Reallabore – the way forward.

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Reallabore – the way forward. Kernforderungen aus Sicht der deutschen Industrie für die neue Legislaturperiode 2021-2024

18. Mai 2021 Kernforderungen zur künftigen Ausgestaltung der Reallabore in Deutschland und der EU aus Sicht der deutschen Industrie Nationale Ebene: 1. Konsistenter Einsatz von Reallaboren als innovationspolitisches Mittel: die Bundesregierung sollte das Instrument Reallabore und Experimentierklauseln konsequent in alle innovationspolitischen Vorhaben und Gremien integrieren. Dies gilt für legislative Vorhaben und auch für die Diskussion auf Gremienebene (z.B. Hightech Forum). Die bisherigen Aktivitäten des BMWi-Netzwerks Reallabore wie die Netzwerkevents sowie der Innovationspreis Reallabore sollten kontinuierlich ausgebaut werden. Ziel sollte es sein, dass noch mehr Unternehmen und Innovatoren – auch Startups und KMUs – dabei unterstützt werden, ihre technologische Innovation in Experimentierklauseln und Reallaboren zu testen. Die Erkenntnisse aus Reallaboren sollten systematisch evaluiert werden. Der BDI schlägt die Einrichtung eines regelmäßigen Reallabore-Dialogs mit relevanten Stakeholdern von Unternehmen, Politik, Verwaltung und Gesellschaft vor. 2. Rechtliche Sicherheit für teilnehmende Unternehmen schaffen: Innovationen in kapitalintensiven Sektoren erfordern auch im „Testmaßstab“ eines Reallabors ein großes finanzielles Commitment. Es muss daher sichergestellt werden, dass teilnehmende Unternehmen ausreichende Rechtssicherheit haben. Dies betrifft unter anderem kartell- und beihilferechtliche Fragen, den Umgang mit Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen sowie Fragen des geistigen Eigentums an den im Reallabor entwickelten Forschungsergebnissen. 3. Experimentierklausel-Check analog dem BDI Innovations-Check in der Gesetzesfolgenabschätzung (GFA) einführen1. Die deutsche Industrie fordert die systematische Verankerung von Experimentierklauseln in der Gesetzgebung und begrüßt das Vorhaben des BMWI, über ein Bundesexperimentiergesetz die Rahmensetzungen für Reallabore grundsätzlich zu verbessern. Es muss die Möglichkeit geben, Alternativen zur aktuellen Gesetzgebung auszuprobieren oder neue Ideen auch ohne langwierige Gesetzgebungsänderungen durchzusetzen. 4. Übergreifende Vorgaben für leistungsstarke und rechtssichere Experimentierklauseln schaffen. Die verschiedenen Erfahrungen zu Art und Struktur der Experimentierklauseln sollten in einem übergreifenden Rechtsrahmen zusammengefasst und verankert werden. Dieser Rahmen sollte als Vorlage für künftige Experimentierklauseln dienen. Die Vereinheitlichung und

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Vgl. BDI Innovations-Check in der GFA, abrufbar unter: https://bdi.eu/media/user_upload/20160711_Studie_InnovationsCheck-in-der_Gesetzesfolgenabschaetzung.pdf Christian Rudelt | Digitalisierung und Innovation | T: +49 30 2028-1572 | c.rudelt@bdi.eu | www.bdi.eu


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Verbesserung der rechtlichen Grundlagen könnte dann für mehr regulatorische Agilität sorgen und Anwendung und Nutzen von Reallaboren für Unternehmen, Behörden und Gesetzgebung nachhaltig stärken. 5. Einrichtung einer Bundesbehörde als One-Stop Shop Beratungsstelle für Reallaboren/Experimentierklauseln: die deutsche Industrie fordert die Einrichtung einer zentralen Anlauf- und Beratungsstelle für innovative Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die ihre Technologien bzw. Geschäftsmodelle in einem Reallabor testen möchten. Sinn und Zweck dieser Beratungsstelle sollte es sein, Unternehmen schnell, unbürokratisch und kostenfrei Hilfestellung bei allen Fragestellungen rund um den Aufbau eines Reallabors zu geben. Europäische Ebene: 1. Experimentierklauseln bei der Ausarbeitung und Evaluierung von EU-Recht systematisch mitdenken: Wie der Rat in seinen Schlussfolgerungen zu Reallaboren im November 2020 fordert, sollten die Kommissionsdienste bei der ex-ante Ausarbeitung neuer EU-Rechtsakte sowie bei der ex-post Evaluierung bestehender Akte bzw. -Rahmen die Möglichkeit von Experimentierklauseln künftig systematisch prüfen. Im Fokus stehen sollten dabei Bereiche schneller technologischer Entwicklung und Innovation und insbesondere Schlüsseltechnologien. Die neu geschaffene “Fit for Future Plattform” der EU-Kommission sollte dabei künftig noch stärker dazu beitragen, Rechtsakte zu identifizieren, in denen Experimentierklauseln und Reallabore berücksichtigt werden können. 2. Innovationscheck (Instrument 21) systematisch anwenden und ausweiten: Der Innovationscheck gemäß Instrument 21 muss bei allen Initiativen mit möglichen Effekten auf Forschung, Entwicklung und Innovation, vollständig angewendet werden. Der Ausschuss für Regulierungskontrolle sollte dies systematisch prüfen und sicherstellen. Kommissionsdienste müssen auf eine klare, praxisnahe und benutzerfreundliche Anleitung und Methodologie zurückgreifen können. Dies setzt u.a. folgende Aspekte voraus: ▪

Eine von allen EU-Institutionen akzeptierte Arbeitsdefinition von Experimentierklauseln und Reallaboren auf Basis der Schlussfolgerungen der deutschen Ratspräsidentschaft;

