Michael Wendeberg EinfĂźhrungstext von Johannes Knapp Program Note by Paul Griffiths
Michael Wendeberg Sämtliche Klavierwerke von Pierre Boulez zum Geburtstag des Komponisten
Montag
26. März 2018 19.30 Uhr
Michael Wendeberg Klavier
Pierre Boulez (1925 –2016) Douze Notations (1945) I. Fantasque – Modéré II. Très vif III. Assez lent IV. Rythmique V. Doux et improvisé VI. Rapide VII. Hiératique VIII. Modéré jusqu’à très vif IX. Lointain – Calme X. Mécanique et très sec XI. Scintillant XII. Lent – Puissant et âpre Première Sonate (1946/1949) I. Lent II. Assez large Deuxième Sonate (1946 –48) I. Extrêmement rapide II. Lent III. Modéré, presque vif IV. Très librement, avec de brusques oppositions de mouvement et de nuances Pause Troisième Sonate (1955–57) Formant 3: Constellation-Miroir Mélange points et blocs – Points 3 – Blocs II – Points 2 – Blocs I – Points 1 Formant 2: Trope Texte – Parenthèse – Glose – Commentaire Incises (1994/2001)
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Instrument des Deliriums Die Klavierwerke von Pierre Boulez
Jo ha nne s Knapp
Wie es in bourgeoisen Kreisen üblich ist, spielt der kleine Pierre Klavier. Die Provinzstadt Montbrison an der Loire, wo er am 26. März 1925 zur Welt kommt und in einer fünfköpfigen Familie aufwächst, ist ein verschlafenes Nest. Dem musikaffinen Sprössling bietet sich dennoch manch eine Gelegenheit: Im Chor einer Jesuitenschule lernt er unter anderem Bach und Josquin des Prez kennen, mit älteren Gleichgesinnten spielt er klassische Kammermusik. Seine Neugierde auf die Moderne ist groß: Am Radioempfänger, den der Vater, technischer Direktor einer Stahlfabrik, von einer USA-Dienstreise mitbringt, lauscht er Werken von Arthur Honegger sowie Strawinskys Chant de Rossignol. Seine Klavierlehrerin gibt ihm Debussy und Ravel zu üben. In Lyon, wo er ab 1941 nach dem Willen des Vaters Mathematik studiert und aus eigenem Antrieb Unterricht in Klavier und Harmonielehre nimmt, geht er erstmals in die Oper und ins Symphoniekonzert. Eines Tages stößt er auf ein Buch zur jüngeren Musikgeschichte, in dem er den Namen Schönberg liest. Frühe, bis heute unter Verschluss gehaltene Kompositionen entstehen: eine Berceuse für Violine und Klavier,Vertonungen von Rilke und Baudelaire, sowie impressionistisch angehauchte Klavierstücke. 18 Jahre alt, zieht er im September 1943 nach Paris. Musiker will er werden. Am Konservatorium tritt er zur Aufnahmeprüfung im Hauptfach Klavier an – und scheitert. Seiner Berufung ist er sich dennoch sicher: Zunächst zum Harmonielehrestudium in der Klasse eines gewissen Herrn Dandelot zugelassen, der ihm schon nach vier Monaten nichts mehr beibringen kann, nimmt er Privatstunden in Kontrapunkt bei Andrée Vaurabourg, der Frau Arthur 5
„Pierre Boulez mag moderne Musik, möchte Stunden bei mir haben…“
oneggers. Im Frühsommer 1944, kurz vor dem Ende der H „schwarzen Jahre“ der deutschen Besetzung Frankreichs, begegnet er Olivier Messiaen, der in sein Tagebuch notiert: „Pierre Boulez mag moderne Musik, möchte Stunden in Harmonielehre etc. bei mir haben.