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„Wir wollen alle gesehen werden“
Marlis Petersen gibt in der Titelpartie von Richard Strauss’ Salome ihr Rollendebüt unter der Leitung von Generalmusikdirektor Kirill Petrenko. Ein Gespräch über weibliches Begehren, langen Atem und die Frage, wann man mit Musik das Nirwana erreicht – oder die Klapsmühle.
MAX JOSEPH Marlis Petersen, das Motiv Sehen und Gesehenwerden zieht sich durch Salome. Narraboth hat nur Augen für die Prinzessin, sie aber nicht für ihn. Stattdessen verguckt sich Salome in Jochanaan, der sich ihrem Blick entzieht. Königin Herodias ermahnt ihren Mann, seine Stieftochter nicht so lüstern zu betrachten. Was sehen Sie?
MARLIS PETERSEN Das Sehen ist hier nie ein freies, sondern etwas, in das man sich hineinsteigert. Es entsteht aus den Zwängen, in denen man gelebt hat. Narraboth hat dabei vielleicht die einzig wahre Empfindung und sieht Salome, wie sie ist. Für Herodes ist sie ein Objekt der Begierde. Und Salome sieht Jochanaan erstmal gar nicht, sondern hört ihn nur. Als es dann zur Begegnung kommt, sieht sie etwas völlig Unbekanntes. Ihn umgibt etwas Märchenhaftes, Mysteriöses – ganz anders, als sie es aus ihrem Elternhaus kennt. Und in das verliebt sie sich. Aber nicht mit dem Herzen. Sie preist seinen Körper, sein Haar, seinen Mund. Sie sieht nicht den Menschen, sondern eine Idee, eine Projektionsfläche für ihre eigene Begierde.
MJ Welchen Unterschied gibt es zwischen Wahrnehmen und Begehren?
MP Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Beim Begehren geht es darum, etwas haben und sich einverleiben zu wollen. Das Wahrnehmen beinhaltet, den anderen wirklich zu erkennen und anzunehmen. Das tut Salome nicht.
MJ Salome begehrt Jochanaan. Der König und Narraboth begehren die Prinzessin. Aber sie ist die einzige, die auch wirklich sagt, was sie will. Macht sie das zu einer modernen Frau?
MP Man darf nicht vergessen, dass Salome in der Pubertät ist. Ihr Frausein bricht auf, sie erblüht im Anblick ihres ersten Objekts. Deshalb kann sie gar nicht anders, als das zu artikulieren. Ich würde das nicht als modern bezeichnen. Das ist Biologie.
MJ Wir sind gewohnt, dass die Frau unter dem Blick des Mannes zum Objekt wird. Hier ist es umgekehrt.
MP Ja, das ist interessant. Der Mann ist das Objekt und doch ist er unerreichbar. Aber vielleicht ist es ja auch frauentypisch, dass wir Dinge wählen, die wir nicht erreichen können. Wir Frauen suchen uns manchmal schwierige Situationen aus, damit wir am Ball bleiben und die Herausforderung spüren. Leider ist das oft nicht gut für uns.
MJ Tun Sie das denn?
MP Ja, ich hänge mir meine Latte immer hoch. Salome ist dafür ein gutes Beispiel. Da haben viele gesagt, ich soll vorsichtig sein. Aber ich singe die Rolle trotzdem, und zwar gleich an der Bayerischen Staatsoper. Hier habe ich tolle Menschen um mich, Kirill Petrenko kann mich musikalisch führen, weil er das Orchester fantastisch im Griff hat. Unter anderen Bedingungen könnte ich mir mit dieser riesigen Partie auch wehtun – und dann würde ich sie vielleicht nie wieder singen. Bei Lulu war es ähnlich. Da war ich gerade mal 27, das war ein Spiel mit dem Feuer. Gleichzeitig sind hohe Ziele eine große Motivation.
MJ Wann merken Sie, dass Sie eine Rolle für sich geknackt haben?
MP Wenn die Musik in mich hineingefunden hat und wie selbstverständlich aus mir herausfließt. Es ist herrlich, wenn man nicht mehr nachdenken muss. Wenn man sich mit dem Regisseur versteht, und da gemeinsam etwas wächst. Und wenn bei der Vorstellung das Publikum erspüren kann, worauf man hinauswill – dann ist man tief zufrieden.
MJ „Hättest du mich gesehen, du hättest mich geliebt“, singt Salome am Schluss. Eine traurige Erkenntnis, weil ihr Verlangen nie erfüllt wird. Hat sie mit dieser Aussage denn überhaupt recht?
MP Es zeigt auf jeden Fall ihr Verlangen danach, gesehen und akzeptiert zu werden. Das wünschen wir uns doch alle. Egal, ob von unseren Eltern, unserem Partner oder unserem Arbeitgeber. Wir wünschen uns, dass unsere Stärken erkannt und gefördert werden, dass man uns den Raum gibt zu sein, wer wir sind.