Eine Klärung des Terminus „Flexibilität“ im Zusammenhang mit der Anwendung von EURecht durch die nationalen Behörden. Nationale Behörden, die EU-Recht um- und durchsetzen benötigen klare Vorgaben und Rahmenbedingungen aus Brüssel;

Eine Beschreibung bisheriger „Best-Practice-Erfahrungen“ auf nationaler und europäischer / internationaler Ebene;

Eine kontinuierliche Anpassung / Überarbeitung des Instruments an neue Entwicklungen

3. Ratsschussfolgerungen zu Reallaboren nachverfolgen und ausbauen: Die EU-Institutionen sollten ein umfangreiches Rahmenwerk für Reallabore auf EU-Ebene erarbeiten. Die Wirtschaft sollte aktiv in diesen Prozess mit einbezogen werden. Die deutsche Industrie wird das Screening der EU-Kommission aktiv begleiten und eigene Vorschläge für mögliche Reallabore auf EU-Ebene erarbeiten. 4. Reallabore im Rahmen der Horizont-Europa-Missionen unbürokratisch ausgestalten: Die im Rahmen der Missionen unter Horizont Europa zu schaffenden Reallabore müssen klar strukturiert sein. Sie müssen Probleme thematisieren, die ein ausreichendes Interesse von Seiten der Unternehmen gewährleisten. Die Teilnahme von Unternehmen an den Reallaboren muss unkompliziert und unbürokratisch sein. Die Arbeit muss transparent durchgeführt und von der Kommission gezielt kommuniziert werden.

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Inhaltsverzeichnis Kernforderungen zur künftigen Ausgestaltung der Reallabore in Deutschland und der EU aus Sicht der deutschen Industrie ............................................................................................................ 1 Einleitung ............................................................................................................................................. 4 Was sind Reallabore und Experimentierklauseln? .......................................................................... 4 Charakteristika von Reallaboren und Experimentierklauseln ............................................................... 5 Nationale Ebene: bisherige Aktivitäten & Lessons Learned zu Reallaboren in Deutschland .... 7 Anwendungsfelder für die Industrie ....................................................................................................... 9 Reallabore im Energieforschungsbereich ............................................................................................. 9 Nationale Ebene: Best-Practices von Reallaboren in Deutschland ............................................. 10 1.

Medifly Hamburg - medizinischer Luftfrachtdienst mit unbemannten Luftfahrzeugen ................ 10

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Robo-Ident-Technologie von Nect............................................................................................... 10

Europäische Ebene: bisherige Aktivitäten & Lessons Learned zu Reallaboren auf EU-Ebene 11 Reallabore und bessere Rechtsetzung: Der Innovations-Check ........................................................ 12 Ratsschlussfolgerungen der deutschen Ratspräsidentschaft ............................................................. 13 Nächste Schritte .................................................................................................................................. 14 Impressum ......................................................................................................................................... 15

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Einleitung Ohne konsequente Forschung und Entwicklung sowie mutige Innovationen werden weder der deutsche Standort noch die deutschen Unternehmen langfristig bestehen. Daher ist es fundamental wichtig, dass nationale und europäische Gesetzgeber und Innovatoren Hand in Hand an der Zukunftsfähigkeit der Wirtschaft und Gesellschaft arbeiten. Nur so können die großen Herausforderungen unserer Zeit wie beispielsweise der Klimawandel bewältigt und zugleich die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen gesichert werden. Innovation und neue (digitale) Technologien spielen in diesem Prozess eine entscheidende Rolle. Ob fliegende Drohnen, die Gewebeproben digital gesteuert von Krankenhaus zu Krankenhaus fliegen, autonome Fahrzeuge oder die Impfstoffentwicklung gegen Pandemien wie COVID-19 sowie neue Produktionsverfahren, die Kunststoffe als Rohstoffe zusammen mit Windenergie nutzen: digitale Technologien und innovative Lösungen bieten enorme Potenziale für Unternehmen, Industrieproduktion und Gesellschaft. Und viel mehr noch, sind sie doch der zentrale Schlüssel zur erfolgreichen digitalen und ökologischen Transformation der Gesellschaft. Für den Gesetzgeber ist es eine große Herausforderung, mit diesem hohen Tempo und der Innovationsdynamik Schritt zu halten. Oft hinkt der Gesetzgebungsprozess hinterher bzw. hat noch keinen passenden rechtlichen Rahmen für die neue Technologie gefunden – man denke an die langwierigen Diskussionen auf nationaler, aber auch europäischer Ebene zur Regulierung von KI. Deshalb sind Reallabore und Experimentierklauseln von immenser Bedeutung. Diese Instrumente sorgen dafür, dass nicht in Forschung, Innovation und Technologie, sondern auch in der Regulatorik erprobt, überprüft, experimentiert und vor allem gelernt wird. Dies alles erfolgt sehr wirkungsvoll in Reallaboren und Experimentierklauseln, die eine hohe Relevanz für den Gesetzgeber und Unternehmen haben. 2

Was sind Reallabore und Experimentierklauseln? Reallabore und Experimentierklauseln haben viele Vorteile. Als „Testräume für Innovation und Regulierung“3 bieten sie Unternehmen die Chance, neue Technologien und Geschäftsmodelle unter realen Bedingungen zu erproben, die beispielsweise im allgemeingültigen Rechtsrahmen noch nicht zugelassen sind. Darüber hinaus helfen Reallabore dem Gesetzgeber, die Gesetze teilweise zu öffnen, an eine neue Technologie und gesellschaftliche Realität anzupassen und die Gesetzgebung insgesamt im Sinne einer innovationsoffenen Gesellschaft anzupassen. Damit wird dem Gesetzgeber die wichtige Möglichkeit eröffnet, nicht nur über Innovationen und Technologien zu lernen, sondern auch über die dazu erforderlichen und passenden rechtlichen Rahmenbedingungen – der Rechtsrahmen kann somit evidenzbasiert weiterentwickelt werden. Doch wie genau definiert man Reallabore und Experimentierklauseln? Eine sehr gute und aktuelle Definition bieten die unter Führung der deutschen EU-Ratspräsidentschaft erarbeiteten und von allen 27 EU-Mitgliedsstaaten am 16. November 2020 angenommenen sogenannten „Schlussfolgerungen des Rates zu Reallaboren und Experimentierklauseln als Instrumente für einen innovationsfreundlichen, zukunftssicheren und resilienten Rechtsrahmen zur Bewältigung disruptiver Herausforderungen im digitalen Zeitalter“.