“ Messiaen vermittelt in seinem Unterricht, der auf Boulez elektrisierend wirkt, ein tiefgreifendes Verständnis für die historische Entwicklung der Harmonik von Monteverdi bis zur Moderne. In privatem Rahmen werden Partituren von Strawinsky, Debussy, Ravel und Bartók analysiert. Des Weiteren bekommt Boulez erstmals außereuropäische Musik zu Gehör. Das alles stimuliert seine Vorstellungskraft, erweitert seinen Horizont, weckt seinen kritischen Geist und schult sein inneres Ohr. Was die Zwölftontechnik anbelangt, ist René Leibowitz, der sich während der deutschen Okkupation im Untergrund für die von den Nazis verbotene Musik der Zweiten Wiener Schule eingesetzt, die erste Anlaufstelle. Für Boulez, der bei Leibowitz private Analysestunden nimmt, kommt Schönbergs Lehre von der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen der Entdeckung eines neuen Universum gleich. Bald aber regt sich in ihm der Unmut gegen die Leibowitzsche „Zwölftonzählerei“, mit der, wie er feststellt, die Tragweite der Errungenschaften von Schönberg und Webern nicht ausgelotet werden kann. Grundsteinlegung: Die Notations Sein offizielles Opus 1, das Boulez gegen Ende des Jahres 1945 zu Papier bringt, erweckt den Eindruck einer subtilen Parodie auf das bei Leibowitz Erlernte: zwölf Stücke, die aus je zwölf Takten bestehen und hinsichtlich ihres Tonvorrats auf einer Zwölftonreihe basieren. Ihre Töne permutiert Boulez zirkulär, so dass die Stücke nacheinander auf dem jeweils nächsten Ton der Reihe einsetzen. Innerhalb dieses Koordinatensystems, das sich der Hörwahrnehmung entzieht, legt Boulez den Grundstein für eine neue Sprache. Die zwölf geschliffenen Klangkristalle, die in ihrer Gesamtheit kaum zehn Minuten dauern, sind jedoch keine Creatio ex nihilo, sondern erwachsen einer virtuosen Konfrontation und Verschmelzung disparater Einflüsse. Hinter dem launenhaften Gestus von Notation I mit ihrer Debussyschen Charakterbezeichnung „fantasque“ (wunderlich) steht die Vorliebe des 20-Jährigen für blitzartige Klang ereignisse. Während sich im zweiten Stück Strawinsky zu
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erkennen gibt, dessen Sacre du printemps Boulez in Messiaens Unterricht bis in die letzten Verästelungen analysiert, ist die Phrasierung im dritten viel freier, geradezu romantisch. Die vierte Miniatur kann ihre Prägung durch Messiaen nicht verleugnen. Ganz ungezwungen und klangsinnlich ist das fünfte Stück („sanft und improvisiert“), gefolgt von einem über die gesamte Klaviatur rasenden Kanon. Die Nummern VII und VIII sind der Inbegriff von Boulez’ Aufgeschlossenheit gegenüber dem Neuen und Fremden: Im Pariser Musée Guimet hört er 1945 ethnologische Aufnahmen, insbesondere aus Südostasien, und im Musée de l’Homme studiert er afrikanische Musik. So geht das schwebende siebte Stück auf ein fernöstliches Klagelied zurück, in dem eine Frau den Tod ihres ertrunkenen Kindes beweint, wohingegen das achte Stück von afrikanischen Marimba- Rhythmen inspiriert ist. Die Nummern IX und XI spiegeln sich in den Klanggewässern Debussys. Dazwischen gibt sich das zehnte Stück ausgesprochen streng. Kurz in der Dauer und reich im Inhalt, gipfelt der Zyklus in einer ebenso dämonischen wie prachtvollen Schlussapotheose. Einer Grund steinlegung kommen die Notations auch insofern gleich, als Boulez fünf der Miniaturen zwischen 1978 und 2004 als „Keimzellen“ für großzügige Orchesterwerke dienen. Unmittelbarer Ausdruckswille: Die erste Sonate Auf größeres Terrain wagt sich Boulez im Frühjahr 1946, als er seine zweisätzige Klaviersonate in Angriff nimmt. Den Ausgangspunkt des Kopfsatzes bilden fünf sukzessiv exponierte Töne. Indem das Pedal niedergetreten wird und die Saiten aufgrund der angehobenen Dämpfer frei schwingen, werden sie zu einem Akkord aufgefächert. Dann, im Crescendo, vier absteigende Noten. Der Hammer schlägt kraftvoll auf die Saite: kurzer, trockener Klavierklang – Stille. Zunächst herrschen schwebende Klänge, Arabesken und improvisatorische Gesten vor, die mit dem einleitenden Motiv verwandt sind. Dann folgt unvermittelt ein Abschnitt von gleichbleibenden Notenwerten; das Tempo ist hastig, die Textur zerstückelt. Der Kontrast zwischen den grundverschiedenen thematischen Gebilden – Relikte der Sonaten hauptsatzform – erleichtert die Orientierung: hier eher leichte hüpfende Figuren ohne Puls und in gemäßigtem Tempo, dort plötzliche Explosionen, donnernde Lawinen und speiende Geysire. 7
