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Wellen schlagen

Bis jede Zelle vibriert: Die niederländische Opernregisseurin und Choreographin Nanine Linning will in ihren Arbeiten räumliche und mentale Grenzen überwinden. Wie sie die Tänzer innen und Tänzer des Bayerischen Staatsballetts dafür zu einer Einheit formt. Ein Porträt.

Bei unserem ersten Treffen trägt Nanine Linning einen imposanten Ring, quadratisch, wenn nicht kubistisch. Das Schmuckstück, das sie sich eigens von einem Juwelier anfertigen ließ, basiert auf einem kantigen Block und wird von einem filigranen Y geziert. Die Künstlerin sieht hierin ein Symbol, im Sinne zweier Ströme, die zusammenfließen. Oder eine Gabelung. „Dort liegt die Essenz des Lebens“, sagt sie. „Aus zwei wird eins, oder umgekehrt.“ Hinzu kommt das Wortspiel. Auf Englisch klingt das Y wie „Why“: Warum? Die Frage ist die ständige Begleiterin einer kritischen Beobachterin, die sich nicht mit Gegebenem abfinden will. Linning will gestalten, Stellung beziehen, sich einmischen. „Meine Stücke handeln von der Freiheit als Notwendigkeit. Ohne Freiheit gibt es keine Kunst, und ohne Redefreiheit kann ich als Künstlerin nicht existieren.“

Es scheint, als könne man alles von ihr fordern, außer Banales. In ihren Stücken bricht sie eingefahrene Strukturen auf. Es ist sogar geschehen, dass sie das Publikum eingeladen hat, die Präsenz, ja selbst den Atem der Tänzer direkt zu erfahren und dazu auf der Bühne Platz zu nehmen. Für ihre Arbeit DUO – For 16 dancers and 9 musicians erfindet sie eine spezifische Szenographie. In der Münchner Reithalle werden neun Musiker in der Mitte zweier Spielflächen sitzen, auf denen sich sechzehn Tänzer verteilen. Es geht um das Überwinden räumlicher und mentaler Grenzen: „Der Tanz soll eine Art Wind sein, der auf der einen Seite entsteht und dann über das Orchester hinwegfegt, um auf der anderen Seite von den Tänzern aufgenommen zu werden.“ Die Metapher steht mit jeder Faser ihres Körpers in Einklang.

Foto: Sigrid Reinichs

Probenfoto mit Tänzern des Bayerischen Staatsballetts

Nanine Linning stammt aus Amsterdam. Im Ballett saal wirkt sie gänzlich sturmerprobt und scheint jedem Wind zu trotzen. Für Ruhe oder gar Stillstand hat sie ohnehin keine Zeit, sie weiß auch kaum zu benennen, wo sie wirklich wohnt. Vier Monate hier, vier Monate dort: Die Opernregisseurin und Choreographin ist wahrhaft eine fliegende Holländerin. Einmal pro Jahr bereist sie Japan, ein Land, in dessen Kultur und Bühnentradition sie sich heimisch fühlt. Kabuki- und Nō-Theater gehören zu ihren Leidenschaften. Dort gibt es keine Trennung von Musik, Text und Tanz. Ganz so sieht ihr eigenes künstlerisches Ideal aus. Ihr Flug ins Reich der aufgehenden Sonne war in diesem Jahr besonders bedeutsam. „Ich wollte erstmals meine Mutter mitnehmen. Aber sie war bereits zu krank. So bin ich in Begleitung meines Vaters geflogen. Und wir haben dann einen Teil der Asche meiner Mutter in einem Zen-Garten verstreut.“

Als Buddhistin definiert sie sich dennoch nicht, auch wenn sie sich manchmal ganz in Weiß kleidet, wenn sie eine Opernaufführung besucht. Statt in einer bestimmten Religion erzogen ihre Eltern sie im Geist von Kultur, Architektur und Kunst. „Sie führten mich in Museen, Opernhäuser, Kirchen, ließen mich schon früh Violine spielen, unterstützten mich bei jedem meiner Projekte.“ Heute inszeniert Nanine Linning an großen Opernhäusern und leitet die Geschicke ihrer eigenen zeitgenössischen Tanzcompagnie in Baden-Württemberg, im Geist der Weltoffenheit und des eigenständigen Denkens jenseits aller Formatierungen. So entstehen die Zeugnisse ihres Ausdruckswillens, vom Gesamtkunstwerk bis zum Ring. Nicht Richard Wagners Ring, natürlich. Sondern jener, der ihre Hand schmückt und deutlich macht, dass es zwischen der Künstlerin Linning und dem Privatmenschen Nanine keine Trennung gibt. „Alles fließt in meine choreographische Arbeit ein.“

Sogar Kostüme für ihre Aufführungen hat sie schon entworfen. Für DUO arbeitet sie in engem Austausch mit der in Antwerpen ansässigen Modedesignerin Irina Shaposhnikova. Die wiederum gehört zur neuen Garde, die mit revolutionären Textilien aus dem 3-D-Drucker die Haute Couture aufmischt, angeführt von der zum Weltstar aufgestiegenen Niederländerin Iris van Herpen, die für sechs Produktionen der Nanine Linning Dance Company aktiv war. Die Recherche zu den Kostümen für DUO geht von einer besonderen Vision aus: „Wir haben uns vorgestellt, die Klangwellen der Musik könnten sich in ein dreidimensionales Objekt verwandeln, das deren Rhythmus widerspiegelt.“ Hans Abrahamsens Musik wiederum kommt nicht aus dem 3-D-Drucker, sondern ist von vorne bis hinten analog erdacht. Der kammermusikalische Zyklus widmet sich einem nordischen Thema: dem Schnee. Da fordert die Natur ihre Rechte ein, genau wie in einem zentralen choreographischen Motiv, direkt vom Wellengang des Meeres inspiriert und entstanden während der ersten Phase der Recherche in den Studios des Bayerischen Staatsballetts.