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Im folgenden Text wird der Einfachheit halber nur das deutsche Wort „Reallabor“ verwendet und schließt damit das englische Wort „Regulatory Sandbox“ mit ein. 3 In: „Freiräume für Innovationen: Das Handbuch für Reallabore“ (herausgegeben vom BMWi); abrufbar unter https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Dossier/reallabore-testraeume-fuer-innovation-und-regulierung.html

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Reallabore werden darin definiert „als konkrete Rahmen, die, indem sie einen strukturierten Kontext für Experimente vorgeben, es ermöglichen, innovative Technologien, Produkte, Dienstleistungen oder Ansätze – aktuell insbesondere im Zusammenhang mit der Digitalisierung – wo geeignet in einer realen Umgebung für einen begrenzten Zeitraum oder in einem begrenzten Teil einer Branche oder eines Gebiets unter regulatorischer Aufsicht und Gewährleistung angemessener Schutzmaßnahmen zu erproben.“4 Experimentierklauseln werden vom Rat definiert als „Rechtsvorschriften, die es den für ihre Umsetzung und Durchsetzung zuständigen Behörden ermöglichen, für die Erprobung innovativer Technologien, Produkte, Dienstleistungen oder Ansätze von Fall zu Fall ein gewisses Maß an Flexibilität walten zu lassen, […] [der Rat] stellt fest, dass Experimentierklauseln oftmals die Rechtsgrundlage für Reallabore darstellen und bereits in Rechtsvorschriften der EU und in den Rechtsrahmen vieler Mitgliedsstaaten verwendet werden“. Die Idee eines Realexperiments ist indes in der Industrie nicht neu. Dabei nahm die Bedeutung der Demovorhaben und realitätsnahen Technologietests aufgrund der komplexen Aufgaben beispielsweise im Bereich der Energiewende in den letzten Jahren stetig zu. 5 Bei der Weiterentwicklung der bereits praktizierenden Idee eines Realexperiments zu einem regulatorischen Förderinstrument systemischen Charakters – „Reallabor“ – wird allerdings deutlich, dass neue Anforderungen formuliert werden müssen.6 Der Rat hat mit den o.g. Definitionen zwei sehr brauchbare Konzepte von Experimentierklauseln und Reallaboren aufgestellt. Es ist bemerkenswert und positiv herauszuheben, dass es gelungen ist, trotz anfänglicher Unsicherheiten bei einigen EU-Mitgliedsstaaten, eine Einigung auf eine EU-übergreifende einheitliche Definition von Reallaboren und Experimentierklauseln zu erreichen. Denn damit ist das Thema Reallabore auf der politischen Agenda in der EU und der EU-Mitgliedstaaten gesetzt, und die Kommission wurde mit einem konkreten Arbeitsauftrag zur weiteren Implementierung des Reallaborkonzepts auf EU-Ebene versehen, was an späterer Stelle in diesem Papier weiter ausgeführt wird. Charakteristika von Reallaboren und Experimentierklauseln Aus Sicht der deutschen Industrie sind Reallabore in Anlehnung an die Definition vom BMWi primär als „Testräume für Innovation und Regulierung“ zu sehen, die im Wesentlichen durch drei Elemente gekennzeichnet sind: ▪

Reallabore sind immer räumlich und zeitlich begrenzte Testräume, in denen innovative Technologien und Geschäftsmodelle möglichst unter „realen“ Bedingungen erprobt werden können.

Reallabore nutzen rechtliche Spielräume. Konkret: Experimentierklauseln oder andere rechtliche Flexibilisierungsinstrumente erlauben die (rechtliche) Erprobung von (neuen)

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In: Schlussfolgerungen des Rates zu Reallaboren und Experimentierklauseln als Instrumente für einen innovationsfreundlichen, zukunftssicheren und resilienten Rechtsrahmen zur Bewältigung disruptiver Herausforderungen im digitalen Zeitalter, S. 4, abrufbar unter: pdf (europa.eu); zuerst abgerufen am 19.2.2021 5 regionale Versuchs- und Demonstrationskonzepte entstanden, wie z. B. die Elektrolysetest- und -versuchsplattform in Leuna, der Flexibilitätsmarktplatz des Projekts Flex4Energy, das EUREF Campus in Berlin, das Reallabor Pfaff-Quartier Kaiserslautern oder das „Smart Grid Labor“ der Siemens AG 6 Position: Reallabore als Förderinstrument der Energieforschung – Perspektive der Industrie, BDI, Juni 2018

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Technologien oder Geschäftsmodellen, auch wenn diese im allgemeinen rechtlichen Rahmen noch nicht erlaubt oder überhaupt geregelt sind. ▪

Reallabore sind mit einem regulatorischen Erkenntnisgewinn verbunden. Konkret steht also nicht nur die Erprobung der neuen Technologie im Fokus, sondern auch der „rechtliche“ Erkenntnisgewinn für den Gesetzgeber. 7

In diesem Zusammenhang ist auch wichtig zu erwähnen, dass Reallabore nicht auf eine pauschale Deregulierung oder gar auch das Absenken von Sicherheitsstandards hinwirken sollen. Im Gegenteil: in vielen Bereichen können Reallabore verallgemeinerungsfähige empirische Erkenntnisse darüber liefern, welcher Rechtsrahmen für welche Technologie erforderlich ist. Darüber hinaus ist die gesellschaftliche Komponente von Reallaboren nicht zu unterschätzen. Wenn eine neue Technologie – wie beispielsweise KI-gesteuerte Drohnen – im geschützten Raum in der Nachbarschaft getestet werden und das Reallabor den gesellschaftlichen Dialog und Bürgerbeteiligung mit in den Fokus nimmt, können Berührungsängste innerhalb der Gesellschaft erfolgreich abgebaut werden. Dies ist eine zentrale Grundvoraussetzung für eine innovationsoffene und mutige Gesellschaft, die den Blick nach vorne in die Zukunft richtet.