Dieses Prinzip wird im zweiten Satz, einem Wechselbad zweier unterschiedlicher energetischer Zustände, auf die Spitze getrieben. Es ist. Die beiden thematischen Zellen werden ausgedehnt und verkürzt, verschränkt und kontrapunktisch überlagert, bis sie ihre Identität in der Hörwahrnehmung vollständig verlieren. Man spürt den Drang des jungen Komponisten, sich auszudrücken – so direkt wie möglich und ohne romantische Sentimentalität. Dem von Leibowitz gepredigten Diktum, wonach stets alle zwölf Töne erklungen sein müssen, bevor auch nur einer wiederholt wird, begegnet Boulez in seiner ersten Sonate mit lausbübischer Nonchalance. Als Boulez das Manuskript im Juni 1946 seinem Lehrer zeigt, zückt dieser den Rotstift. Boulez platzt der Kragen. Die Widmung „à René Leibowitz“, die die Noten ziert, lässt Boulez in der 1949 revidierten und zwei Jahre später veröffentlichten Fassung ersatzlos weg. Insofern markiert der Sonatenerstling das Ende seiner kurzen aber intensiven Lehrzeit. Klangzerstäubung: Die zweite Sonate
Die klassischen Formen ins Feuer werfen
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„Obwohl sie die klassischen Formen mit voller Absicht ins Feuer wirft, besitzt sie selber eine zwingende Form“, so Boulez über seine zweite Sonate, die zwischen 1946 und 1948 entsteht. Während er in seiner ersten Sonate eine neuartige Gestik sucht, überwindet er mit der zweiten das klassische Sonatenmodell und andere Formarchetypen durch deren Aneignung und Destruktion. Die Architektur des Kopfsatzes lässt die Sonatenhauptsatzform erkennen: eine erste Textur (Hauptthema), bestehend aus hastigen motivischen Zellen, riesigen Intervallsprüngen und rasanten auf- und absteigenden Phrasen, dann eine zweite aus homophonen Blöcken (Seitenthema). Beide Texturen werden, wie es sich für eine Durchführung gehört, einer umfangreichen Verarbeitung unterzogen. Thematische Motive lösen sich in athematische Gebilde auf. Zum Schluss die Idee einer Reprise: aus aufeinandergestapelten motivischen Einheiten resultieren Blöcke – eine Verschmelzung der eingangs vorgefundenen Gegensätze. Einen weiten Bogen spannt der langsame zweite Satz. Boulez greift hier auf die mittelalterliche Schreibweise des Tropus zurück, die er in der dritten Sonate zu höchster Meisterschaft bringen wird. Dabei handelt es sich ursprünglich um einen komplex ausgeschmückten Gesang, der einst
als Erweiterung in Gregorianische Messgesänge eingeschoben wurde. Nachdem die zunächst von Pausen durchsetzte Musik ihre größte Dichte erreicht hat, schließt sich der Kreis zum Anfang, der rückläufig erklingt. Der scherzohafte dritte Satz mit seinen drei Trios trägt im Vergleich zu den anderen fast naive Züge, was sich dadurch erklären lässt, dass Boulez ihn bereits 1946, geraume Zeit vor der Entstehung der anderen Sätze, als eigenständiges Stück konzipiert hat, mit dem bezeichnenden Titel Variations-Rondeau. Als „Instrument des Deliriums“ (Boulez) entpuppt sich das Klavier im Finalsatz, mit dem sich Boulez von tradierten Formen endgültig lossagt: Nach einer kurzen Introduktion erklingt zunächst noch ein Fugato. Mit diesem nimmt Boulez auf Beethovens „Hammerklavier“-Sonate ebenso Bezug wie mit dem omnipräsenten Triller, der bereits im Kopfsatz aufgetaucht ist (auf dem Ton B, umspielt von den Tönen A, C und