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Ohne die weibliche Komponente funktioniert die Gesellschaft nicht

Anja Kampe singt Minnie in Giacomo Puccinis La fanciulla del West. Hier spricht die Sopranistin über Geschlechterrollen, die Prägung durch ihre Kindheit in der DDR und die Faszination für ihre Rolle.

Illustration Damien Florébert Cuypers

MAX JOSEPH Frau Kampe, Sie singen demnächst Minnie in der Oper La fanciulla del West von Giacomo Puccini. Eine Frau allein unter Männern, was ist das für ein Mensch?

ANJA KAMPE Ich fand Minnie in gewisser Weise immer schon faszinierend, sie ist eine starke und gleichermaßen sensible Frau. Sie muss eine gewisse Härte haben, um sich in dieser männerdominierten Umgebung zu behaupten, und sie kennt die Schwächen der Männer gut. Sie ist gleichzeitig Ersatzmutter oder -schwester, denn diese Männer sind alle nicht bei ihren Familien. Die Geliebte ersetzt sie aber nicht, darauf achtet sie genau – bis Johnson auftaucht. Minnie ist auch nicht mehr ganz jung, hat aber die Liebe selbst noch nicht kennengelernt. Sie ist sensibel, aber sie kann das gut verbergen und so in dieser Wildnis bestehen.

MJ Wie funktioniert so eine reine Männergesellschaft?

AK Ich stelle mir vor, dass die Umgangsformen an sich rauer sind. Es gibt aber auch Momente in diesem Werk, in denen echtes Mitgefühl aufkommt: etwa in der Szene, in der einer der Männer sagt, er könne nicht mehr, und alle sammeln spontan Geld, damit er nach Hause kann. Männer sind nicht unsensibel, aber sie zeigen nicht gerne, dass sie auch Gefühle haben.

MJ Das war so zu der Zeit, in der die Oper ursprünglich spielte. Der Regisseur Andreas Dresen zeigt eine moderne Version. Passt dieser Gedanke dann überhaupt?

AK Die Männer sind doch immer noch ganz genauso. Wenn man sie besser kennt, zeigen sie schon was Weiches. Aber nach außen hin gibt der Mann immer noch lieber den Macho. Ich sehe schon, dass es heute sicher mehr Männer gibt, die sich zum Beispiel bereit erklären, Aufgaben zu übernehmen, die früher als typisch weiblich galten. Aber in der Auffassung des Ur-Männlichen und Ur-Weiblichen hat sich so viel noch nicht geändert.

MJ Haben Sie Erfahrung mit männerdominierten Bereichen? Ist die Oper so eine Welt?

AK Die Oper unterscheidet sich jetzt nicht so drastisch von unserer sonstigen beruflichen Umwelt. Man hat auch hier viel mit Männern in Führungspositionen zu tun, wenn auch nicht nur mit Machos. Es gibt inzwischen auch Frauen, die durchaus etwas zu sagen haben, aber das Verhältnis Mann-Frau ist natürlich auch im Opernbetrieb noch lange nicht ausgeglichen.

MJ Sie kennen das anders, weil Sie im Osten aufgewachsen sind.

AK Im Westen brauchten Frauen bis 1977 die Erlaubnis des Mannes, um eine Stelle annehmen zu können. Das ist heute kaum mehr zu glauben! Im Osten war es selbstverständlich, dassFrauen arbeiteten. Und klar: Die Frauen waren daher freier, zubestimmen, wie sie leben wollten. Wenn eine Ehe nicht lief, konnten siesagen, ich bin nicht abhängig, ich mache allein weiter.

MJ Waren Männer und Frauen auf Augenhöhe?

AK Ich bin mit einer alleinerziehenden Mutter aufgewachsen. Meine Mutter hat gearbeitet, stand mit beiden Beinen im Leben und hat ihre drei Kinder großgezogen. Natürlich kann eine solche Konstellation auch Nachteile für die Kinder haben. Aber eine alleinerziehende Frau wurde im Osten zumindest nicht schief angeschaut.