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In Handbuch Reallabore BMWi, S. 7 ff.

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Nationale Ebene: bisherige Aktivitäten & Lessons Learned zu Reallaboren in Deutschland „Im Interesse einer besseren Rechtsetzung erproben wir die Potenziale von alternativen, insbesondere datengestützten Regulierungsinstrumenten („smarte Regulierung“) in Reallaboren.“ 8 Am 7. Februar 2018 wurde der Koalitionsvertrag zwischen den Regierungsparteien CDU, CSU und SPD für die 19. Legislaturperiode des Bundestages verabschiedet. Dies war der politische Startschuss, das Konzept der Reallabore auch von Seiten der Bundesregierung umzusetzen und weiter zu implementieren. In der Folge hat das BMWi als federführendes Ministerium vor allem zwei Aktionsstränge im Bereich der Reallabore entwickelt und vorangetrieben: 1. die Reallabore im 7. Energieforschungsrahmenprogramm sowie 2. die Reallabore-Strategie vom Dezember 2018. Die Reallabore im 7. Energieforschungsrahmenprogramm des BMWi heißen zwar Reallabore, sind vom Charakter her allerdings öffentliche Förderprogramme. Dies wird später kurz ausgeführt. Als zweiter Aktionsstrang gilt die von Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier im Dezember 2018 ins Leben gerufene Reallabore-Strategie, in der drei Zielsetzungen im Mittelpunkt stehen: 1. Mehr Spielräume für Innovationen schaffen Hierbei geht es um die Nutzung, Entwicklung und Verbreitung von Experimentierklauseln und Ausnahmeregelungen als Grundbausteine, um den Rechtsrahmen für Innovationen zu öffnen und Reallabore möglich zu machen. Ziel des BMWIs ist es, dass die o.g. Instrumente stärker Verankerung in künftigen, aber auch in bereits bestehenden Gesetzen und Verordnungen finden. Dabei geht es auch um die Frage, inwieweit allgemeingültige Aussagen für mehrere Experimentierklauseln in sogenannten „Musterexperimentierklauseln“ aggregiert werden können. Zentral ist die Frage der Abwägung von genug Flexibilität auf der einen Seite und der erforderlichen Rechtssicherheit für alle Beteiligten auf der anderen Seite. Um diese Abwägungen treffen zu können, ist der enge Austausch mit Experten und Praktikern – insbesondere aus der Industrie – unerlässlich. Denn sowohl die Unternehmen als auch die Forschungseinrichtungen, aber vor allem auch die zuständigen Genehmigungsbehörden brauchen Informationen, Rechtssicherheit und Klarheit, wenn es um die Beantragung und Durchführung von Ausnahmeregelungen geht.9 2. Vernetzen und Informieren Reallabore sind vielfältig und heterogen. Dies gilt natürlich per se für die Themen, die von Innovatoren in Reallaboren getestet werden. Vielfalt und Heterogenität findet sich aber auch in den unterschiedlichen anzuwendenden Regeln und Vorschriften in den einzelnen Regionen/Ländern, in denen Reallabore aufgesetzt werden.

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In: „Ein neuer Aufbruch für Europa - eine neue Dynamik für Deutschland - ein neuer Zusammenhalt für unser Land. Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD 19. Legislaturperiode“, S. 63, aufgerufen unter: https://www.bundesregierung.de/resource/blob/656734/847984/5b8bc23590d4cb2892b31c987ad672b7/2018-03-14-koalitionsvertrag-data.pdf 9

In Handbuch Reallabore BMWi, S. 15 ff.