MJ Wie wichtig ist es dabei, sich selbst zu erkennen?
MP Sehr wichtig – und das ist ein langer Weg. Damit werden wir auch nie fertig. Wir entwickeln uns ständig, lassen Dinge hinter uns, unsere Eltern sterben, unsere Freunde oder Partner wechseln, und dadurch werden auch wir immer wieder neu. Bei Salome ist das Tragische, dass sie Narraboths Liebe nicht sieht. Ich glaube, uns Menschen passiert es leicht, dass wir das Eigentliche übersehen, das, was man direkt vor der Nase hat.
MJ In Salome gibt es ein Oszillieren zwischen Askese und Sinnlichkeit, zwischen Anziehung und Abstoßung. Wie wichtig ist Sinnlichkeit in einer Zeit, in der die Welt gefühlt immer lustfeindlicher wird?
MP Für die Sinnlichkeit sind wir Mensch geworden, glaube ich. Wir haben von der Natur fünf Sinne geschenkt bekommen – oder sogar sieben!? Ich bin oft in Griechenland. Die Menschen dort haben sich die Sinnlichkeit bewahrt. Sie genießen die Sonne, das Meer, Olivenöl, Schafskäse, sie sind sich der Sinne bewusst. In Deutschland dagegen haben wir uns auferlegt, perfekt zu sein. Nicht zu viel hiervon, nicht zu viel davon. Das schneidet uns oft ab von der wahrhaftigen Emotion, die in uns lebt.
MJ Sie bauen dort Ihre eigenen Oliven an. Was gibt Ihnen das?
MP Es ist ein wunderbares Gegengewicht zur Kunstwelt, die sehr flirrend und luftig ist. Mir fehlt die Beschäftigung mit den Händen und mit der Erde. Wenn wir Sänger am Abend singen, bleibt von den Tönen nach der Vorstellung nichts. Wenn ich meine Oliven ernte, habe ich danach Öl und freue mich an dem Ergebnis. Das ist wie Applaus aus der Natur.
MJ Wie wichtig ist Ihnen echter Applaus?
MP Es macht Freude, wenn man merkt, dass von Herzen Begeisterung aufkommt. Es kann einem auch anders gehen, wenn nach einer schwierigen Inszenierung Buhrufe kommen. Aber selbst die Buhs finde ich immer noch besser als neutrales, nettes Geklatsche. Neutralität ist etwas, womit ich nicht gut klarkomme.
MJ Wie haben Sie sich der Salome-Partie musikalisch genähert?
MP Zunächst rein mathematisch: Tonhöhen, Intervalle, Rhythmus, Instrumentierung. Bei Strauss ist das ein komplexer Defragmentierungsprozess, bevor sich alles wieder zu einem großen Ganzen zusammenfügt. Dann beginnt die Musik, einen mitzureißen. Wenn Salome eine Phrase singt und sich Strauss mit dem Orchesterklang zum Fortissimo aufschwingt, gibt es kein Halten mehr! Ich hatte Glück, dass ich meine Partie frühzeitig mit Wolf-Michael Storz, dem Solo-Repetitor und stellvertretenden Studienleiter der Bayerischen Staatsoper, studieren konnte. Er ist ein erfahrener Strauss-Kenner, und wir haben viel ausprobiert, vor allem auch bei den Atemphrasierungen. Musikalisches Atmen ist für mich ein großer Teil der Interpretation. Wie lang ist eine Atempause? Wo wird sie gesetzt? Atmet man, um vor einer wichtigen Phrase innezuhalten, oder um den Ton am Ende so lange zu halten wie noch niemand zuvor? Das sind musikalische Entscheidungen, die man im Vorfeld für sich trifft, um sich die Rolle emotional anzueignen.
MJ Durch Ihre Partien in Elektra, Ariadne auf Naxos, Der Rosenkavalier und Arabella kennen Sie Strauss und seine rhythmischen Überlagerungen bereits sehr gut. Auch seine Lieder singen Sie regelmäßig. Was genau sagt Ihnen bei dieser Musik zu?
MP Meine Stimme hat seinen unverkennbaren Stil inzwischen wohl inhaliert. Ich liebe seine farbige und oft gigantische Wucht. Bei Salome kann ich mich auf so manch üppigen Klang draufsetzen. Wenn wir dann in den letzten Probentagen gemeinsam mit dem Orchester das synkopische Ineinander erspüren und uns unter Petrenkos Händen aufschwingen dürfen, dann ist das Strauss-Nirwana erreicht.
