9 minute read

\u201EDie Decke der Zivilisation ist verdammt d\u00FCnn\u201C

Next Article
Kunst und Arbeit

Kunst und Arbeit

Filmregisseur, Opernregisseur, Laienrichter am Verfassungsgericht: Zwei öffentliche Berufe und einen Beruf im Dienst der Öffentlich keit übt Andreas Dresen aus. Im Interview spricht er über seinen Blick auf die Gesellschaft, seine Inszenierung von Giacomo Puccinis La fanciulla del West – und darüber, was das eine mit dem anderen zu tun hat.

© Andreas Chwatal.

Max Joseph: Herr Dresen, Sie sindseit sechs Jahren auch als Laienrichter am Verfassungsgericht des Landes Brandenburg tätig. Was haben Sie da gelernt?

Andreas Dresen: Bei Gericht sieht man ganz gut, in welchem Zustand sich das demokratische Gemeinwesen befindet. Und zwar anhand der Klagen oder Beschwerden, die sich ja auf die Nichteinhaltung der Brandenburger Verfassung beziehen. Da bekommt man einen tiefen Einblick in das Räderwerk von Demokratie. Das Brandenburger Verfassungsgericht kann jeder anrufen. Man kann auch als Privatmann kostenlos eine Verfassungsbeschwerde einreichen, und in jedem Fall wird die von uns Richtern geprüft. Das ist schon eine tolle Möglichkeit. In der DDR gab es ja beispielsweise auch eine Verfassung, aber eben kein Verfassungsgericht.

MJ: Was genau verhandeln Sie?

AD: Die Landesregierung macht beispielsweise ein Gesetz zur Finanzierung der Kindertagesstätten. Es gibt Gemeinden, die sich darüber beschweren, weil sie das nicht für hinreichend finanziert halten. Das Urteil kann dann lauten, dass die Regierung ihre Hausaufgaben nicht ordentlich gemacht hat und dieses Gesetz überarbeiten muss. In letzter Zeit gibt es immer häufiger Klagen von Abgeordneten der AfD. Die sitzt ja nun auch im Brandenburger Landtag. Und wir müssen darüber befinden, ob der Umgang mit diesen Abgeordneten den demokratischen Spielregeln entspricht oder eben nicht. Gegebenenfalls schreiten wir ein.

MJ: Derzeit greifen Reichsbürgerund andere Rechte die demokratische Verfassung in diesem Land an. Ist Ihr Engagement als Richter ein Statement für den demokratischen Rechtsstaat?

AD: Sonst würde ich es nicht machen, ganz klar. Als ich seinerzeit gefragt wurde, hatte ich gerade einen Dokumentarfilm über einen Landtagsabgeordneten der CDU gedreht, den Hinterbänkler Henryk Wichmann [Herr Wichmann aus der dritten Reihe, d. Red.]. Ein Jahr lang durfte ich ihn bei seiner täglichen Arbeit begleiten und habe gemerkt, was für ein Knochenjob das ist. Als Bürger macht man sich das oft leicht und sagt: Das sind doch alles Idioten, die Politiker kriegen nichts gebacken. Wie die bei den motzenden Herren in der Muppet Show. Demokratie funktioniert aber nur, wenn alle mitmachen. Ich habe mich selbst gefragt: Was tue ich eigentlich? Und ich fand mein Engagement nicht hinreichend. Als dann die Anfrage vom Verfassungsgericht kam, war das eine wunderbare Möglichkeit, mich aktiv einzubringen. Mittlerweile habe ich am Gericht oft erlebt, wie dankbar Bürger für unsere Arbeit sind.

MJ: In Ihrer neuen Inszenierung, Giacomo Puccinis „La fanciulla del West“, geht es auch um Selbstjustiz. Ist das Thema für Sie eher archaisches Erbe, oder hat das etwas mit uns heute zu tun?

AD: Selbstjustiz in Form von Aufbegehren von Bürgern – das ist leider etwas Heutiges, ganz klar. Puccinis Oper spielt in einer archaischen Welt. Rechtsstaatliches Handeln findet hier kaum statt, stattdessen soll gleich im ersten Akt jemand gehängt werden, der Sheriff schreitet im letzten Moment ein. Im dritten Akt ist es dann Minnie, die Barfrau, die aus Liebe das Schlimmste verhindert.

MJ: Warum handeln die Menschen in der Oper so, wie sie handeln?