Unser Leben ist bestimmt von Wellen, von sichtbaren und unsichtbaren, aus Licht, Schall, Reizen und Gefühlen, die innere, räumliche oder physikalische Sphären durchqueren. So geht es Linning gerade in dieser Produktion um das Paradoxon, in einer besonders großzügigen und offenen Architektur des Bühnenraums ein intimes Erlebnis zwischen den Künstlern und den Zuschauern zu schaffen. Am Ende sollen alle zusammenfinden, sodass ein Gefühl von Vertrautheit entsteht, ähnlich wie zwischen den Tänzern im Studio.

Foto: Sigrid Reinichs

Probenfoto mit Tänzern des Bayerischen Staatsballetts

Denn auch dort ist das nicht selbstverständlich. Schließlich sind Balletttänzer darauf getrimmt, individuell Höchstleistungen abzurufen und sich dabei gegenseitig Konkurrenz zu machen. Und hier?

„Schon nach zwei Tagen Arbeit entstand eine Gemeinschaft“, sagt die Choreographin. „Weil sie ihre Antennen ausfahren, weil sie als Gruppe atmen und sich in allen Köpfen derselbe Film abspielt.“ Die Tänzer finden nur bestätigende Worte. Matteo Dilaghi und Stefano Maggiolo freut, dass sie sich hier „als Teil eines Projekts“ fühlen. Zum einen stellte Nanine Linning gleich zu Beginn ihre Vision in Wort und Bild vor: „Sie zeigte uns am Bildschirm, wie die Kostüme, die Bühne, das Lichtdesign und die Projektionen aussehen sollen.“ Den Tänzerinnen Sinéad Bunn und Madeleine Dowdney gefällt die lebendige Zusammenarbeit, die auf einer beiderseitigen Beziehung beruht: „Sie möchte, dass wir uns an der Kreation beteiligen. Und sie ermutigt uns, ganz ohne Vorbehalte. Sie erlaubt uns, Lösungen zu erarbeiten und ihre Tanzsprache zu verstehen.“ Dilaghi erklärt, was die Gemeinschaft zusammenschweißt: „Wir spüren einander ständig. Es gibt keine gezählten Schritte. Wir müssen die Motive gemeinsam erarbeiten, die Bewegung der anderen spüren. Wir tanzen als Team.“ Und es würden ganz andere Muskeln beansprucht als im Ballett, der Tanz sei geerdeter, so Dowdney. Linnings ruhige, positive und motivierende Energie, der Spaß daran, selbst kreativ zu sein, und die Osmose zwischen den Ensemblemitgliedern helfen über die neue Art körperlicher Ermüdung hinweg.

Foto: Sigrid Reinichs

Probenfoto mit Tänzern des Bayerischen Staatsballetts

Der Prozess im Ballettsaal entspricht Linnings Blick auf den Planeten, die Menschheit und den Körper: „Jede Zelle vibriert in ihrem eigenen Rhythmus und will sich mit anderen Zellen synchronisieren. So ist alles miteinander verbunden.“ Ihr Bild ist dabei wiederum vom Meer geprägt. Es ist die Strömung der Gezeiten, als Metapher für die Umweltfrage allgemein, weshalb Linning auch die Entwicklung der wissenschaftlichen Erkenntnisse verfolgt, insbesondere das Bioengineering. „Es geht um die Frage, was mich zu dem macht, was ich bin, und ob wir bald in einer Welt leben werden, die komplett von Algorithmen beherrscht wird.“ Kaum jemand will das, und Tänzer schon gar nicht.

Nanine Linning

So schließt sich der Kreis, der bei ihrem Ring beginnt. Linning will begreifen, was auf die Menschheit zukommt, und es kritisch hinterfragen. Und sie will an der Debatte teilhaben, ganz wie sie ihre tanzenden Interpreten im Studio an der Kreation partizipieren lässt und das Publikum in die Aufführung einbindet.

Die Körper der Tänzer sind das Medium, durch das sie dann die alles entscheidende Frage stellt: „Wie werden wir weiter auf diesem Planeten zusammenleben?“

Text: Thomas Hahn

Thomas Hahn studierte Sprach- und Theaterwissenschaften in Hamburg und Paris, wo er seit 1990 lebt. Er ist Korrespondent von tanz und Bühnentechnische Rundschau, schreibt für diverse französische Kulturzeitschriften und ist als Autor für das Pariser Théâtre de la Ville und weitere Kulturinstitutionen sowie Festivals in Frankreich und Deutschland tätig.

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