H…). Es folgt ein schneller rondoartiger Teil. Hier mündet die motivische Arbeit in Raserei: „sehr abgehackt“, „viel schroffer“, „immer zerhackter und brutaler“ und ähnlich lauten die Vortragsanweisungen. Bis zur Unkenntlichkeit werden die Motive zersplittert und „zerstäubt“ („pulvériser le son“). Dies geschieht durch einen äußerst kurzen, trockenen Anschlag der auf der gesamten Klaviatur verstreuten Töne. Der Coda ist die Erschöpfung anzumerken. Entdeckung der offenen Form: Die dritte Sonate Unter dem Titel „Œuvre: Fragment“ gewährte eine Ausstellung im Louvre 2008 Einblicke ins schöpferische Universum von Boulez. Auf seinen persönlichen Wunsch war die erste Station beim Gang durchs Museum eine literarische: Korrekturfahnen eines Gedichts in freien Versen, die keinem linearen Verlauf folgen, sondern über die Seiten verteilt sind. Es handelte sich um Stéphane Mallarmés 1897 vollendete typografische Dichtung Un Coup de dés jamais n’abolira le hasard („Ein Würfelwurf niemals tilgt den Zufall“). Ihm, dem Zufall, gilt Mallarmés Verachtung, doch in dem Wissen, dass es vergeblich wäre, ihn aus der Lyrik zu verbannen, bezieht er ihn als gestalterische Kraft in sie ein, auf diese Weise seiner Herr werdend. Für Boulez kommt die Lektüre in den frühen 50er Jahren einer Offenbarung gleich, da er bei Mallarmé einen Lösungsansatz zu einem Schaffensproblem vorfindet, das ihn vor dem Hintergrund neuer musikalischer Tendenzen umtreibt. 9
John Cage etwa, mit dem Boulez zu jener Zeit einen intensiven Briefwechsel führt, strebt mit Zufallsoperationen wie dem Ziehen von Losen oder dem Werfen einer Münze musikalische Absichtslosigkeit an. Sich sozusagen vor kompositorischer Verantwortung zu drücken, ist Boulez’ Sache nicht. Andererseits aber wächst auch seine Skepsis gegenüber der radikalen Anwendung serieller Kompositionstechniken auf Tonhöhen, Dauern, Lautstärken und sogar Klangfarben (wie im ersten Band seiner Structures für zwei Klaviere von 1952) – zumal die kaum perfekt zu beherrschende Differenziertheit des Notentextes bei der Darbietung ungewollt in Beliebigkeit, in Zufall aus Versehen mündet. In seiner dritten Klaviersonate findet Boulez einen Ausweg aus dem Dilemma und ersinnt eine Form, die entfernt an Calders Mobiles erinnert.Von 1955 bis 1957 konzipiert er fünf Sätze, die er nach einem Begriff aus der Akustik „Formanten“ nennt. Deren Reihenfolge ist um einen fixen dritten Formanten herum variabel. Damit stünden dem Interpreten acht verschiedene Permutationen zur Wahl, hätte Boulez, der die Sonate im Herbst 1957 selbst zur Aufführung bringt, nicht nur zwei Formanten drucken lassen: den zweiten, Trope, und den zentralen dritten, Constellation (-Miroir). Letzterer ist auf neun lose Blätter gedruckt, die man sich nebeneinandergelegt als überdimensional breite Seite vorzustellen hat, auf der die verschiedenen Abschnitte angeordnet sind. Zwei unterschiedliche Strukturen stehen sich gegenüber: diskontinuierliche, transparente Klangpunkte in mittlerer Lautstärke (Points, grün gedruckt) und dichte Klangballungen (Blocs, rot gedruckt) hauptsächlich in extremen Registern. Der Pianist hat nach jedem Abschnitt zu wählen, zu welcher Stelle des Textes er als nächstes geht, wobei die Wahlmöglichkeiten der Verbindung einzelner Abschnitte und Teilabschnitte durch Pfeile angezeigt werden. Diesbezüglich zieht Boulez einen anschaulichen Vergleich, vermutlich an Michel Butors Roman Der Zeitplan denkend: „Das Werk gleicht einer Stadt oder einem Labyrinth. Eine Stadt ist oft auch ein Labyrinth: Man besichtigt sie und wählt dabei seine eigenen Richtungen, seine eigenen Wege, aber natürlich braucht man zum Kennenlernen der Stadt einen genauen Plan und bestimmte Verkehrsregeln.“ Michael Wendeberg stellt den zentralen Formanten, dessen Titel den Schlusszeilen von Mallarmés Gedicht entlehnt ist, an den Anfang seiner heutigen Aufführung und spielt ihn hinsichtlich der Reihenfolge seiner Abschnitte in rückläufiger 10