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Trotz der Vielfalt sind die Herausforderungen, vor denen alle Reallabore stehen oftmals gleich. Daher ist der offene Erfahrungsaustausch und das gegenseitige Lernen voneinander essenziell – insbesondere von den noch jungen und im Aufbau befindlichen Reallaboren. Aus diesem Grund verfolgt die Reallabore-Strategie des BMWi als weiteres Kernziel die Vernetzung von Entscheidern aus Unternehmen, Industrie, Forschung und Verbänden mit der Verwaltung. Sinn und Zweck der Vernetzung ist primär der offene Austausch in Workshops und Informationsveranstaltungen und das dialogorientierte Lernen. Zu diesem Zweck hat das BMWi im August 2019 das „Netzwerk Reallabore“ ins Leben gerufen, das mittlerweile mehr als 400 Mitglieder aus Forschung, Industrie und Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen umfasst.10 Das BMWi stellt der interessierten Öffentlichkeit aus Wirtschaft, Politik und Gesellschaft ein umfangreiches Informationsangebot über Reallabore zur Verfügung. Verschiedene Beratungsorganisationen wie beispielsweise Kanzleien, aber auch das VDI-Technologiezentrum, wurden und werden mit der Erstellung von Gutachten und Fallstudien zu Reallaboren beauftragt. Eine gute, ausführliche und praxisorientierte Zusammenstellung aller Informationen zum Thema Reallabore findet sich im „Handbuch Reallabore“ wieder. Das Handbuch versteht sich als Leitfaden zur Gestaltung, Umsetzung und Evaluation von Reallaboren. Darin sind auch die Ergebnisse einer breit angelegten Online-Konsultation zu den Reallaboren vom Frühjahr 2019 eingeflossen, zu der 83 Netzwerk-Mitglieder aus Unternehmen, Start-ups, Kommunen; Ländern und Forschungseinrichtungen beigetragen haben. 11 3. Reallabore initiieren und begleiten Als dritte Säule der Reallabore-Strategie des BMWi steht die Erprobung und Verankerung von eigenen Projekten und Reallaboren in der Praxis. Kerninstrument ist dabei der am 2. Dezember 2019 vom BMWi gestartete Wettbewerb „Innovationspreis Reallabore: Testräume für Innovation und Regulierung“, mit dem Pilotprojekte unterstützt werden sollen. Das BMWi prämiert die besten Ideen sowie aussichtsreiche Projekte zu Reallaboren aus der Praxis und begleitet diese aktiv. Ziel ist es, regulatorische Hürden zu identifizieren und dabei rechtskonforme Lösungen zu entwickeln, um für etwaige Regulierung von morgen Erfahrungswerte zu gewinnen. Am 26. Mai 2020 wurden die neun Preisträger des Innovationspreises Reallabore 2020 im Rahmen einer digitalen Preisverleihung ausgezeichnet und dürfen fortan das Label „Innovationspreis Reallabore“ tragen. 12 Das BMWi steht neben den o.g. Aktivitäten im Rahmen der Reallabore-Strategie auch im Austausch mit anderen zuständigen Ressorts der Bundesregierung zur Schaffung von Experimentierklauseln, z.B. mit dem Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz (BMJV) und hat u.a. die Möglichkeit von Experimentierklauseln beim Gesetz zum autonomen Fahren (Kabinettsbeschluss vom Februar 2021) erwirkt. Abschließend sei an dieser Stelle noch auf die Broschüre „Recht flexibel – Arbeitshilfe zur Formulierung von Experimentierklauseln“ des BMWi verwiesen, die im Dezember 2020 erschienen ist. Darin legt das BMWi erstmals eine systematische und praxisorientierte Arbeitshilfe vor, die dabei hilft, rechtssichere und innovationsoffene Experimentierklauseln zu entwickeln. 13

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Weitere Informationen zum BMWi-Netzwerk Reallabore finden Sie unter: www.reallabore-bmwi.de Weitere Informationen siehe „Handbuch Reallabore – Freiräume für Innovationen“ 12 Weitere Informationen zum Innovationspreis Reallabore sowie zu den Preisträgern und Projekten finden Sie unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Wettbewerb/innovationspreis-reallabore.html 13 Weitere Informationen dazu und die Möglichkeit zum Download der Arbeitshilfe finden Sie unter: https://www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Digitale-Welt/recht-flexibel-arbeitshilfe-experimentierklauseln.html 11

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Die Reallabore-Strategie des BMWi kann als das Hauptinstrument der Bundesregierung zur Umsetzung des Koalitionsvertrags von 2018 in Bezug auf die Reallabore gewertet werden. Politisch wurde mit den Ratsschlussfolgerungen auf europäischer Ebene viel erreicht, um Reallabore europäisch voranzubringen. Auf nationaler Ebene geben die Beschlüsse der Wirtschaftsministerkonferenz vom November 2020 wichtige Impulse für die Bundesregierung, damit das Thema und Konzept der Reallabore und Experimentierklauseln auch in der kommenden 20. Legislaturperiode weitergeführt wird. Anwendungsfelder für die Industrie Reallabore bieten sich als ideale Testräume für Innovation und Regulierung in allen industriellen Branchen und bei einer Vielzahl von Technologien an. Besonders gilt dies aber dort, wo Wirtschaft und Gesellschaft durch die digitale und ökologische Transformation vor umfassenden Veränderungen stehen. Typische Anwendungsfelder für Reallabore finden sich beispielsweise im Kontext digitaler Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI), Blockchain und hinsichtlich Lösungen im Bereich des Internet of Things (IoT), deren Anwendung neue Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen hervorbringt. Will man beispielsweise herausfinden, welche Rolle autonome, KI-gestützte Flug und Fahrsysteme in den Verkehrs- und Logistiksystemen der Zukunft spielen werden, sind Reallabore unverzichtbar.14 Auch im Gesundheitsbereich – wie beispielsweise in der Telemedizin und im Bereich von E-Health – spielen digitale Anwendungen eine große Rolle, die neben den technischen Aspekten auch mit rechtlichen Fragestellungen verbunden sind. Reallabore im Energieforschungsbereich Reallabore spielen bereits heute im Bereich der nationalen Energieforschung in Deutschland eine wichtige Rolle. Vor allem im Rahmen des 7. Energieforschungsrahmenprogramms werden Reallabore als Forschungsförderinstrumente genutzt und unterscheiden sich dadurch von dem bisher beschriebenen Ansatz der Reallabore, die als rein rechtlicher Erprobungsraum (ohne finanzielle Förderkomponente) fungieren. Für die Schaffung eines modernen und nachhaltigen Energiesystems, das die Sektorenkopplung ermöglicht und die immer größeren Mengen von erneuerbaren Strom integriert, ist ein Umdenken der traditionellen Herangehensweisen und somit die Erprobung neuer Konzepte gefragt. Das Experimentieren ermöglicht es, in einem technologieoffenen Umfeld nach den technisch und ökonomisch effizientesten Lösungen zu suchen, die sich für eine spätere Umsetzung in der Praxis eignen. Die Möglichkeit eines Tests unter realen Bedingungen vermindert somit das Risiko von technologischen Fehlentscheidungen und privatwirtschaftlichen sowie staatlichen Fehlinvestitionen. Dies macht die Reallabore vor dem Hintergrund der ambitionierten klimapolitischen Ziele der Bundesregierung zum wichtigen und dringend erforderlichen Instrument der Energieforschung. Deshalb sollten Reallabore auch im Bereich der Energieforschung weiter ausgebaut werden.15