MJ Sie haben Mozart einmal als Ihr Korrektiv bezeichnet, das Sie immer wieder auf Spur bringt. Wie groß ist die Umstellung bei Salome?
MP Es ist keine ungefährliche Partie. Deshalb versuche ich in der Tat, mozartisch zu arbeiten. Das heißt: Ich singe so schlank wie möglich, damit ich mich später noch öffnen kann. Man kann sich von der Dramatik und Lautstärke nämlich schnell verleiten lassen, da muss man aufpassen. Mozart bleibt als Basis immer da. Deshalb ist die Vorbereitung so wichtig. Aber manches lässt sich nicht einmal mit Technik überwinden. Im vergangenen Jahr ist mein Papa gestorben, und ein paar Tage später sollte ich die Vier letzten Lieder von Strauss singen. Zuerst wollte ich absagen. Aber dann habe ich beschlossen, meinem Papa diese Stücke mit auf die Reise zu geben. Es war ein unfassbar emotionales Konzert, ich habe am ganzen Leib gezittert. Am Ende war ich den Tränen nahe – aber eben auch der Wahrheit. Und das ist schön. Manchmal vergessen wir, dass es genau darum geht.
MJ Bei Salome kommt wieder der Begriff der Femme fatale ins Spiel, den wir von Ihren Interpretationen als Lulu und Medea kennen. Woher kommt der Hang zu solch dramatischen Rollen?
MP Ich habe einfach große Lust, sie zu gestalten. Obwohl mich auch eine Sophie aus dem Rosenkavalier mit ihrer Unbedarftheit, der kindlichen Begeisterung, dem Anstand und der Reinheit fasziniert hat. Aber mit dem Reiferwerden steigt mein Faible für starke Charaktere. Diese Turbofrauen sind unangepasst, machen ihr eigenes Ding, leben ihre Wahrheit. Sie tun, wofür sie brennen, und kämpfen darum. Da geht es um Liebe und Kraft, um Visionen und Durchbruch. Wünsche und Ziele von Frauen gab es schon immer, nur wurden sie lange unterdrückt. Salome will Jochanaan haben – und sie bekommt ihn. Wenn auch tot, ist das für ihre innere Erkenntnis aber doch höchst wichtig.
MJ Nun könnte man das auch kritisch sehen: Seinen Willen durchzusetzen, nur weil man es kann, ist nicht zwingend rechtens. Wenn man in Stereotypen denken möchte, ist das ein eher männliches Prinzip.
MP Das ist richtig. Archetypisch männlich. Die Ablehnung Jochanaans macht Salome wahnsinnig. Die Wut darüber bleibt zunächst noch an der Oberfläche. Aber in dem Moment, als Herodes sagt, sie könne haben, was sie wolle, wenn sie für ihn tanzt, wächst in ihr die mörderische Racheidee. Salome öffnet mit ihrem unbeugsamen Willen die Büchse der Pandora.
MP Sie haben mich zu einer komplexen Frau gemacht, die all die Gefühle ihrer Rollen kennt und in sich hat. Wie ein Kuchen mit 280 Stücken. Der große Balanceakt ist, das Leben genügend auszukosten und gleichzeitig die Emotionen in ihren Schranken zu halten, um nicht in der Klapsmühle zu landen.
MJ Sehen Sie da bei sich eine Gefahr?
MP Ich bin mit den Jahren ein sehr bewusster und achtsamer Mensch geworden. Ein Vorteil des Älterwerdens. Vor der Klapsmühle kommt die Achtsamkeit.
MJ In Bezug auf das Älterwerden haben Sie einmal gesagt, dass Schweigen immer wichtiger wird. Was lernen Sie beim Zuhören?
MP Man lernt, die Aufmerksamkeit vom Ego abzulenken. Wenn man schweigt, sich zur Ruhe setzt, hat die Seele Zeit zu sprechen. Dann erst merkt man, ob man mit sich auf dem richtigen Weg ist oder nicht. Aber Abschalten wird immer schwieriger, weil die Anforderungen zunehmen und man permanent performen muss. Wer traut sich heute, Pausen einzufordern? Voriges Jahr stand ich kurz vor einem Burnout, mein Körper war nicht mehr imstande, irgendwas zu tun. Das war knapp. Ich habe dann im Dezember alle Termine abgesagt und bin nach Indien gereist. Mir kam damals erstaunlich viel Verständnis entgegen. Ich bin inzwischen lange genug im Geschäft, um zu wissen, dass mich das nicht meine Karriere kostet. Die jungen Sänger dagegen wissen das noch nicht. Sie lassen sich verheizen, weil sie es nicht besser wissen. Es wäre gut, wenn wir langsam anfangen umzudenken und dem Menschsein wieder mehr Raum schenken.
Das Gespräch führte Sarah-Maria Deckert.