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GENIAL UNHEIMLICH
Antonello Manacorda dirigiert die Neuproduktion DER FREISCHÜTZ von Carl Maria von Weber. Premiere ist Anfang Februar. Ein Gespräch mit dem in Turin geborenen Dirigenten über Angst und Verzweiflung, die beiden ersten Takte der Ouvertüre und das Repertoire seiner Seele. Herr Manacorda, 200 Jahre nach seiner Uraufführung – wie steht der Freischütz heute in der Welt?
Es ist unglaublich spannend, diese Oper einzustudieren, zumal mit einem Regisseur wie Dmitri Tcherniakov. Wenn man versteht, was diese Gespenster, diese Dunkelheit, diese Angst und der Teufel, was das für uns heute bedeuten kann, dann hat man es mit einer der aktuellsten Geschichten überhaupt zu tun. DER FREISCHÜTZ ist die Auseinandersetzung mit allen Aspekten des Menschen: dem Dunklen, dem Sonnigen, der Verzeihung, der Liebe, der Hoffnung. Der Freischütz ist 200 Prozent Oper.
Das Werk gilt als Inbegriff der deutschen romantischen Oper.
Es ist irreführend, dass der Freischütz als DIE deutsche Oper bezeichnet wird. Ich würde eher sagen, er ist die erste wirklich deutsche Oper. Mit dem Freischütz hatten die Deutschen nach so vielen Jahren italienischer Opervendlich etwas „Eigenes“ in der Hand. Endlich gab es einen Komponisten wie Weber, der ein großes Stück geschrieben hatte, mit Themen, die sehr populär in der Zeit der Romantik waren. Das Publikum konnte sich leichter mit dem Geschehen auf der Bühne identifizieren, als das in einer Belcanto oder Mozartoper möglich war.
Sie haben es schon erwähnt, im Freischütz tauchen viele Elemente auf, die uns heute beschäftigen: Angst, Verzweiflung, Verunsicherung. Was kann Musik in unserer Zeit leisten, um solchen Themen zu begegnen?
Die universelle Sprache der Musik hat die Kraft, wie ein Brennglas in unserem Leben zu sein, und lässt uns bestimmter Gefühle viel bewusster werden. Musik zeigt uns auf sehr wilde Weise, woraus wir gemacht sind, woher wir kommen und wohin wir gehen.
„Auf die Ouvertüre bilde ich mir etwas ein“, schrieb Carl Maria von Weber selbst, „wer zu hören versteht, wird die ganze Oper in nuce darin finden.“ Wie ist das für Sie?
Die Ouvertüre zählt zum Besten, was Musik zu bieten hat. Sie präsentiert alle zentralen Motive und Elemente, denen wir im Verlauf der Oper begegnen werden – die ganze Atmosphäre der Geschichte. Es beginnt mit einem ganz leisen Ton, gefolgt von einem enormen Crescendo. In nur zwei Takten beschreibt Weber das Unheimlichste überhaupt. Genial, absolut genial.
Die Biografie auf Ihrer Homepage beginnt mit dem Satz: „Ein Italiener mit starker Affinität zum deutschen Repertoire“. Woher kommt dieses Hingezogensein?
Ich war sehr lange als Konzertmeister für Claudio Abbado tätig, mit dem ich zwei Orchester gegründet habe. Abbado hat mein musikalisches Bewusstsein aktiviert. Mein Repertoire, das Repertoire meiner Seele, ist das mitteleuropäisch-deutsche, im Grunde Abbados Repertoire. Alles über diese Musik habe ich von ihm gelernt. Und wenn man als Konzertmeister ein neues Orchester formen muss, gibt es nichts Besseres, als Haydn und Mozart. Das ist die Basis der gesamten Musik, die danach kam, und das habe ich Jahre lang gespielt. Deshalb fühlte es sich völlig organisch an, als Nikolaus Bachler anrief und fragte, ob ich die Neuproduktion des Freischütz leiten wolle.
Was bedeutet das für Ihren Zugang zum Freischütz?
Wenn ich beginne, ein Stück zu lernen, frage ich mich immer: Was klang dem Komponisten in den Ohren, was hatte er im Bewusstsein? Bei Weber waren das natürlich Belcanto und Mozart, natürlich die italienische und auch die französische Operntradition. Das war die Art, Oper zu machen. Ich interpretiere also den Freischütz aus der Perspektive vor seiner Zeit und nicht mit der Schwere und der Opulenz, mit denen man später die Romantik spielte.
Gehen Sie als Dirigent mit einem geschlossenen musikalischen Bild in die Probenarbeit oder entwickeln Sie das mit dem Orchester und den Sängerinnen und Sängern zusammen?
Beides. Ich lese die Partitur und versuche, die Sprache des Komponisten zu verstehen. Gleichzeitig ist mir die Auseinandersetzung mit dem Regisseur besonders wichtig. Dann formen wir die Produktion mit dem Material und den Mitteln, die wir zur Verfügung haben: den Sängern, dem Orchester, der Partitur und dem Konzept des Regisseurs. Die musikalische Interpretation entwickelt sich sehr während der Probenphase. Es ist schon vorgekommen, dass ich die Tempi mancher Nummern in zwei unterschiedlichen Inszenierungen völlig verschieden dirigiert habe.
Wie gut kennen Sie die Sängerinnen und Sänger, mit denen Sie arbeiten werden – ihre Stärken, ihre Schwächen?
Ich kenne nicht alle Sänger persönlich, aber doch sehr viele. Es ist eine perfekte Besetzung für den Freischütz 2021. Die Stärken und Schwächen kommen interessanterweise erst in der Endphase von Proben ans Licht. Denn so lange man im Probenraum arbeitet, kann man alles behaupten oder versuchen, aber wenn es auf die Bühne geht, mit dem Orchester statt Klavierbegleitung, dann geschieht das Wichtigste.
Wie reagieren Sie auf die veränderte Akustik des Zuschauersaales, der ja wahrscheinlich nicht gefüllt sein kann, wie gewohnt?
Ich war bereits im September für eine Serie COSÌ FAN TUTTE in München. Diese Erfahrung hilft mir. Die Besetzung ist wegen der Abstände zwischen den Musikern kleiner und das Orchester im Parkett optisch und akustisch präsenter. Man muss sich sehr bemühen, die richtige Lautstärke zu treffen, damit die Sänger gut zu hören sind. Es wird auf jeden Fall sehr interessant, denn wir werden einen musikalisch schlankeren und unkonventionelleren Freischütz haben.
Interview: Detlef Eberhard
Online-Premiere am 13. Februar 2021, ab 18.30 Uhr auf www.staatsoper.tv als kostenloser Live-Stream.