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In: Handbuch Reallabore, S. 12-13. BDI Studie ”Klimapfade für Deutschland”, 2018, abrufbar unter: https://bdi.eu/publikation/news/klimapfade-fuer-deutschland/

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Nationale Ebene: Best-Practices von Reallaboren in Deutschland Es gibt bereits einige interessante Reallabor-Projekte in Deutschland, deren Gesamtzahl aber noch zu gering ist. Hier zwei interessante Beispiele aus verschiedenen Sektoren: 1. Medifly Hamburg - medizinischer Luftfrachtdienst mit unbemannten Luftfahrzeugen

Ist es mitten in einer Metropolregion möglich, regelmäßig medizinische Proben und Medikamente sicher und zuverlässig per Drohne von Krankenhaus zu Krankenhaus zu liefern? Dies soll im Rahmen des Reallabors „Medifly Hamburg" herausgefunden werden. In einer sechsmonatigen Testphase sollen im Hamburger Stadtgebiet eilige Medikamente, Labor- und Gewebeproben im Regelbetrieb zwischen Krankenhäusern transportiert werden. Ziel ist es, unbemannte Luftfahrzeuge sicher, effizient und wirtschaftlich in den Luftraum und die Krankenhausprozesse zu integrieren. Das Projekt wird von Vertretern aus Wirtschaft, Forschung und Verwaltung durchgeführt. Beteiligt sind außerdem Krankenhäuser und Labore, die Landesluftfahrtbehörde sowie die zuständige Flugverkehrskontrollstelle. Das Projekt läuft noch bis September 2022.16 2. Robo-Ident-Technologie von Nect Die Reallabore des BMWi bieten eine Chance, neue Technologien unter Realbedingungen zu erproben. Dies hat Nect die Möglichkeit gegeben, ihre Robo-Ident-Technologie auf Basis künstlicher Intelligenz für eine deutsche Krankenkasse zum Einsatz zu bringen und so zu optimieren, dass die Nutzung des Verfahrens mittlerweile für alle Krankenkassen freigegeben ist – zum Beispiel zur Legitimation für den Zugang zur elektronischen Patientenakte oder für die Registrierung in Service Apps und in Kundenportalen. Damit können die Kassen aktiv bei der politisch und gesetzlich geforderten Digitalisierung unterstützt werden. Nachdem die Genehmigung durch das Bundesamt für Soziale Sicherung (vormals BVA) vorlag, konnte die Leistungsfähigkeit der Robo-Ident-Technologie ab Januar 2019 im Realbetrieb einer gesetzlichen Krankenkasse unter Realbedingungen erprobt werden. Die Echtdaten im Rahmen des Realbetriebs helfen, eine Auditierbarkeit der Technologie zu ermöglichen, ohne die ein Regelbetrieb für innovative Verfahren nicht möglich ist. So fordert das BSI bei KI-Systemen regelmäßig einen Nachweis über 80.000 und mehr Vorgänge im Realbetrieb, bevor die Systeme im vollautomatischen produktiven Betrieb zulässig sind.17

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Quelle: Medifly Hamburg. Weitere Informationen zum Projekt sind ersichtlich unter https://medifly.hamburg. Quelle: Benny Jürgens, Nect GmbH, weitere Informationen zum Projekt unter zu Nect erhalten Sie unter: https://nect.com/de/

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Europäische Ebene: bisherige Aktivitäten & Lessons Learned zu Reallaboren auf EU-Ebene Anders als in Deutschland ist die Debatte zu Experimentierklauseln und Reallaboren auf europäischer Ebene noch relativ neu. Die EU-Kommission unternahm den ersten Versuch mit EU-weiten regulatorischen Experimentierräumen 2017 im Rahmen ihres Aktionsplans zur EU-Kreislaufwirtschaft mit der Schaffung sog. „Innovationdeals“ Diese Deals wurden unter dem letzten EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizont 2020“ (2014-2020) umgesetzt. Innovationsdeals für Abwassermanagement und E-Mobilität In ihrem Aktionsplan zur EU-Kreislaufwirtschaft (2015) schlug die Kommission ein neues Instrument vor, um „Innovatoren, die mit regulatorischen Hemmnissen (z.B. unklaren Rechtsvorschriften) konfrontiert sind, zu unterstützen. Dies gelingt, indem Vereinbarungen mit Interessensträgern und öffentlichen Behörden (‚Innovationsdeals‘) getroffen werden“. 18 Praktisch wurde dieses Instrument in Form von zwei öffentlich-privaten Kooperationsprojekten im Rahmen von Horizont 2020 umgesetzt: 1. Innovationsdeal zum nachhaltigen Abwassermanagement durch Kombination anaerober Membrantechnologie und Wasserwiederverwendung 19; 2. Innovationsdeal „Von E-Mobilität zu Recycling: Der Zyklus des Elektrofahrzeugs“ 20. Diese Innovationsdeals wurden wie folgt definiert: „Innovation Deal ("ID") is an instrument that can be used at the initiative of innovators and is designed to bring together innovators, national/regional/local authorities in Member States and European Commission services in a voluntary, cooperative, open and transparent exercise with the aim to study in-depth whether any perceived regulatory barriers really exist in EU legislation or Member States implementing measures that hinder innovative commercial or industrial development in the Circular Economy.” 21 Die Kommission betonte ausdrücklich, dass Innovationdeals bestehendes EU-Recht nicht verletzen dürfen, sondern im Rahmen bereits existierender Experimentierklauseln im EU-Recht realisiert werden müssen. Der Innovationdeal zum Abwassermanagement lief insgesamt 18 Monate und umfasste die EU-Kommission (GD Umwelt, DG Forschung und Innovation), vier nationale und zwei regionale Behörden, sowie ein Konsortium aus drei Universitäten sowie weiteren Partnern. Die Beteiligung an dieser Initiative war jedoch gering, da Stakeholder aus der Wirtschaft diese als zu bürokratisch und kompliziert empfanden. Außerdem war angesichts der spezifischen Themenwahl keine ausreichend horizontale Betroffenheit gegeben. Die EU-Kommission beauftragte später das Centre for European Policy Studies (CEPS) mit einer Nachvaluierung dieses Projekts. Laut CEPS berichteten die Projektteilnehmer, dass insbesondere die fehlende bzw. unklare Nachbereitung durch die EU-Kommission das Potenzial des Deals limitiere und mithin die Anreize für eine (zukünftige) Teilnahme verringere.22 Auch führte dieser Innovationsdeal letztlich zu keiner Änderung am legislativen Rahmenwerk. Der zweite Innovationdeal zu E-Mobilität hatte zum Ziel, zu prüfen, ob existierendes EU-Recht das