MJ Haben Sie den Staat als unterdrückend empfunden, in dem Sie aufgewachsen sind?

AK Ich bin in einem Umfeld aufgewachsen, das an den Kommunismus glaubte. Meine Mutter ist Anfang der 1950er Jahre vom Westen in den Osten gegangen. Sie war überzeugte Kommunistin und ging mit meinem großen Bruder, der gerade geboren war, und meinem Vater rüber. Für sie brach später eine Welt zusammen, zuerst, als ich ihr sagte: Mutter, ich gehe nach Italien, und dann, als kurz danach die Wende kam. Aber der Staat hatte neben seinen repressiven Seiten auch viel ermöglicht, etwa in der Talentförderung. Meine Mutter hätte sich meine musikalische Ausbildung nie leisten können. Ich habe ab meinem neunten Lebensjahr bis zum Abitur Stipendien bekommen, und diese Ausbildung war sehr gut. Oder die medizinische Versorgung, auf die sich jeder verlassen konnte. Heute machen sich viele Gedanken, wie sie ihre private Krankenversicherung bezahlen sollen, wenn sie eines Tages nicht mehr arbeiten können.

MJ Wann haben Sie zum ersten Mal die Erfahrung gemacht, dass das Wort einer Frau nicht so viel wiegt wie das eines Mannes?

AK Gar nicht – denn ich war nie auf einen Mann angewiesen. In meinem Beruf nicht und auch sonst nicht. Ich war einige Jahre verheiratet ...

MJ ... mit 21 Jahren. Mit einem Italiener, dem Prototyp des Machos.

AK Ich weiß nicht, welche Erfahrungen Sie mit Italienern gemacht haben, aber mein damaliger Mann war das Gegenteil eines Machos. Er war ein äußerst sozial engagierter Mensch und überzeugter Kommunist ...

MJ Kommunisten haben Frauen genauso unterdrückt wie Konservative.

AK Ja, und umgekehrt! Nicht immer diese Klischees! Wir haben 1989 geheiratet, im Jahr der Wende. Da waren wir gleichberechtigt. Ich bin von ihm nie im Geringsten herablassend behandelt worden – und auch später nicht in meinem Beruf.

MJ Für Sie ist also die noch nicht erreichte Gleichstellung der Frau etwas Theoretisches?

AK Ich persönlich habe nie unter der Vormachtstellung von Männern gelitten. Aber ich befand und befinde mich zugegebenermaßen in einer privilegierten Situation. Im Übrigen ändert sich an der Oper mittlerweile sehr viel: Junge Dirigentinnen – ein Beruf, der früher ja nur und ausschließlich Männern vorbehalten war – behaupten sich zunehmend am Podium.

MJ Ist es anders, mit Dirigentinnen zu arbeiten?

AK Natürlich, und ich musste mich zunächst dran gewöhnen. Musik gemeinsam zu machen, ist an sich eine sehr intime Arbeit. Zumindest für mich war es einfacher, mit einem Mann zu arbeiten als mit einer Frau, da sich für mich mit einem Mann eine andere Art von Intimität herstellt als mit einer Frau.

MJ Mit Intimität meinen Sie Erotik und nicht Vertrautheit?

AK Beides natürlich! Erotik spielt immer mit in der Musik und in der Kunst ganz allgemein. Auch bei den meisten Themen an der Oper schwingt sie ganz selbstverständlich mit. Ich war mit Männern immer vertrauter als mit Frauen und habe auch mehr männliche als weibliche Freunde. Aber das ist bei jedem sicher anders. Inzwischen komme ich auch mit Dirigentinnen sehr gut zurecht. Vielleicht habe ich mich mit dem anderen Geschlecht auch mehr beschäftigt als mit dem eigenen ...

MJ Minnie hat sich so ausgiebig mit dem anderen Geschlecht beschäftigt, dass sie genauso gut schießt, zockt und trinkt wie die Männer. Das ist ja das, was viele beklagen: Frauen müssen in Männerdingen besser sein als die Männer, um akzeptiert zu werden.