AD: Je schwieriger die Umstände, je krasser die sozialen Kontraste, desto bedrohlicher wird es. Gewalt bricht dann schneller aus, und davon handelt ja die Geschichte: Da sind Leute versammelt, die am unteren Ende der Gesellschaft hocken. Arme Schweine sozusagen, die irgendwie versuchen, ein Stückchen Glück abzubekommen. Die haben Heimweh, schlagen sich ihre Zeit mit Glücksspiel tot, und ihre letzte Hoffnung und Freude ist die einzige Frau vor Ort: Minnie. Die Szenerie erinnert an eine Flüchtlingsunterkunft oder irgendwelche Arbeitslager in Katar, wo die Fußballstadien von den Ärmsten der Armen gebaut werden. In einer solchen Männerwelt ist plötzlich jeder auf sich gestellt. Soziale Kommunikation kann sofort in nackte Gewalt umschlagen. Die Getretenen treten irgendwann zurück.

MJ: In Chemnitz richtete sich zuletzt nach einer tödlichen Gewalttat die Aggression gegen unschuldige Sündenböcke. Leute zogen los und griffen Menschen an, die sie für Ausländer hielten. Erschreckt Sie, was gerade in Ostdeutschland passiert?

AD: Durchaus, aber ich sehe auch furchtbar viele Klischees über Ostdeutschland. Ja, das war ein großer Aufmarsch von Rechten, die teilweise aber auch aus anderen Regionen angereist sind. Es gibt in diesen Orten trotzdem überall eine gut funktionierende Zivilgesellschaft und Gegenbewegungen. Mir ist es auch zu einfach, alle Beteiligten an solchen Demonstrationen immer gleich als rechten Mob zu stigmatisieren. Damit macht man die Sache nur noch schlimmer und treibt die Menschen in die Hände der AfD. Die Leute in diesen Städten sind zum Teil unzufrieden mit ihrer Situation. Das hat ganz verschiedene Ursachen.

MJ: Welche denn?

AD: In Cottbus, wo es auch Demos gab, hatte es beispielsweise damit zu tun, dass der Ausländeranteil plötzlich stark nach oben geschnellt ist, weil die Stadt sich darum bemüht hatte, dass mehr Flüchtlinge kommen, um den Status einer Großstadt zu erhalten. Die jungen Männer, die dann meist kamen, langweilten sich in den schlechten Flüchtlingsunterkünften, lungerten in der Stadt rum. Vor dem Einkaufszentrum kam es zu Rangeleien mit den Jugendlichen des Ortes. Ältere Menschen fühlten sich verunsichert und bedroht. So kippte nach und nach die Stimmung in Richtung Konfrontation. Diese schwierigen Fragen von Migration und den damit verbundenen Konflikten kann man nicht mit einfachen Parolen und Schuldzuweisungen begegnen. Die Bürger müssen mit ihren Sorgen und Ängsten ernst genommen werden, genauso wie die Flüchtlinge, die mit berechtigten Hoffnungen zu uns kommen.

MJ: In Chemnitz war aber doch erschreckend, dass sich auch scheinbar normale Bürger den Neonazis und deren rechtsextremen Parolen anschlossen. Studien zeigen: Im Osten gibt es mehr Fremdenfeindlichkeit und größere Demokratiefeindlichkeit. Was ist Ihre Erklärung dafür?

AD: Ich bin kein Politiker und auch kein Soziologe. Aber sicher hat es auch etwas mit den Jahren der Nachwendezeit zu tun, die viele Menschen im Osten verunsichert haben.

MJ: Teilen Sie den Eindruck, dass ostdeutsche Sichtweisen zu lange ignoriert wurden?

AD: Ja, definitiv. Und das setzt man jetzt fort. Alle Ostdeutschen werden generalisiert in Haft genommen für ein paar Bekloppte, und das vergrößert diese Mauern, die es sowieso gibt. Es gibt viele Leute im Osten, die sich wie Bürger zweiter Klasse fühlen. Ich kenne viele, insbesondere der älteren Generation, die nach dem Mauerfall das Gefühl hatten, dass ihre 40 Jahre Leben in der DDR quasi nichts wert sind. Das fängt mit der fehlenden Angleichung der Renten und Löhne an und setzt sich darin fort, dass fast dreißig Jahre nach dem Mauerfall Westdeutsche immer noch die meisten Schlüsselpositionen besetzen. Hinzu kommt: Die Leute im Osten haben sich inzwischen mühsam etwas erarbeitet. Man handelt daher in so einer Art Protektionismus dem eigenen Leben gegenüber.

MJ: Was meinen Sie damit?

AD: Viele haben sich nach der Wende ein komplett neues Leben aufgebaut, und da wollen sie jetzt nicht mehr dran rütteln lassen. Und sie haben die Werte unserer heutigen Gesellschaft verinnerlicht, die nicht gerade für Solidarität stehen. Das spielt psychologisch sicher eine Rolle, auch wenn es nicht alles erklären kann.