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COM(2015) 614 final, S. 22. https://eur-lex.europa.eu/resource.html?uri=cellar:8a8ef5e8-99a0-11e5-b3b701aa75ed71a1.0004.02/DOC_1&format=PDF 19 https://ec.europa.eu/research/innovation-deals/pdf/jdi_anmbr_042017.pdf 20 https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/research_and_innovation/law_and_regulations/documents/ec_rtd_jdi_emobility_recycling_112017.pdf 21 Idem S. 4 22 https://www.ceps.eu/ceps-publications/study-supporting-the-interim-evaluation-of-the-innovation-principle/ S. 27

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Recycling bzw. die Wiederverwendung von Antriebsbatterien in Elektrofahrzeugen behindere. Involviert waren die EU-Kommission, zwei nationale Ministerien sowie Renault Nissan Alliance, Lomboxnet (KMU, Niederlande) und Bouygues (Bauunternehmen, Frankreich). Das konkrete Ergebnis und der finale Mehrwert dieses Projekts können nicht abschließend bewertet werden, da keine Evaluierung bzw. kein Abschlussbericht der Gruppe vorliegt. Fazit Die Innovationdeals waren ein erster Schritt in die richtige Richtung. Allerdings konnten sie aus mehreren Gründen nicht überzeugen. Zum einen ist es ihnen trotz ihres Bottom-up-Ansatzes nicht gelungen, ausreichende Beteiligung vonseiten der Wirtschaft zu generieren. Das ist auf mangelhafte Vermarktung durch die EU-Kommission sowie auf die von Unternehmen als zu bürokratisch empfundenen Teilnahmebedingungen und Verfahren zurückzuführen. Zum anderen hat es die EU-Kommission versäumt, angemessen über Ergebnisse und Mehrwert der beiden Projekte zu berichten. Davon abgesehen stellen die Innovationdeals eine wichtige erste Erfahrung mit kooperativen regulatorischen Testräumen auf europäischer Ebene dar. Insbesondere dienten de Erkenntnisse, die aus den Deals gewonnen wurden, der Überarbeitung des EU-Instrumentariums für bessere Rechtsetzung. Dieses bildet seitdem den Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung des Reallaborkonzeptes auf EUEbene. Reallabore und bessere Rechtsetzung: Der Innovations-Check Die Agenda für bessere Rechtsetzung23 ist das zentrale Rahmenwerk für effektive Rechtsetzung und Bürokratieabbau auf europäischer Ebene. Ihr Herzstück bildet neben den Grundsätzen für bessere Rechtsetzung („Better Regulation Guidelines“) vor allem das sog. Instrumentarium für bessere Rechtsetzung („Better Regulation Toolbox“)24. Dieses dient den Kommissionsdiensten als grundlegendes Arbeitsdokument für die Ausarbeitung und Evaluierung von EU-Recht. Die „Toolbox“ umfasst insgesamt 65 Instrumente von denen Nr. 21 dem Bereich Forschung und Innovation gewidmet ist. Konkret zielt dieses Instrument auf folgendes Ziel ab: „[to] provide clear guidelines for analysing the interaction between new or revised EU legislation (including spending programmes) and innovation. In addition, it outlines a series of design considerations and operational instruments that can be used to make legislative proposals more forward-looking and innovation-friendly.”25 In diesem Sinne dient Instrument 21 als Innovations-Check in der EU-Rechtsetzung und ist als Umsetzung des Innovationsprinzips auf europäischer Ebene zu verstehen. Außerdem soll es dabei helfen, Kommissionsdienste für potenzielle Auswirkungen von EU-Interventionen auf Forschung, Entwicklung und Innovation zu sensibilisieren. Neben ausführlichen Anleitungen zur Ausarbeitung legislativer Vorhaben, wie z.B. die Durchführung von Folgenabschätzungen, enthält Instrument 21 auch konkrete Hinweise zu Experimentierklauseln und Reallaboren. Hierzu heißt es: „An experimentation clause enables the authorities tasked with implementing and enforcing the legislation to exercise a degree of flexibility in relation to innovative technologies, products or approaches, even if they do not conform to all existing legal

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https://ec.europa.eu/info/law/law-making-process/planning-and-proposing-law/better-regulation-why-and-how_de https://ec.europa.eu/info/law/law-making-process/planning-and-proposing-law/better-regulation-why-and-how/better-regulation-guidelines-and-toolbox/better-regulation-toolbox_de 25 https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/file_import/better-regulation-toolbox-21_en_0.pdf 24

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Reallabore – the way forward.

