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Aus der Welt genommen
Regisseur Manuel Schmitt hat eine Dokumentation über einen Mann gedreht, der auf seine Hinrichtung wartet. Nun macht er daraus ein Musiktheaterstück. Über die Unmenschlichkeit eines Lebens in völliger Isolation.
Text Julian Dörr
Texas, 2016. Es gibt hier nichts, an dem man sich festhalten könnte. Das Land ist flach, die Straßen schnurgerade. Der Himmel ist weit, blau und unerreichbar. Aus einer Wiese wachsen die weißen Mauern der Allan B. Polunsky Unit, ein Staatsgefängnis nahe der Kleinstadt Livingston im Süden der USA. Hier warten die vom Bundesstaat Texas zum Tode Verurteilten auf ihre Hinrichtung. Drinnen, im Besucherraum des Todestrakts, sitzt ein schwarzer Mann im weißen T-Shirt und weißer Weste. Gefängniskleidung. Von seinem Besucher trennt ihn eine hohe Glasscheibe. Die beiden Männer können sich anschauen, sie können miteinander reden. Aber sie können sich nicht berühren. Der Mann hinter dem Glas ist Gerald Marshall, Häftling Nr. 999489, zum Tode verurteilt wegen Mordes. Der Mann vor dem Glas ist Manuel Schmitt. Marshall erzählt Schmitt von seinem Alltag im Todestrakt der Polunsky Unit, in dem er seit seiner Verurteilung im Jahr 2004 sitzt. Zwölf Jahre Warten auf den Tod.
Diese Szene ist Teil der halbstündigen Dokumentation Glass Between Us aus dem Jahr 2017, die Manuel Schmitt über den Todestraktinsassen gedreht hat. Seine erste Doku. Denn eigentlich ist Schmitt Theaterregisseur. Und als solcher interpretiert er in diesem Sommer die Geschichte von Gerald Marshall als Musiktheater – im Rahmen der Festspiel-Werkstatt der Münchner Opernfestspiele.
Man erreicht Manuel Schmitt, Jahrgang 1988, am Abend zwischen zwei Terminen. Es gibt noch viel zu besprechen vor der Inszenierung von Requiem für einen Lebenden an der Bayerischen Staatsoper. Am nächsten Morgen wird Schmitt nach China fliegen, um von dort aus weiter nach Nordkorea zu reisen. Das Land feiert dann den Geburtstag von Staatsgründer Kim Il-sung mit großen, aufwendig choreographierten Paraden. Diese Masseninszenierungen faszinieren Schmitt. Er möchte sie mit eigenen Augen sehen, „solange es Nordkorea noch gibt“.
Eine grundlegende Frage zum Einstieg: Wie kommt ein Theaterregisseur aus Mülheim an der Ruhr dazu, einen Dokumentarfilm und eine Oper über einen verurteilten Mörder aus Texas zu machen? Schmitt holt aus: Vor einigen Jahren inszenierte er ein Stück über Senioren in einem Altenheim. Eine Live-Performance mit dokumentarischen Aspekten. Eine der Schauspielerinnen stand damals als Brieffreundin in Kontakt mit zum Tode verurteilten Gefängnisinsassen. Sie zeigte Schmitt einen Brief. „Da hat mich das Thema angefixt“, sagt er, „ich fand erzählenswert, wie diese Männer ums Überleben kämpfen, um faire Prozesse. Und auch, wie sie damit umgehen, seit Jahren abgeschottet zu sein von der Außenwelt.“
Weltweit ist die Zahl der Hinrichtungen in den vergangenen zehn Jahren rückläufig, wie ein aktueller Bericht von Amnesty International zeigt. Immer mehr Länder wenden sich von der Todesstrafe ab. In den USA sitzen zurzeit etwa 2.800 Menschen im Todestrakt. Auch wenn Hinrichtungen de facto im ganzen Land möglich sind, haben heute 23 Bundesstaaten die Todesstrafe abgeschafft oder ausgesetzt. Nicht so in Texas, wo Gerald Marshall sein Leben damit verbringt, auf seine Hinrichtung zu warten.
