6 minute read
KLANG DER KÜSTE Benjamin Brittens Leben und
KLANG DER KÜSTE
Während seiner Zeit in den USA löste eine britische Erzählung Benjamin Brittens Oper Peter Grimes, seine Rückkehr nach England und ein Orchestermeer an widerstreitenden Emotionen aus. Ein Panorama.
„Mit der Welt im Zwist“: so beschrieb Leonard Bernstein seinen englischen Kollegen und Freund Benjamin Britten. In Peter Grimes, seiner ersten Oper, hat Britten einen solchen Menschen porträtiert – einen Menschen, der spürt, dass er der Welt etwas zu geben hat, der sein Talent aber auch als belastende Verpfl ichtung empfi ndet; einen Außenseiter von früh an, der sich mit zunehmendem Erfolg immer mehr mit dem Establishment arrangieren muss. Der Schriftsteller Ronald Duncan, langjähriger Mitarbeiter und Librettist von Britten, meinte, der Komponist sei „ein Mann auf der Flucht vor sich selbst, der oft andere für die Sünde bestrafte, die er begangen zu haben glaubte. Er war ein Mann auf der Streckbank“.
Die späten 1930er und frühen 1940er Jahre waren für Britten der Wendepunkt, die Zeit, in der sich seine Zukunft entschied. 1913 geboren, war er schon früh als Kompositionsbegabung aufgefallen. Bei der Mitwirkung an Dokumentar und Werbefi lmen wie für die britische Post kam er mit dem Dichter W. H. Auden in Kontakt. Auden klärte und verstärkte Brittens pazifi stische Neigungen. Als Linksintellektueller vertrat Britten seine Meinung öff entlich als Mitglied in der Musicians’s Organisation for Peace und als Vize präsident des Arbeitermusikvereins ebenso wie mit seiner Musik zu dem Film Peace of Britain und mit einem Pacifi st March für die Peace Pledge Union. Dass er den Kriegsdienst verweigern würde, war da nur folgerichtig. So wurde das Leben im auf den Zweiten Weltkrieg zusteuernden Europa für ihn zunehmend unerträglich; auch künstlerisch fühlte er sich an einem toten Punkt angelangt. Nicht zuletzt musste er sich mit der Tatsache auseinandersetzen, schwul zu sein. Homosexu a lität war zu dieser Zeit in England strafbar. Kaum vierzig Jahre zuvor hatte man Oscar Wilde deswegen in den Tod getrieben. Und so ging Britten mit dem befreundeten Tenor Peter Pears im April 1939 auf eine Reise in die USA. Gemeinsam mit Auden entstand dort eine revueartige LaienOperette über die amerikanische Legendenfi gur Paul Bunyan. Doch während sich Brittens und Audens Wege danach trennten, verwandelte sich die Freundschaft zu seinem Reisegefährten Pears zur Liebesbeziehung, die bis zu Brittens Tod währen sollte.
Der beginnende Krieg machte aus der privaten Auslandsreise eine Exilsituation. In diese Zeit fi el die Begegnung mit dem Werk des Dichters George Crabbe und speziell mit dessen Verserzählung The Borough von 1810. Die Schilderung einer ostenglischen Küstenstadt (Aldeburgh) und ihrer Bewohner ließ in Britten die Sehnsucht nach seiner Heimat übermächtig werden. Rückblickend schrieb er, dass Crabbe in ihm „ein Gefühl der Sehnsucht nach Suffolk“ hervorgerufen hätte: „Plötzlich wurde mir bewusst, wo ich hingehörte und was mir fehlte“ – der Entschluss, nach England zurückzukehren, und derjenige, aus Crabbes Geschichte eine Oper zu machen, fi elen praktisch gleichzeitig, wie ein Blitz. Insbesondere die Figur des Fischers Peter Grimes faszinierte Britten. So, wie der Grimes der Oper sich nicht vorstellen kann, irgendwo anders zu leben („I am a native, rooted here“ – hier bin ich geboren und verwurzelt), brauchte Britten den Geruch des Meeres und den Klang der Küste seiner Heimat. Allerdings ist Grimes in der Erzählung eine ganz andere Gestalt als diejenige, die Britten aus ihm gemacht hat. Bei Crabbe ist er ein verkommener Mensch: Er treibt seinen Vater in den Tod, lebt seine sadistischen Fantasien an wehrlosen Jungen aus, die er
Den Klang seiner britischen Heimat vergaß Benjamin Britten auch während seines Aufenthalts in den USA nicht. Die Sehnsucht nach Meer und Küste spiegelt sich in seiner Oper.
München | Residenzstrasse 6 | www.akris.com
sich aus Armenhäusern holt, und geht in geistiger Umnachtung zugrunde. Britten sah in ihm anderes, Größeres, und das hatte – wie Peter Pears sich erinnert – mit ihrer damaligen Situation zu tun: „Ein zentrales Gefühl für uns war, als Individuum einer Menge gegenüber zu stehen – mit ironischen Untertönen für unsere eigene Lage. Als Kriegsdienstverweigerer waren wir ausgestoßen. Wir konn ten nicht sagen, dass wir körperlich gelitten hätten, aber natürlich waren wir einer enormen Spannung ausgesetzt. Ich glaube, dass es zum Teil auch dieses Gefühl war, weshalb wir aus Grimes einen visionären, konfl iktbeladenen Charakter machten – den gemarterten Idealisten – und weniger den Schurken, der er bei Crabbe war.“ Aus dem schwarzen wurde ein zwielichtiger Charakter.