Nahtloser Anschluss zwischen Ende und Beginn
Form, also nicht als Constellation, sondern als Constellation- Miroir („Spiegelkonstellation“) oder, wie Boulez sagt, als „Zwillingsgestalt seiner selbst“. Es folgt der vierteilige Formant Trope, in dem Boulez ein ähnliches Kompositionsprinzip anwendet wie im zweiten Satz seiner zweiten Sonate, jedoch noch ausgereifter. Er hat die Gestalt eines Ringhefts, der Interpret kann also mit einem beliebigen Teil beginnen und lässt ihm dann die anderen drei folgen. Einmal mehr ist die Literatur Pate der musikalischen Erfindung: James Joyce beginnt Finnegans Wake bekanntlich mitten in einem Satz, dessen Beginn den Schluss des Romans bildet, so dass der Leser nahtlos am Anfang wieder anschließen kann. Incises: Ein Gelegenheitswerk? Einen Freundschaftsdienst erweist Boulez seinen langjährigen Musikerkollegen Maurizio Pollini und Luciano Berio, als er 1994 in ihrem Auftrag ein kurzes Pflichtstück für den Klavierwettbewerb Umberto Micheli komponiert. In der Jury vertreten sind neben Pollini und Berio illustre Persönlichkeiten wie Elliott Carter und Charles Rosen. Die Messlatte ist in Incises dementsprechend hoch gehängt: Aberwitzig schnelle Läufe, heikle Tonrepetitionen, rhythmisch- metrische Komplexität, häufiges Überkreuzen der Hände und delikate, an die französische Klaviermusik des frühen 20. Jahrhunderts erinnernde Arabesken sind charakteristische Merkmale des Stücks. Doch es finden sich auch ruhige Passagen, in denen Boulez dem Ausschwingen der Saiten Raum lässt. Nahe liegt der Gedanke, dass Incises als Auftragswerk eine in sich abgeschlossene Gelegenheitskomposition ist, doch weit gefehlt: Kaum hat der Gewinner des Wettbewerbs das Stück im Preisträgerkonzert dargeboten, liebäugelt Boulez damit, den „Keim wuchern zu lassen“. Zunächst besteht der Plan zu einer Art Klavierkonzert für Pollini, schlussendlich aber schreibt Boulez ein Werk für drei Klaviere, drei Harfen und drei Schlagzeuger: sur Incises erklingt im April 1996 in Basel zum 90. Geburtstag des Musikmäzens Paul Sacher in einer 12-minütigen Urfassung und 1998 in seiner definitiven, rund 40 Minuten langen Version. Damit nicht genug, wird die Musikwelt 2002 mit der Veröffentlichung einer zehnminütigen Version von Incises überrascht, die im heutigen Konzert erklingt. Ihre innere Spannkraft ist im Vergleich zum „Original“ noch größer, 11
und die dazwischenliegende Arbeit am Ensemblewerk ist der neuen Klavierversion anzumerken. Eine freie Einleitung, in denen die sechs Töne Es–A–C–H–E–Re [=D] in Transpositionen mehrmals übereinandergeschichtet erklingen, mündet in ein rasendes Prestissimo, das sich durch blitzartige Einschnitte (französisch „incises“) auszeichnet. Sodann alternieren in einer Art Perpetuum mobile ruhige Abschnitte mit virtuosen. Die abschließende Coda entführt uns in eine dunkel leuchtende Klangwelt. Es ist, als würden die Resonanzen ferne Totenglocken evozieren.
Johannes Knapp, geboren 1990 in Erfurt, studierte Kulturmanagement,Violoncello, Philosophie und Musikwissenschaft. Seit 2013 ist er hauptberuflich als Kulturmanager in der Schweiz tätig, zuletzt als Geschäftsführer der Association Suisse des Musiciens (Lausanne). Zudem wirkt er als Autor für zahlreiche Festivals und Konzertveranstalter.