Warum ist es gerade dieser Fall, der Manuel Schmitt fasziniert? „Das Spannende an Gerald ist, dass er nicht diesem Mörderklischee entspricht“, sagt der Regisseur. „Es ging mir von Anfang an nicht darum, den brutalsten Menschen der Welt zu interviewen und diese Gier nach dem Bösen zu befriedigen.“ Schmitts Hauptargument aber ist eine biographische Besonderheit: Geralds Sohn Jaelon. Der wurde geboren, als sein Vater zum Tode verurteilt wurde – beinahe auf den Monat genau. Es ist diese Vater-Sohn- Beziehung, die im Zentrum von Glass Between Us und Requiem für einen Lebenden steht. „Der eine kommt gerade in die Welt und hat alles Potenzial. Und gleichzeitig wird der Vater aus der Welt rausgenommen.“
Zur Zeit der Dreharbeiten ist Jaelon Marshall zwölf Jahre alt. Ein Junge auf der Schwelle zum Teenageralter, der Xbox spielt und mit seinem Fahrrad durch die texanische Vorstadt fährt. Dem Filmteam aus Deutschland zeigt er alte Fotos von Gerald. Er sammelt sie. Wenn Jaelon seinen Vater besucht, fragt dieser ihn nach Hausaufgaben. Jaelon will später einmal Polizist werden. Um der Welt zu helfen. Und böse Menschen aufzuhalten. Auf dem Sofa, auf dem ihn Manuel Schmitt und sein Kameramann interviewen, rutscht Jaelon nach vorne. „Ich würde gerne zu ihm rübergehen und ihn umarmen“, sagt der Junge. „Aber dort, wo er ist, darf man keinen Kontakt haben. Man darf sich nicht berühren. Da ist Glas zwischen uns.“ Jaelon hat noch nie die Hand seines Vaters gespürt, noch nie seinen Geruch gerochen.
Gerald Marshall bekommt selten Besuch. Seine Schwester Julia, die Schmitt in ihrem Haus trifft, schafft es nicht, zu ihrem Bruder in den Todestrakt zu fahren. Sie habe die meiste Zeit ja nicht einmal ein Auto gehabt, sagt sie. Es klingt wie eine Ausrede. Schmitts eigener Besuch im Todestrakt war mit einigen bürokratischen Hindernissen verbunden: „Der Antrag und das ganze Verfahren waren wahnsinnig aufwendig.“ 2014 ist Schmitt zum ersten Mal in Kontakt mit Marshall, zwei Jahre später betritt er den Todestrakt der Polunsky Unit. Er bekommt 60 Minuten mit Gerald – auf die Sekunde genau abgemessen. Trotz strikter Vorschriften ist es die Alltäglichkeit der Umstände für alle um ihn herum, die Schmitt von seinem ersten Besuch im Todestrakt am deutlichsten in Erinnerung geblieben ist.
Schmitt erlebt Marshall bei diesem Besuch als sympathischen, ruhigen Menschen: „Relativ belesen, fast besonnen, einer, der sich sehr viel mit seinem Schicksal beschäftigt. Gleichzeitig merkt man seinen Aussagen aber auch einen sehr lang andauernden, mittlerweile vielleicht etwas müde gewordenen Kampf um sein Recht an.“ Im Todestrakt hat Gerald Marshall ein Buch geschrieben, es heißt 999489: From Foster Care to Texas Death Row. Aus der Pflegefamilie in den Todestrakt. Der Titel ist eine ziemlich exakte Beschreibung seines Lebens.
Geboren wird Gerald Edward Marshall am 11. Juli 1982 in Bell County, in der Nähe von Austin. Seine Eltern sind drogenabhängig, er lebt abwechselnd beim Vater, bei der Mutter oder bei Pflegeeltern. Als Kind wird er geschlagen und misshandelt. Später kommt er immer wieder mit dem Gesetz in Konflikt. Seine Lebensgeschichte ähnelt denen so vieler schwarzer junger Männer aus ärmlichen Verhältnissen. Es ist eine Geschichte von strukturellem Rassismus, eine Geschichte von einem Leben ohne Möglichkeiten.
Am 11. Mai 2003 betreten Marshall und drei weitere Männer eine Filiale der Fast-Food-Kette „What-A-Burger“ in Harris County, Texas. Während des Raubüberfalls wird ein Angestellter des Restaurants erschossen. In Texas steht darauf die Todesstrafe. Ein Jahr später wird Marshall von einer Jury verurteilt. Gerald selbst sagt, dass er unschuldig sei. In der Doku erzählt er vom Überfall: „Ich wusste, dass etwas passiert ist, als ich den Schuss hörte. Aber ich dachte, es sei mein Freund gewesen.“
Hat sich Schmitt im Zuge seiner Recherchen Gedanken über die Schuld oder Unschuld von Gerald Marshall gemacht? Am anderen Ende der Leitung zieht Schmitt hörbar Luft ein. „Ja, das passiert natürlich immer wieder.“ Man wäge ab. „Was feststeht“, sagt er, „ist, dass der Prozess nach unserem Verständnis überhaupt keinen juristischen Wert hat.“ Reto Finger, der Autor des Librettos von Requiem für einen Lebenden, sei selbst Jurist, erzählt Schmitt, bei dem habe sich der Magen umgedreht, als er von den Details des Prozesses erfuhr. Hinzu kommt, dass Gerald schwarz ist. Sein Urteil: wahrscheinlich von einem rassistischen Bias beeinflusst.