Die Oper beginnt mit einer Gerichtsverhandlung. Ein Junge ist gestorben, verdurstet auf der Fangfahrt mit dem Fischer Peter Grimes. Die Umstände sind verdächtig, und der Verdächtige macht Umstände: Er erhebt Ansprüche, die maßlos erscheinen, sein Blick geht ins Kosmische; die andern halten sich ans Komische. Da wird der Zeugenstand ganz schnell zur Anklagebank. Doch der Urteilsspruch ist ambivalent – keine Strafe, aber die Aufl age, keine Lehrjungen mehr anzunehmen; das Stigma bleibt haften, als wäre es den Leuten recht so, den Gegnern wie den Freunden. Die einen sehen im Ausgestoßenen ein Feindbild – das sind die Spießer des Dorfs, vom selbstgerechten Pfaff en bis zur intriganten alten Schachtel –, die anderen das Objekt für ihre Barmherzigkeit – wie Ellen Orford, die Peter „retten“ will, und der alte Captain Balstrode. Grimes aber rennt an gegen die Missgunst wie ein Sisyphos – ein Teufelskreis. Für Britten war das „ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt – der Kampf des Einzelnen gegen die Menge. Je bösartiger die Gesellschaft, desto bösartiger der Einzelne.“ Von der Eröff nungsszene an zieht sich mit jeder Umdrehung die Schlinge fester zu, bis ein neues Unglück Grimes’ Schicksal besiegelt.
Melodische Erfi ndungsgabe, Klangsinn und rhythmisches Gespür prägen Brittens Werke. Die Beschäftigung mit alter Musik – etwa als Herausgeber der Werke Henry Purcells – trug zu seinen fantasievollen, oft überraschenden Kombinationen traditioneller Formmodelle bei. Seine eigenen Melodien erreichen volksliedhafte Ausdruckskraft. Britten schuf zeitgenössische Musikwerke wirklich als Genossen ihrer Zeit, nicht als Artefakte aus den Studios für Neue Musik. „Britten hat nie den Anspruch erhoben, ein Neuerer zu sein“, erläuterte Pears später; „die Generation der Revolutionäre ging der seinen voran. Er erkannte früh, dass sich die akademische Überlieferung in seinem Lande auf stumpf gewordenen Dilettantismus und anmaßende Gelehrtheit gründete. Er begriff , dass der junge Komponist sich als Folge der Explosionen in der musikalischen Welt der ersten Jahrzehnte dieses Jahrhunderts seine eigene Tradition aufbauen müsse.“ Diese eigene Tradition hatte notwendigerweise mit eigener Erfahrung zu tun, und darin steckte nun das, was Auden ihm im Januar 1942 auf den Weg gegeben hatte: „Wenn Du Dich wirklich bis zu Deiner vollen Größe entwickeln willst, wirst Du, glaube ich, leiden müssen und andere leiden machen, in einer Weise, die Dir zurzeit vollkommen fremd sein mag und jedem Dir bewussten Wert entgegensteht.“
Mithin wurde Brittens erste große Oper ein schonungsloses Panorama der zwischenmenschlichen Verstrickungen in einer Welt, deren Fugen nur notdürftig zusammenhalten. Seine Musik dringt tief in die Seele mit ihren Klängen für den einsamen Einzelnen, die entfesselte Menge und die ewige Natur. Das Meer spielt dabei eine besondere Rolle, nicht zuletzt in den orchestralen „Sea Inter ludes“, die alles andere als bloße Naturschilderungen sind. Mag Britten vielfach betont haben, wie wichtig es ihm war, am Meer zu leben und dass die Menschen der Küste ihm Vorbild waren – Peter Grimes erschöpft sich nicht im Fischermilieu. Bei einer Londoner Auff ührung soll der Produzent verlangt haben, im Hintergrund des Bühnenbilds das Meer dominieren zu lassen, um die Grundlage des Dramas zu betonen. Britten widersprach: „Es hat nichts mit dem Meer zu tun, es hat mit den Leuten im Dorf zu tun. – Oder nein, diese Leute sind überall gleich, wo sie auch sind.“
Malte Krasting
PETER GRIMES Benjamin Britten
Nationaltheater
Mo., 28.02.2022, 19:00 Uhr PREMIERE
(PREISE M) EXKLUSIVER VVK AB 21.01.2022 Do., 03.03.2022, 19:00 Uhr (PREISE M) EXKLUSIVER VVK AB 27.01.2022 So., 06.03.2022, 18:00 Uhr (PREISE L) EXKLUSIVER VVK AB 31.01.2022 Do., 10.03.2022, 19:00 Uhr (PREISE L) EXKLUSIVER VVK AB 03.02.2022 So., 13.03.2022, 19:00 Uhr (PREISE L) EXKLUSIVER VVK AB 07.02.2022 Preise L: ab 104,72 € bis 185,36 €, Preise M: ab 133,84 € bis 218,96 €
Informationen und Karten im SZServiceZentrum – solange der Vorrat reicht.