1 minute read
ACCANTO
Helmut Lachenmann
Gleichzeitig mit dem Stück läuft «insgeheim» ein Band mit dem Mozartschen Klarinettenkonzert ab, es wird von Fall zu Fall in bestimmten Rhythmen eingeblendet. Dabei ist klar, dass gerade dort, wo sie im Zusammenhang ihres eigenen strukturellen Ablaufs diese andere Klangwelt «anzapft», meine Musik sich erst recht von jener vertrauten Sprache entfernt.
Advertisement
Indessen ist dies lediglich eine Spielart unter anderen. Die Dialektik von Schönheit als verweigerter Gewohnheit ist in meiner Musik nicht neu. Neu ist der konkrete, quasi paradigmatische Bezug auf ein einzelnes Werk beziehungsweise auf eine bestimmte Gattung. Zerstörerischer Umgang mit dem, was man liebt, um sich dessen Wahrheit zu bewahren: Gerecht wird man diesem paradoxen Vorgang nur, wenn man die gesellschaftliche Situation mitbedenkt, deren Tabus sich auf immer kompliziertere Weise verfestigt haben, wobei man sich auf dieselben historischen Kunstwerke beruft wie unsereiner.
Das Mozartsche Klarinettenkonzert ist mir Inbegriff von Schönheit, Humanität, Reinheit, aber auch – und zugleich –Beispiel eines zum Fetisch gewordenen Mittels zur Flucht vor sich selbst; eine «Kunst», scheinbar «mit der Menschheit auf Du und Du», in Wirklichkeit zur Ware geworden für eine Gesellschaft mit der Kunst auf Oh und Ah. Mit allen darauf orientierten kompositionstechnischen Reflexionen und Material-Ableitungen wurde es so zum verborgenen Bezugspunkt, um den meine Musik den paranoischen Bogen der Verehrung und der angstvollen Liebe macht. Mein Stück ist accanto: daneben.
— Helmut Lachenmann