Schmitt will in seiner Arbeit nicht die Frage nach Schuld oder Unschuld von Gerald Marshall beantworten. Es geht ihm nicht um eine juristische Aufklärung des Falls. Er will seinen Zuschauern die Möglichkeit geben, diesen Menschen kennenzulernen und die Umstände, in denen er lebt. „Früher oder später stellt sich dann die Frage: Hinrichtung, ja oder nein? Und wenn ja, für was? Sind wir der Ansicht, dass das ein Monster ist, das aus der Welt genommen werden muss? Als Racheaktion? Oder empfindet man Mitleid, glaubt an Besserung?“ Glass Between Us ist deshalb auch weniger eine Doku über die Todesstrafe als eine Geschichte über menschliche Beziehungen und darüber, wie man sie in der absolut unmenschlichen Ausnahmesituation der Isolation aufrechtzuerhalten versucht.
Wie bringt man so eine Doku nun auf die Theaterbühne? „Letztendlich gar nicht“, sagt Schmitt. „Es geht nicht darum, den Dokumentarfilm als Theaterstück darzustellen.“ Für den Regisseur stand von Anfang an fest, dass er ein Musiktheaterstück umsetzen möchte. Bei der Recherche zum Fall Marshall aber wurde Schmitt klar, dass die erste Auseinandersetzung mit diesem Stoff zunächst einmal nur dokumentarisch sein kann. „Und wenn ich schon hinfahre nach Texas, dann versuche ich eben das Material zu archivieren, Bilder zu machen, Eindrücke zu sammeln.“ Die Doku sieht Schmitt als notwendigen Rechercheschritt, der sich zu einem eigenständigen Werk entwickelt hat. Der Ausgangspunkt aber ist das Theatrale: „Bevor ich in Amerika war und den ersten Film gedreht habe, hatte ich schon Gespräche mit der Staatsoper in München.“
Der Fall Marshall ist für Schmitt eine Inspiration. Im Zentrum von Requiem für einen Lebenden steht ein fiktiver Häftling, die Figuren basieren lediglich auf den Beziehungen der realen Personen. „Ich fände es falsch, einen Menschen, der – während wir diese Aufführung machen – am anderen Ende der Welt in einer Todeszelle sitzt, mit einem Schauspieler realistisch und naturgetreu nachzuspielen.“ Im Musiktheater werden dokumentarische Fakten durch Emotionen ersetzt. Durch die Musik bewege man sich auf einem ganz anderen Feld, sagt Schmitt, man sei dichter an der Geschichte dran. „Dadurch dass da ein realer, lebender Mensch vor einem auf der Bühne steht, können wir eine Nähe schaffen, die ein Dokumentarfilm, der tausende Kilometer entfernt gedreht wurde, vielleicht nicht erzeugen kann.“
Ein Mann wartet auf seine Hinrichtung. Für Schmitt ist das ein sehr theatraler Stoff: „Wir haben in der Oper eigentlich fast jeden Abend den Fall, dass Figuren sterben, dass sie umgebracht werden, hingerichtet werden oder sich selbst töten.“ In Requiem für einen Lebenden wird der Todeszelleninsasse von einem Schauspieler gespielt, es ist die einzige Rolle im Stück, die nicht gesungen wird. Der Mann, der auf den Tod wartet, er hat keine Stimme mehr. Wie kann man als Mensch existieren, wenn man schon aus der Welt gerissen wurde, bevor man überhaupt stirbt? Die Geschichte, die hier erzählt wird, ist die Geschichte eines Menschen, der sich nirgendwo mehr festhalten kann außer an der Gewissheit seines Todes.
Julian Dörr lebt und arbeitet als freier Journalist und Autor in Berlin. Er schreibt über Pop, gegen Sexismus, Rassismus und Diskriminierung und für soziale Gerechtigkeit.