piece in both solo and piano duet versions and later scored the second number (“O Holy Night!”) for tenor solo, female chorus, and organ. After his death others have arranged parts of the work for a variety of instruments, even for an entire orchestra.

On May 24, 1861, Liszt was in Paris and had dinner at the home of Fromental Halévy, a composer primarily known today for his opera La Juive. After dinner Liszt played a new piece he had written that was of such enormous difficulty that when he finished he declared, “I know only two pianists in Europe capable of playing it as it is written and at the proper tempo—Hans von Bülow and myself.” Halévy turned to one of the other guests, played a few notes from a section of the work and asked, “Did you notice this section?” The young man sat down and played the section perfectly from memory having only heard it once. Impressed, Liszt put the manuscript of the work on the piano and the guest promptly played it flawlessly. “I was wrong,” Liszt declared. “There are three of us who can surmount the difficulties of 15


A brilliant young pianist

this work. And to be fair I should add that the youngest of the three is perhaps the boldest and the most brilliant.” That brilliant 23-year-old was Georges Bizet. There is no doubt that he could have had a spectacular career as a touring virtuoso, reaping enormous fame and money, but, as a friend explained, “He took as much pains to conceal his prowess at the piano as others take to show off theirs.” In a letter Bizet declared, “Nothing in the world would make me decide to play in public. I find the profession of performer odious!” But refusing to play public concerts meant Bizet was often in financial difficulties, scrapping a living by giving lessons (which he often hated) and doing hack work, like making piano reductions of operatic scores for various publishers. Given his love of the piano, and the fact that he maintained his prowess at the keyboard throughout his life, it is surprising he composed so little for it. Much of it was too difficult for the amateur pianists, and he never explored many of the traditional forms for piano solo like the sonata. But his last work for the instrument was a masterpiece: the 12 miniatures for piano duet Jeux d’enfants (“Children’s Games”), written in 1871. Each of the pieces is meticulously judged: nothing lasts too long, every note adds just the right amount of color or texture, without in any way being precious or affected. Taken as a whole Jeux d’enfants is Mozartian in its perfection­ —“A fine example of high sophistication in the service of apparent naivety,” as Hugh Macdonald described the work. Originally Bizet composed ten pieces; numbers 7 and 8 (“Soap Bubbles—Rondino” and “Puss in the Corner— Esquisse”) were added during preparation for publication. It is possible that the publisher Durand, with an eye to marketing the music, had a hand in at least some of the individual titles. In Bizet’s manuscript, they are the same size as the generic labels, but in the first edition the labels appear much smaller. When Bizet orchestrated five of the numbers and put them together for his Petite Suite, he suppressed the titles altogether as being “too childish.” Emphasizing them (like “The Merry-Go-Round” or “Leap Frog”) at the expense of the generic headings (Scherzo, Caprice) leads to a distorted view of the music, as Egon Voss points out in his preface to the score: “They give the pieces an after-taste of infantilism, garden bowers and, by association, salon music.Yet this music is neither for children, nor is it childish.”


The same sentiment could be applied to Maurice Ravel’s Ma Mère l’Oye (“Mother Goose”), even though it is subtitled “Five Pieces for Children.” Ravel had a special affinity for children, often finding their company more congenial than that of adults. Perhaps it was his small physical size. Perhaps it was the natural directness and spontaneity of children that appealed to him. But when Ravel was inspired by the worldview of a child it is always one that is remembered: the world we encounter in Ma Mère l’Oye or in his enchanting opera L’Enfant et les sortilèges is one tinged with an adult sense of something precious that has been lost. “Ravel succeeded again and again, as perhaps no one else has but the Danish poet Hans Christian Andersen, in finding the rare language of fairy tales to build insubstantial bridges of fantasy between reality and imagination, and in understanding how to reconcile the highly sophisticated with the most naïve,” writes the composer’s biographer Hans Heinz Stuckenschmidt. Ma Mère l’Oye is dedicated to Jean and Mimie Godebski, the children of Ravel’s good friends Ida and Cipa Godebski, whom he looked after (along with their English governess) during the summer of 1908 while their parents were away. Apparently the first piece was composed at that time, but the remaining four were not written until 1910.Years later Mimie remembered, “Ravel used to tell me marvelous stories. I would sit on his knee and indefatigably he would begin ‘Once upon a time…’ And it was Laideronnette, Beauty and the Beast and above all the adventures of a poor mouse he had made up for me.” The composer hoped Mimie and her brother would give the first performance, but “the idea filled me with cold terror,” she recalled. “Despite lessons from Ravel I used to freeze to such an extent that the idea had to be abandoned.” The work premiered at the first concert given by the Société Musicale Indépendante on April 20, 1910 when it was played by 11-year-old Jeanne Leleu (later Prix de Rome winner and a professor at the Conservatoire) and Geneviève Durony, who was 14. The suite takes its title from Charles Perrault, whose work also contributed headings to the first two pieces, “Pavane de la Belle au bois dormant” (Sleeping Beauty’s Pavane) and “Petit Poucet” (Tom Thumb). In the score for the second piece, Ravel included a quote from Perrault’s 17


Fairy-tale pictures

story: “He thought he would be able to find the path easily by means of the bread he had strewn wherever he walked. But he was quite surprised when he was unable to find a single crumb; the birds had come and eaten them all.” This sense of wandering is conveyed by the lines of meandering eighth notes in shifting meter. “Laideronnette, Impératrice des Pagodes” (Laideronnette, Empress of the Pagodas, sometimes translated as Ugly Princess of the Pagodas) is based on the story The Green Serpent by the Countess d’Aulnoy, in which a princess is cursed with ugliness until she marries a large green snake – after which she is transformed into a beauty and the snake becomes a handsome prince. The quotation Ravel uses in the score describes Laideronnette in her bath being serenaded by “toy mandarins and mandarinesses… Some had theorbos made from walnut shells, some had viols made from almond shells; for the instruments had to be of a size appropriate to their own.” The idea of love transforming ugliness into beauty is also central to the fourth piece, “Les Entretiens de la Belle et de la Bête“ (Conversations of Beauty and the Beast), based on the story by Jeanne-Marie Leprince de Beaumont. The beginning of the number with its slow, expressive waltz is so suggestive of Erik Satie’s Gymnopédies that Ravel, perhaps impishly, said Satie was its “grand-papa.” But Beauty’s elegant waltz is confronted by the Beast’s growling in the bass line, which becomes more and more insistent until Beauty surrenders in a sweeping glissando—after which everything turns beautiful. The work concludes with “Le Jardin féerique” (The Fairy Garden), an idea of Ravel’s own. Beginning with almost hymn-like solemnity, it grows increasingly ecstatic, painting a picture in sound of a truly wondrous, Edenic place.

Paul Thomason writes for numerous opera companies, symphony orchestras, and cultural institutions in the U.S. and Europe. He is based in New York City.

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