MJ: In diesen unruhigen Zeiten streiten Künstler wieder: einmischen und politisch engagieren oder heraushalten und Kunst machen. Was ist Ihre Haltung?

AD: Um mich öffentlichkeitswirksam zu äußern, muss ich nicht mit Parolen auf der Straße stehen. Überhaupt sind Parolen in der Kunst nicht angebracht. Wir haben nicht ohne Grund zwölf Jahre an einem Film wie „Gundermann“ gearbeitet, damit er eine differenzierte Sicht beinhaltet. Man kann durchaus Stellung beziehen, aber auf subtile Art. Was keineswegs heißt, unpolitisch zu sein. Wenn es aber nötig wird, Grundwerte zu verteidigen, muss man auch zu anderen Mitteln greifen und wieder auf die Straße gehen. Beispielsweise wenn eine Zeit anbricht, in der es darum geht, Kunst überhaupt frei ausüben zu können.

MJ: In Filmen wie „Halbe Treppe“ oder „Sommer vorm Balkon“ überzeugt Ihr quasi dokumentarischer Blick, mit dem Sie Ihrem Personal nahekommen. Die Oper ist dagegen immer auch große Geste. Was können Sie mit der Oper besser als im Film?

AD: Oper ist eine komplette Kunstwelt, die für mich sehr reizvoll ist. Einmal davon abgesehen, dass die angesprochenen Filme den dokumentarischen Blick ja auch mehr behaupten, als wirklich dokumentarisch zu sein. Bei meinen Filmen heißt es ja häufig: Die sind so authentisch. Authentizität gibt es aber nicht in der Kunst. Es wird immer konstruiert und weggelassen, alles höchst subjektiv. Auch in den genannten Filmen gibt es ganz magische, „unwirkliche“ Elemente – Erfindungen, Überhöhungen. Verfremdungseffekte sind mir also nicht neu. Es geht darum, in der Übersetzung den Eindruck zu vermitteln, das Gezeigte wäre wahrhaftig. Das kann man auf der Bühne auch machen.

MJ: Was reizt Sie an der Opernbühne?

AD: Auch in der Oper kann man Geschichten so erzählen, dass sich Realität wiederfindet. Aber klar ist: Die Bühne braucht Übersetzung, sie ist ein Kunstraum. Ich muss mich dazu verhalten, dass die Geschichten in der Oper auf seltsame Art verdichtet und konstruiert sind. Es ist eine eigene Kunstform, der man entsprechen muss. Ich würde keine Bühneninszenierung so klein und psychologisch anlegen wie beim Film. Aber es macht Spaß, Wege und Formen der Vergrößerung zu finden, die es dem Zuschauer trotzdem gestatten, emotional anzudocken.

MJ: Wie kommen Sie zu Ihren Inszenierungen?

AD: Bei der Oper spielt die Musik die Hauptrolle. Als Regisseur bin ich definitiv schlecht beraten, wenn ich der Musik nicht folge. Wie soll ich denn gegen einen Mozart oder Richard Strauss oder Puccini an inszenieren? Das sind Meister ihres Fachs, die ziehen alle Register. Die erste und größte Interpretation des Librettos liegt ja schon in der Musik. Da muss ich als Regisseur aufmerksam folgen und mich dazu verhalten.

MJ: Welchen Ton gibt Puccini denn für „La fanciulla del West vor? Einen ganz schön düsteren Ton und in Breitwand. Viel Wehmut, viel Traurigkeit. Die Musik ist erstaunlich modern und vielfarbig und sie folgt der Handlung konsequent im Parlando. Wie in einem Theaterstück. Ganz anders als in diesen Opern, bei denen alle sagen: Jetzt kommt die berühmte Arie, und dann gibt es möglichst noch Szenenapplaus. Das finde ich immer ganz schrecklich. In Fanciulla gibt es eigentlich keinen wirklichen Hit. Die Musik ist konsequent Teil der Erzählung und drängt sich nicht auf den ersten Blick durch eingängige Melodien in den Vordergrund. Aber je öfter ich sie höre, desto mehr Wundervolles entdecke ich da drin.

MJ: Warum bleiben Sie nicht beider Kulisse des Goldrauschs, sondern holen die Handlung in die Gegenwart?

AD: Wir wollen kein historisches Kostümfestveranstalten. Goldgräber kennt man ja mit Cowboystiefeln, in einigen Inszenierungen laufen dann auch gerne mal Pferde über die Bühne. Bei uns nicht. Ich finde, dass der Stoff sehr viel soziale Substanz hat. Da ist dieses Umschlagen von Kumpanei in Aggression, totale Bosheit. Wo die Ärmsten der Armen unter sich sind, ist wenig Raum für Freundlichkeit. Das erzählt viel über die Welt. Also spielt die Oper bei uns in einem Bergwerk, das überall sein kann. In „La fanciulla del West“ steht mit Minnie eine Frau im Mittelpunkt, die nicht nur Bardame ist, sondern auch Bibelkurse gibt und versucht, irgendwie menschliche Werte hochzuhalten.