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Fureur et Mystère The Piano Music of Pierre Boulez
Pa ul Griffit hs
The Young Revolutionary “A percussive piano which is at the same time r emarkably prone to frenzy”: Pierre Boulez’s description of the instrument’s character in Schoenberg’s Drei Klavierstücke Op. 11 could just as well fit his own youthful practice. His early music was a music of objection to the point of violence, in line with the poetics of his favorite writers, Antonin Artaud and René Char (from whose book Fureur et Mystère he chose poems for his first vocal work, Le Visage nuptial). It was Boulez’s discovery of Schoenberg, in the spring of 1945, that made this possible, precipitating an outburst of piano music that had the Viennese master set against the 20-year-old composer’s teacher, Messiaen. When Boulez had joined Messiaen’s class the previous October, Messiaen had just finished his Vingt Regards sur l’enfant-Jésus, which Boulez evidently admired as contradicting classical tonality and meter, and as according with the African music he was studying. The effect can still be heard in his Trois Psalmodies, from the autumn of 1945, and Douze Notations, which followed in November–December. However, Schoenberg was by now giving Boulez the means to contradict the contradiction, and to endow these works with moments of intense drive and fury intermingled with a dislocated lyricism. His style developing rapidly in solidity and range, Boulez withdrew the Psalmodies and lost track of the Notations, which, when they resurfaced in the late 1970s, he set about expanding into orchestral movements while also making the original version available. The work was to remain Boulez’s 14
Creating the First Sonata
earliest in circulation—appropriately, as it offers so many snapshots of his emergent musical personality: resonant sonorities and abrupt gestures, an alternation between suppleness and intense stampede, and, not least, a dialectic between things fixed (stubbornly repeated notes, the returning intervals of a twelve-note row, ostinatos, such recurrent signals as the deep bass drumbeat in Nos. II, IX, and XII) and wildly unstable. Six months later, in March–June 1946, Boulez produced his First Sonata, in two movements. This time he had opportunities to make revisions—first for a radio performance of the opening movement in June 1947, then in 1949 when the work was to be published—and sections that looked unduly thematic or relaxed were excised (though one survives in the latter part of the first movement). These edits reduced each movement to around five minutes in duration and tilted the emphasis further towards two-part counterpoint. At the start a few tiny elements are set in play: a rising minor sixth in equal rhythmic values, an appoggiatura, an isolated note, and a brusque, brilliant arpeggio. What follows, in the slower sections of this first movement, is related to the initial figures, but interrupted and sometimes combined with a stuttering toccata. The second movement also starts slowly with simple chromatic cells, now spread right across the keyboard, but this sort of music is soon extinguished in the tussle between two new and different types: a staccato in almost continuous regular quavers, very fast, and a flexible, supple hazing of lines, in which, Charles Rosen has suggested, the piano becomes a vibraphone (in the other music it is nearer being a cimbalom or xylophone). The Second Sonata, which Boulez completed in 1948, is on a different scale, challenging Beethoven’s “Hammerklavier” in its expanse, its rhetoric, and its fugal finale. Thanks to John Cage, whom Boulez had met in Paris in 1949, the work was published and performed (by David Tudor) in the United States as well as in Europe and did much to establish its composer’s reputation.Yet it is a reluctant monument. Though it makes a parade of traditional forms (sonata allegro, bipartite slow movement, scherzo with three trios, finale with two fugues), these are evoked only to be annihilated. In the composer’s words, “the Second Sonata does have this explosive, disintegrating and dispersive character, and in spite of its own very restricting form the destruction of all these classical moulds was quite deliberate.” 15
Destruction in the opening movement builds on the methods of the First Sonata, especially in how extension from a few cells alternates with their obliteration in dense counterpoint or charges of chords. But now everything is larger, more powerful—not least the fierce chordal onslaughts that reinject the music with energy whenever it shows signs of flagging or reaching a dead end. These bursts strive towards even rhythmic motion, then move up a gear before contrapuntal music returns “rapide et violent.” Points of strained standstill arrive when notes are fixed in register, but the principal character is one of intemperate force. Contrastingly fluid and leisurely, the second movement is interrupted by brief segments going faster or slower, often injected between pauses. (This notion of the musical parenthesis was to be developed in the Third Sonata.) Meanwhile, the basic thread is a palindrome, considerably disguised. In another contrast, the brief third movement, dating from the same period as the First Sonata, is simple, almost playful: four scherzo sections, recognizably related (they are statement, retrograde inversion, restatement, and retrograde), are separated by three trios that vary the same