AK Wie ausgiebig sie sich mit Männern beschäftigt hat, geht weder aus der Oper noch aus der Romanvorlage hervor. Sie stammt aus dem Gastgewerbe, in gewisser Weise liebt siedieses Leben, und es ist ganz natürlich für sie. Sicher, sie nutzt danndiese Fähigkeiten, um sich durchzusetzen. Aber auf der anderen Seiteliest sie den Männern auch aus der Bibel vor, weil sie das eben wichtigfindet. Sie beeinflusst sie dadurch auch. Das sind ja im Grunde einfacheTypen: Arbeiter, die versuchen, ihr Glück zu machen. Raue Männer undoft nicht sehr gebildete. Minnie erzieht sie gewissermaßen und fügt soeine kleine Portion Weiblichkeit hinzu. Denn ohne die weiblicheKomponente funktioniert die menschliche Gemeinschaft nicht.

MJ Aber Minnie weiß sehr genau, wo ihre Grenzen sind.

AK Sie hat nicht großartig etwas für sich zu entscheiden. Sie ist ja auch keine Konkurrentin der Männer. Sie passt auf ihr Gold auf, aber hat selbst keine Ambitionen, Gold zu besitzen. Sie führt den Saloon mit fester Hand, und das ist es. Es wäre ja interessant, zu ergründen, warum sie sich überhaupt für so ein Leben entschieden hat. Eine enttäuschte Liebe kann es nicht gewesen sein. Liebe kannte sie von zu Hause zwischen ihren Eltern, und sie wartet auf eine solche Konstellation für sich. Sie scheint keine Familie mehr zu haben, und vielleicht ist das auch ihre Ersatzfamilie.

MJ Und dann verliebt sie sich ausgerechnet in einen Mann, der die ganze Zusammengehörigkeit gefährdet. Was bedeutet das?

AK Sie kannten sich bereits. Sie waren sich schon begegnet, und da hat es gleich gefunkt. Aber sie kann mit ihm kein Leben in ihrer bisherigen Gemeinschaft führen. Sie folgt ihm in sein Leben, ohne zu wissen, was das genau bedeutet. Obwohl sie so stark ist, entscheidet sie sich dann doch wieder für ein Frauenschicksal.

Gabriela Herpell war Redakteurin bei Tempo, Glamour und Emotion, sie ist heute beim SZ-Magazin und freie Journalistin. Sie schreibt u. a. über Theater, Film, Literatur und Reisen.

Anja Kampe erhielt ihre Gesangsausbildung in Dresden und Turin. 2002 war sie mit den Partien Freia und Gerhilde erstmals bei den Bayreuther Festspielen zu erleben. Ihr internationales Debüt gab sie 2003 an der Washington National Opera als Sieglinde (Die Walküre). Gastengagements führten sie seither u. a. an die Opernhäuser von Mailand, London, Paris, Wien, Zürich, Berlin, Los Angeles und Tokio sowie zum Glyndebourne Festival, zur Ruhrtriennale und den Salzburger Osterfestspielen. Ihr Repertoire umfasste früher auch Partien wie Eva (Die Meistersinger von Nürnberg), Elisabeth (Tannhäuser) oder Elsa (Lohengrin). Heute gastiert sie an den großen Opernhäusern der Welt mit Isolde (Tristan und Isolde), Kundry (Parsifal) und Senta (Der fliegende Holländer), Sieglinde und Brünnhilde (Die Walküre) sowie die Titelpartien in Ariadne auf Naxos und Tosca. Seit Januar 2018 ist sie Bayerische Kammersängerin. Nach ihrer umjubelten Sieglinde (Die Walküre) in der Spielzeit 2017/18 ist sie in der aktuellen Spielzeit an der Bayerischen Staatsoper als Leonore (Fidelio), als Senta (Der fliegende Holländer) und als Minnie (La fanciulla del West) zu erleben.

La fanciulla del West

Oper in drei Akten Von Giacomo Puccini

Premiere am Samstag, 16. März 2019, Nationaltheater

STAATSOPER.TV

Live-Stream der Vorstellung am Samstag, 30. März 2019, auf www.staatsoper.tv

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