requirements. Experimentation clauses can be appropriate when detailed product or technological characteristics have to be defined in legislation, but the policy goal could be met in the future by different, innovative solutions. They may also be proposed with the express intention of encouraging innovation and experimentation”.26 EU-Kommissionsdienste haben daher die Möglichkeit, bei der Ausarbeitung neuer EU-Rechtsvorhaben, Experimentierklauseln zu berücksichtigen, die es nationalen Behörden ermöglichen sollen, eine gewisse Flexibilität bei der Implementierung des Rechtsaktes anzuwenden. Was jedoch genau unter dieser „Flexibilität“ zu verstehen ist, bleibt unklar und bedarf näherer Konkretisierung. Zu Reallaboren an sich bleibt Instrument 21 vage. Hierzu heißt es lediglich: „A sophisticated experimentation clause is sometimes referred to as a regulatory sandbox – a framework that allows innovations to be tested in a real-world environment subject to regulatory safeguards and support.” Ob dabei nationale oder europäische Reallabore gemeint sind, bzw. wie diese konkret ausgestaltet werden sollen, bleibt unklar. Ratsschlussfolgerungen der deutschen Ratspräsidentschaft Die deutsche Ratspräsidentschaft hat im zweiten Halbjahr 2020 Ratsschlussfolgerungen zu Reallaboren und Experimentierklauseln vorgelegt, und damit einen entscheidenden Impuls für die (Weiter-)Entwicklung dieses Konzepts auf europäischer Ebene gesetzt. Zum einen ist es ihr, wie weiter oben ausgeführt, gelungen, gegen anfängliche Skepsis einiger EU-Mitgliedstaaten, eine allgemein akzeptierte Definition von Reallaboren zu verabschieden, die fortan als Arbeitsdefinition für die EU-Institutionen und Mitgliedstaaten dienen soll. Zum anderen enthalten die Schlussfolgerungen konkrete Arbeitsaufträge an die EU-Kommission27. Hinsichtlich Experimentierklauseln wird von der EU-Kommission gefordertDiese bei der Ausarbeitung von Rechtsvorschriften und bei ex-post Evaluierungen und sog. „Fitness Checks“ bestehenden Rechts systematisch in Betracht zu ziehen; Eine Übersicht über die wichtigsten bestehenden Experimentierklauseln im Unionsrecht zu erstellen sowie Politikbereiche und Regelungen zu ermitteln, in denen zusätzliche Experimentierklauseln möglicherweise dazu beitragen könnten, Innovationen zu fördern und die Regulierung weiterzuentwickeln. Zum Thema Reallabore wird die EU-Kommission aufgefordert: -

eine Übersicht über den Stand der Verwendung von Reallaboren in der EU zu erstellen;

-

Erfahrungen hinsichtlich Rechtsgrundlage, Umsetzung und Evaluierung von Reallaboren zu ermitteln und zu untersuchen, wie das Lernen aus Reallaboren auf nationaler Ebene zur faktengestützten Politikgestaltung auf EU‑Ebene beitragen kann.

Ein erster Fortschrittsbericht dieses Screenings durch die EU-Kommission soll der Ratsarbeitsgruppe „Bessere Rechtsetzung“ im ersten Halbjahr 2021 vorgelegt werden. Ihre endgültigen Ergebnisse soll die EU-Kommission dann im zweiten Halbjahr 2021 präsentieren. Diese sollen den Mitgliedstaaten als Grundlage dazu dienen, unter slowenischem Ratsvorsitz darüber zu beraten, wie das Thema auf

26 27

Idem. S. 151 https://data.consilium.europa.eu/doc/document/ST-13026-2020-INIT/de/pdf S. 5.ff

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Reallabore – the way forward.

EU-Ebene weiterverfolgt werden soll. Nächste Schritte Das Screening der EU-Kommission zu Experimentierklauseln und Reallaboren wird die Grundlage für das weitere Vorgehen zu diesem Thema auf EU-Ebene sein. Mit konkreten Vorschlägen bzw. Initiativen kann aber wohl erst nach Vorliegen des Abschlussberichts zum Screening Ende 2021 bzw. Anfang 2022 gerechnet werden. Unterdessen hat die Kommission angekündigt, in Zusammenarbeit mit der europäischen BlockchainPartnerschaft ein europaweites Reallabor für Blockchain zu planen, das 2021/22 einsatzbereit sein soll. Die Basis dafür bildet ein Vorschlag für eine Pilotregelung für Marktinfrastrukturen, mit denen angestrebt wird, Transaktionen mit Finanzinstrumenten in Form von Kryptowerten zu tätigen und abzuwickeln.28 Dieses Reallabor soll als regulatorische Sandbox für Anwendungsfälle im EBSI und außerhalb des EBSI, einschließlich Datenübertragbarkeit, B2B-Datenräume, intelligente Verträge und digitale Identität (Selbst-Souverän-Identität) in den Bereichen Gesundheit, Umwelt, Mobilität, Energie und anderen Schlüsselsektoren dienen. Die Ergebnisse dieser Arbeit sollen bei der Schaffung eines gesamteuropäischen Rahmens für digitale Währungen helfen. Schließlich zieht die EU-Kommission in Erwägung, paneuropäische Reallabore im Rahmen der „Missionen“ im neuen EU-Forschungsrahmenprogramm „Horizont Europa“ (2021-2027) zu schaffen. Diese Missionen sollen als „Aktionsportfolio“ innerhalb einer gesetzten Zeitfrist technologische Lösungen zu fünf der größten gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit erarbeiten und Forschungsprojekte, Politikmaßnahmen sowie legislative Initiativen beinhalten.

28

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC0594&from=DE bzw. https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/IP_20_1684

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Reallabore – the way forward.

Impressum Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Breite Straße 29, 10178 Berlin www.bdi.eu T: +49 30 2028-0 Redaktion Christian Rudelt Referent Digitalisierung und Innovation T: +49 30 2028-1572 c.rudelt@bdi.eu Christoph Bausch Referent BDI/BDA The German Business Representation T: +32 2 792 1004 c.bausch@bdi.eu

BDI Dokumentennummer: D 1356

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