figures. Then the fourth movement is as ramified as the first. Beginning with desperate suggestions around the basic ideas, it plunges into the bass for an ominous serial statement that leads to the first quasi-fugue. This settles into a soft “grisaille sonore,” but soon come motifs hurled out “dans une nuance forte, exasperée.” Another, longer contrapuntal development leads to a climax of vehemence, with such markings as “encore plus violent” and “pulveriser le son.” Finally the music arrives at tranquility, or exhaustion, with the series returning as a sequence of four motifs to be mused upon. The Master If the first two sonatas were the works of a young nknown, the third (1955–57) was written by the internau tionally renowned composer of Le Marteau sans maître (again setting poems by René Char). The serial techniques Boulez had discovered in that work—techniques of endless transformation—had changed his attitude to form. In an essay on the new sonata he reflected on how “definitive, once-and-for-all developments seem no longer appropriate to present-day musical thought … which is increasingly 16
A variety of possible routes
concerned with the investigation of a relative world, a permanent ‘discovering’.” The central image would not be a straight line but a labyrinth. Hence the Third Sonata, designed in five “formants” (not “movements,” because they do not form a sequence but rather might be imagined to bunch together simultaneously, like the formants of a timbre). These were to be played in almost any order as long as the biggest—Constellation, or Constellation-Miroir in its backwards version—comes in the middle. Mutability does not end there, for each of the formants was conceived as a variable entity, with a different kind of variability in each case. Though Boulez seems never to have played his early piano music in public, he introduced this Third Sonata at Darmstadt in 1957 and gave several more performances over the next couple of years, including one in Berlin. However, he soon became dissatisfied with three of the formants and withdrew them from circulation. The other two he published, as Trope and Constellation-Miroir. Constellation-Miroir is printed, like Mallarmé’s poem Un Coup de dés jamais n’abolira le hasard, as a network of lines floating on the paper—a starscape of images—and can similarly be read in many different ways: at the end of each sequence the player can choose from up to four places to go next, within a broad form of alternating “points” (music of single notes) and “blocks” (music in chords and arpeggios). The formant begins with a short mixed section, followed by three phases of points separated by two of blocks, playing altogether for around 15 minutes. Trope, somewhat shorter, has its four sections—“Texte,” “Parenthèse, “Glose,” “Commentaire”—ring-bound, so that the relatively elementary “Texte” can come before, after, or in the middle of its elaborations. (Michael Wendeberg’s order is that just given.) Within each section, too, there is room for choice, whether or not to play interpolations, which are bracketed off in the printed music. The title suitably refers to the medieval practice of troping chants, i.e. inserting embellishments. Beyond the variety of possible routes, there is an identity that makes it possible to speak of a work, even a sonata. Each formant seems a different way of alighting upon certain central harmonies and resonances, the latter brought forward by carefully prescribed dynamics and pedaling. For example,
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by depressing the sustaining pedal immediately after an attack, the pianist can capture a departing reverberation. Though we cannot see what choices Michael Wendeberg is making at so many points where the pathway splits, the nature of the music—how it seems to rush and then hover, hang in the air, or how it keeps rerunning ideas, revisiting harmonic areas—is the mark of an unpredictability deep in the conception. Boulez often spoke of completing the other formants; what he left, however, is a magical maze part of which remains in darkness, inaccessible. With the Third Sonata holding its unanswered claim on him, Boulez wrote no more solo piano music until 1994, when he produced a brilliant three-minute flurry as a competition test piece. The title he chose promised “incisions,” which duly arrive in an intensive toccata on repeated notes. Then, as with the Notations of almost half a century earlier, he found much more potential in the ideas and in 1996–98 developed them into a 40-minute score for three each of pianists, harpists, and percussionists, sur Incises. Nor did the story end there, for in 2001 he extended the original solo piece into a whole new phase, making it three times as long. After the toccata, a slow sounding and resounding of resonances, generally in the bass, alternates with excited activity—grey clouds and streaks of lightning, the two eventually infusing one another a little, though with the clouds dominant at the end. The language of the First Sonata is now perfectly controlled, and yet the percussive piano still has its frenzy.
Paul Griffiths wrote the first book on Pierre Boulez in any language in 1978. Two of his collaborations with composers have been performed first in Berlin: Elliott Carter’s one-act opera What Next? (Staatsoper, 1999) and Hans Abrahamsen’s song cycle let me tell you (Philharmonie, 2013).
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