MJ: Aber auch Minnie ist keineLicht gestalt, sondern eine, die mit gezinkten Karten spielt.

AD: Sie ist natürlich auch von der Welt geprägt, in der sie lebt. Lichtgestalt ist sie nur in der Projektion der Männer. Aber auch sie ist sozial ganz unten. Dennoch eine, die sich ihrer Haut zu wehren weiß. Die Männer überhöhen sie, weil sie die einzige Frau in ihrem Leben ist. Alle sind in sie verliebt, und das weiß sie auszunutzen. Die andere Hauptfigur, Johnson, kommt an diesen Ort, um zu klauen. Um Liebe geht es erst später. Johnson lügt, er sagt nicht, wer er wirklich ist. Alles ist in der Geschichte auf falschen Schein gebaut. Deswegen finde ich den Schluss auch sehr schwierig: Minnie und Johnson reiten in eine strahlende Zukunft? Das kann ich nicht so richtig glauben.

MJ: Ohne zu viel zu verraten – Sie haben ein anderes Ende? Wir werden das wohl etwas anders spielen, ja. Eine Beziehung, in der es Verrat gab und Lüge. Was haben die beiden denn vor sich: Sie verlässt ihren Job. Er hat sowieso keinen. Ich glaube nicht, dass es so einfach wird.

MJ: Scheitern, Selbstjustiz, Gewalt. Die großen Probleme und falschen Lösungen der Menschheit scheinen immer wiederzukehren. Warum fällt es uns eigentlich so schwer, von Geschichte und Geschichten zu lernen?

AD: Immerhin, ein wenig hat die Menschheit ja schon gelernt: Die Welt befindet sich nicht mehr im Mittelalter, es gibt viele demokratisch strukturierte Länder. Allerdings ist der Schritt zur Barbarei leider näher, als wir denken, wie uns das sogenannte Dritte Reich gezeigt hat. Indem wir in der Kunst den Zustand der Welt reflektieren, können wir aber auch einen kleinen Beitrag leisten. Vielleicht macht das die Welt nicht grundsätzlich besser, das kann man von einem Kunstwerk auch nicht erwarten. Aber es kann die Seelen der Menschen berühren und versuchen, ihren Blick ein kleines bisschen zu schärfen, möglicherweise auch zu ändern. Kultur bedeutet soziale Kommunikation. Wenn es die nicht mehr gibt, erstarrt die Gesellschaft.

MJ: Ist die Oper Ihr künstlerisches Risiko?

AD: Schon. Das ist zwar meine vierte Produktion, aber ich sehe mich nach wie vor als Anfänger. Das ist für mich ein völlig anderes Medium und nach wie vor Neuland, ich bin kein abgebrühter Profi. Aber ich habe auf und hinter der Bühne zum Glück mit großartigen, in diesem Bereich erfahrenen Menschen zu tun. Regie zu führen, ist ja schönerweise keine einsame Arbeit. An der Bayerischen Staatsoper habe ich tolle Partner, die mit Lust und frei von Zynismus etwas Gemeinsames erschaffen, die mit mir die Freude teilen, etwas Neues zu erfinden, auszuprobieren und ja – auch gemeinsam ins Risiko zu gehen.

Andreas Dresen

Andreas Dresen studierte von 1986 bis 1991 Regie an der Hochschule für Film und Fernsehen „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg und war anschließend Meisterschüler von Günter Reisch an der Akademie der Künste in Berlin. In Filmen wie Nachtgestalten, Halbe Treppe, Sommer vorm Balkon, Wolke 9, Halt auf freier Strecke und zuletzt Gundermann entwickelte er eine unverwechselbare Filmsprache, mit der er seit Ende der 1990er Jahre die deutsche und internationale Filmlandschaft prägt. Seine Arbeiten wurden u. a. bei den Filmfestspielen in Cannes und der Berlinale ausgezeichnet, außerdem erhielt er für mehrere seiner Filme den Deutschen Filmpreis, den Grimme- Preis und den Bayerischen Filmpreis. Als Theaterregisseur inszenierte er in Cottbus, Leipzig und am Deutschen Theater in Berlin. Als Opernregisseur trat er erstmals 2006 mit Don Giovanni am Theater Basel in Erscheinung. An der Bayerischen Staatsoper inszenierte er in der Spielzeit 2014 / 15 Richard Strauss‘ Arabella.

Interview: Michael Kraske

This article is from: