POSITION | GESUNDHEITSPOLITIK | BDI-STUDIE
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft Handlungsempfehlungen zur Stärkung der Gesundheitsindustrie
28. November 2023 Einführung Die industrielle Gesundheitswirtschaft (iGW) zählt zu den wachstumsstärksten und beschäftigungsintensivsten Wirtschaftsbranchen in Deutschland und zeichnet sich durch eine überdurchschnittlich hohe Forschungs- und Entwicklungsintensität aus. Eine starke iGW stärkt die soziale Nachhaltigkeit wie keine andere Industriebranche. Investitionen in Gesundheit sind auch immer Investitionen in mehr Wohlstand, Produktivität und eine stabilere Wirtschaft. Der BDI sieht in der iGW großes Wachstumspotenzial für den Gesundheitswirtschaftsstandort Deutschland und hat vor diesem Hintergrund eine Studie in Auftrag gegeben, in der die Wirtschaftsund Forschungsinstitute IGES und WifOR Standortfaktoren für die iGW analysieren. Gerade in den Bereichen Fachkräftesicherung, Digitalisierung und Innovationsförderung muss Deutschland mit großen Schritten vorangehen, um im internationalen Standortwettbewerb künftig bestehen zu können. Während andere Länder den strategischen Wert der iGW erkennen und gezielte Maßnahmen zur Stärkung ergreifen, sieht sich die iGW in Deutschland mit einer zunehmenden Regulierungsdichte konfrontiert. Die Studienergebnisse unterstreichen eindrucksvoll die Notwendigkeit, die iGW strategisch zu denken, Innovationen zu fördern und die Potenziale der Digitalisierung nutzbar zu machen. Zentrale Studienergebnisse: ▪ Fachkräftemangel als Wachstumsbremse: Der Fachkräftemangel ist nicht nur in der Versorgung, sondern auch in der iGW herausfordernd. Bis 2030 können bis zu 320.000 Arbeitskräfte fehlen, was einen Bruttowertschöpfungsverlust von 26,6 Mrd. Euro zur Folge hätte. ▪ Innovation und Digitalisierung als Hebel nutzen: Wenn es gelingt, Forschung und Entwicklung zu stärken, kann die iGW 2030 eine Bruttowertschöpfung von bis zu 140 Mrd. Euro erreichen. In einem Szenario mit erhöhtem Digitalisierungsfortschritt ist mit zusätzlichen 15 Mrd. Euro an Bruttowertschöpfung gegenüber einem geringen Digitalisierungsfortschritt zu rechnen. ▪ Standortwettbewerb in der iGW verschärft sich: Andere Länder fördern die iGW strategisch, um die Resilienz des eigenen Standorts zu erhöhen, eine überdurchschnittliche Wertschöpfung zu generieren und innovative Unternehmen zu halten und anzuwerben. Der Zugang zu Gesundheitsdaten wird als Standortfaktor begriffen, um gezielt die Gesundheitsindustrie anzuziehen.
Maria Kusmina | Industrielle Gesundheitswirtschaft | T: +49 30 2028-1505 | m.kusmina@bdi.eu | www.bdi.eu
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
Szenarien und Wachstumspfade für die iGW in Deutschland Deutschland befindet sich inmitten eines internationalen Standortwettbewerbs. Welche Wachstumspfade für die iGW (Medizintechnik, Pharma, Biotechnologie, Health-IT) bis 2030 möglich sind, wird im Wesentlichen davon abhängen, wie sich in Deutschland der Fachkräfteengpass, das Forschungs- und Investitionsklima und der Digitalisierungsgrad entwickeln. Fachkräftemangel als zentrale Herausforderung für die iGW begreifen Der demografische Wandel gehört zu den drängendsten Herausforderungen für den Wirtschaftsstandort Deutschland und wirkt sich in der iGW in doppelter Hinsicht aus: Sowohl der Mangel an Fachkräften als auch der Bedarf an Produkten und Leistungen der iGW nehmen zu. Ob für die iGW auch weiterhin gute Wachstums- und Beschäftigungsprognosen bestehen, hängt maßgeblich davon ab, ob sich ausreichend viele qualifizierte Fachkräfte u. a. für die hochkomplexe Produktion von Arzneimitteln und Medizinprodukten mobilisieren lassen. Während aktuell bereits 125.000 Fachkräfte in der iGW fehlen, könnte sich die Situation in den kommenden Jahren massiv verschärfen: WifOR rechnet im Rahmen der Studie damit, dass sich der Engpass bis zum Jahr 2030 auf bis zu 320.000 fehlende Fachkräfte ausweiten könnte, was zur Folge hätte, dass jeder vierter Arbeitsplatz in der iGW unbesetzt bliebe. Das schlägt sich auch in der Bruttowertschöpfung nieder: Während sich der gegenwärtige Verlust aufgrund fehlender Arbeitskräfte auf zehn Mrd. Euro im Jahr beläuft, könnte dieser im Jahr 2030 bereits ein Niveau von 26,6 Mrd. Euro erreichen. Dies ist besorgniserregend und hat zur Folge, dass Deutschland nicht nur Expertise und Wertschöpfung verliert, sondern die anstehenden Transformationsherausforderungen – insbesondere im Zukunftsfeld der digitalen Gesundheitslösungen – nicht mehr wird stemmen können. Die Förderung von Innovation sowie mutigere Digitalisierungsmaßnahmen haben durch ihre jeweiligen Wertschöpfungseffekte das Potenzial, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen und Wachstumseinbußen durch Fachkräfteengpässe zumindest teilweise abzumildern. Investitionen in Forschung und Entwicklung gezielt ausbauen Innovation ist die effektivste Wettbewerbsstrategie und die wichtigste Wachstumsquelle für eine positive wirtschaftliche Entwicklung. Bleiben Investitionen in Forschung und Entwicklung (FuE) aus, verliert die iGW bei medizinischen Zukunftstechnologien an Innovationskraft und Wertschöpfungsanteilen. Mit einer Forschungs- und Entwicklungsintensität von 15 Prozent an der Bruttowertschöpfung, ist die iGW im Vergleich zu anderen Branchen noch Spitzenreiter und gilt als überdurchschnittlich widerstandsfähig. Aktuellen Zahlen zufolge hat die iGW mit einer Bruttowertschöpfung von 103 Mrd. Euro im Jahr 2022 ein Allzeithoch erreicht und trägt damit substanziell zur Stärkung der sozialen Sicherungssysteme bei. Damit dies so bleibt, muss jedoch auch künftig in FuE investiert werden. Wie sich Forschungsinvestitionen dabei auszahlen, belegen die Zahlen der Studie: Während die iGW mit einer höheren FuEIntensität und einem Wachstum von vier Prozent im Jahr 2030 eine Wertschöpfung von 140 Mrd. Euro erreichen könnte, wäre im gegenteiligen Szenario ohne eine solche Förderung nur mit einer Bruttowertschöpfung von 129 Mrd. Euro zu rechnen. Bis 2030 ist der Unterschied hier noch nicht immens. Dramatisch wird der Unterschied aber in der langfristigen Perspektive aufgrund ganz unterschiedlicher Wachstumspfade: Ohne verstärkte Forschungsinvestitionen wird die iGW um 2,9 Prozent wachsen, mit einer höheren FuE-Intensität hingegen um vier Prozent.
2
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
Der Unterschied zwischen den beiden Wachstumspfaden ist erheblich. Hier entscheidet sich, ob die iGW in Deutschland dynamisch wächst und damit zur Resilienz des Standorts beiträgt, oder sie deutlich an Wirtschaftskraft verliert und dies künftig nicht mehr leisten kann. Wenn Unternehmen infolge mangelnder FuE-Aktivitäten den Anschluss an neue Technologien verlieren und Schwierigkeiten haben, sich an veränderte Märkte anzupassen, kann das als „Kettenreaktion“ eine schrittweise Deindustrialisierung der iGW in Deutschland auslösen. Potenziale der Digitalisierung für die iGW nutzbar machen Die Digitalisierung gilt als eine der wichtigsten Herausforderungen für die deutsche Volkswirtschaft in den kommenden Jahrzehnten. Gerade in der Gesundheitswirtschaft wird hohes Potenzial für Wertschöpfungs- und Effizienzsteigerungen durch den konsequenten Einsatz digitaler Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) gesehen – neben den Chancen für eine bessere Versorgung. Dennoch ist Deutschland im internationalen Vergleich in Bezug auf die Nutzung dieser Möglichkeiten im Hintertreffen; neue Wertschöpfungsoptionen bleiben ungenutzt. In keiner anderen Industriebranche werden so viele hochwertige Daten erzeugt und nirgends sonst dürfen diese Daten so wenig genutzt werden. Auch hier zeigt die Studie mögliche Wachstumspotenziale für die iGW auf, wenn diese Wertschöpfungsoptionen künftig genutzt würden: So könnten bis 2030 bis zu acht Mrd. Euro mehr Wertschöpfung in der iGW generiert werden; die potenzielle Steigerung der Bruttowertschöpfung würde 39 Prozent gegenüber 2022 betragen. In dem Fall, dass die Digitalisierung der Branche weiterhin nicht umfassend gelingt, betrüge diese lediglich 24 Prozent: Entsprechend würden bis zu 15 Mrd. Euro mögliche Bruttowertschöpfung ungenutzt bleiben, wenn die Digitalisierung unzureichend voranschreitet.
Standortfaktoren für die iGW im internationalen Vergleich Wie es gelingen kann, mit den oben beschriebenen Herausforderungen des Fachkräftemangels umzugehen und Wertschöpfungspotenziale aus Innovation und Digitalisierung bestmöglich zu heben, zeigt der internationale Vergleich. Hierfür wurden sieben Länder 1 ausgewählt, die mit einer im internationalen Wettbewerb stehenden iGW das Ziel verfolgen, durch spezifische Maßnahmen die Wertschöpfung der Branche zu verbessern. Fünf Kernbereiche wurden dabei identifiziert. COVID-19-Pandemie als Weckruf für die strategische Stärkung der iGW In vielen Ländern war die COVID-19-Pandemie ein Auslöser dafür, strategische Maßnahmen zur Stärkung der iGW zu ergreifen und regulatorische Sonderregeln, die unter dem Druck der Pandemie eingeführt wurden, dauerhaft zu etablieren. Dabei steht insbesondere die systematische Vernetzung von verschiedenen Akteuren der iGW im Fokus mit dem Ziel, eine stärkere Unabhängigkeit bei den Produktionskapazitäten für medizinische Güter zu erreichen. ▪
▪
1
In Japan hat die iGW einen herausragenden Stellenwert: So wurden iGW relevante Zuständigkeiten, die auf verschiedene Regierungsressorts verteilt waren, unter der direkten Verantwortung des Premierministers zusammengezogen. In Finnland, Frankreich und Massachusetts / USA wurden Gremien geschaffen, die einen institutionalisierten Dialog zwischen der iGW und der Politik anstreben.
Finnland, Frankreich, Israel, Japan, Singapur, USA (Massachusetts), Vereinigten Königreich (England)
3
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
▪
▪
In Finnland wurde bereits 2012 ein ressortübergreifender „Masterplan“ für den Gesundheitssektor verabschiedet mit dem Ziel, Forschungsaktivitäten des Privatsektors bis 2020 um das 2,5-fache zu steigern. Großbritannien hat 2021 unter Einbindung aller Akteure des Gesundheitssektors eine 10Jahres-Strategie („Life Sciences Vision“) zur Stärkung der iGW vorgelegt.
Fachkräftemangel mit gezielten Maßnahmen entgegenwirken Die iGW ist in besonderem Maße von qualifizierten Fachkräften abhängig – u. a. für die hochkomplexe Produktion von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Die untersuchten Länder ergreifen unterschiedliche Maßnahmen zur Sicherung und Förderung des Fachkräftenachwuchses in der iGW; dazu zählt auch die Attraktivität der Branche für junge Menschen zu erhöhen und Quereinstiege zu ermöglichen. Insbesondere in Folge der COVID-19-Pandemie wird die Verfügbarkeit von Fachkräften in der iGW zunehmend als Wettbewerbsfaktor gesehen. ▪ ▪
▪
▪
Frankreich fördert explizit die Einrichtung neuer Ausbildungsgänge, um den sich verändernden Gegebenheiten durch die Digitalisierung im Sektor gerecht zu werden. In Japan und Massachusetts / USA wird in der schulischen Bildung das Wissen für medizinische Forschung gestärkt, beispielsweise im Rahmen von Praktika. In den USA gibt es darüber hinaus für Unternehmen ausbildungsbezogene Zuschüsse zur Schulung von Arbeitskräften. Singapur hat über die Biomedical Sciences (BMS) Initiative bis 2015 gezielt die Ausbildung von Fachkräften im Bereich der biomedizinischen Wissenschaften gestärkt, um den Bedarf an qualifiziertem Personal zu decken und die Ansiedlung von iGW-Unternehmen zu fördern. Die Life Science Vision des Vereinigten Königreichs enthält Maßnahmenvorschläge zur Förderung und Sicherung von Fachkräften.
Innovationsfreundliches regulatorisches Umfeld schaffen Innovationen entstehen dort, wo Unternehmen die Chance sehen, diese im Entwicklungsstadium schnell durch die notwendigen Prozesse und anschließend zügig in den Markt zu bekommen. Es sind deswegen in vielen Ländern Maßnahmen ergriffen worden, die ein innovationsfreundlicheres regulatorisches Umfeld schaffen und beispielsweise Rahmenbedingungen für klinische Studien verbessern. ▪
▪
▪
Frankreich hat die Fristen von Genehmigungsverfahren für klinische Studien verkürzt. Zudem wurden Schritte unternommen, um den Austausch zwischen den Sponsoren klinischer Studien und Ethikkommissionen zu vereinfachen und die Praktiken der Ethikkommissionen zu vereinheitlichen. Zusätzlich soll ein schnelleres Nutzenbewertungsverfahren für innovative Arzneimittel etabliert werden, beispielsweise durch das Parallelisieren von Prozessen. In Großbritannien wiederum wurde ein „Fast Track“-Verfahren zur Bewertung klinischer Studienvorhaben eingeführt. Außerdem soll künftig „Real World Evidence“ stärker genutzt werden, um regulatorische Prozesse und das System der Pharmakovigilanz zu beschleunigen. In Japan wurde die probeweise Zulassung neuer Arzneimittel und Therapien eingeführt, um innovative Produkte schneller an die Patientinnen und Patienten zu bekommen.
4
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
▪
Im „Research, Innovation and Enterprise 2025 Plan“ wird die Gesundheitsforschung als wichtigstes Forschungssegment Singapurs herausgestellt und die Bedeutung der iGW betont.
Unternehmertum stärken und Skalierung fördern Die Unterstützung bei der Gründung und Skalierung von Unternehmen spielt bei der der Translation von Forschung in die Praxis eine wichtige Rolle. Auch hier zeigt der Vergleich, dass andere Länder ambitionierte Schritte gehen: Neben der Clusterbildung und gezielt zusammengestellten Teams aus Forschenden und Industriepartnern, steht die Bereitstellung von Risiko- und Seedkapital für Forschende im Vordergrund. ▪ ▪
▪
▪
▪
Frankreich hat einen eigenen Venture Capital Fonds für die Branche aufgelegt. Japan hat eine Organisation („Japan Agency for Medical Research and Development“) gegründet, die darauf abzielt die Translation von FuE-Ergebnissen zu beschleunigen und Fördermöglichkeiten besser zu koordinieren, um die Zeit der Antragsstellung zu verkürzen. Israel unterstützt mit einer Innovationsbehörde Unternehmen in den Früh- und Reifungsphasen, z. B. durch Inkubationsprogramme; die über 6.000 angesiedelten Startups profitieren von der höchsten Pro-Kopf-Finanzierung der Welt (674 US-Dollar pro Kopf). In Massachusetts / USA startete 2008 eine „Life Sciences Development“ Initiative, welcher seither jährlich 100 Mio. US-Dollar Fördervolumen zur Verfügung steht; gleichzeitig hat sich das Venture Capital-Volumen, das in Biotech-Unternehmen investiert wurde, verzehnfacht (von 1,36 Mrd. US-Dollar 2012 auf 13,66 Mrd. US-Dollar 2021). Eine gezielte Förderung von Exporten der iGW findet in Japan, Finnland, dem Vereinigten Königreich und Massachusetts / USA statt.
Zugang zu Gesundheitsdaten als Standortfaktor Der internationale Vergleich zeigt, dass Deutschland aufgrund seiner föderalen Struktur bei der Datennutzung vor erheblichen Herausforderungen steht, die sich in anderen Ländern nicht stellen. Zusätzlich sind diese auch mit Blick auf die Nutzung von Gesundheitsdaten und den Zugang für die Industrie zu diesen Daten deutlich weiter. Die verglichenen Länder streben an, Telemonitoring und telemedizinische Angebote noch stärker in die Versorgung zu bringen; so sollen beispielsweise Fernüberwachungslösungen leichter in die Erstattung gebracht werden. ▪
▪
▪
Die Schaffung eines gleichberechtigten Zugangs für die Industrie zu Forschungsdaten bzw. zur Datennutzung ist erklärtes Ziel in Frankreich, Finnland und Japan; in Israel besteht ein solch umfassender Zugang bereits. In Großbritannien beispielsweise ist die Nutzung von NHS-Daten für Forschungszwecke seit 2016 möglich; diese Daten werden nun zunehmend als Quelle für Real World Evidence bei der Bewertung neuer Arzneimittel genutzt. Japan legt bei der Nutzung digitaler Lösungen einen Schwerpunkt auf KI und Robotik. So wird KI gezielt eingesetzt und die Nutzung gefördert, um Medikamente oder auch Diagnose- und
5
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
▪
Therapieverfahren schneller zu entwickeln. Die Entwicklung von Robotik wiederum wird gezielt genutzt, um dem doppelten demografischen Wandel zu begegnen. Alle Einwohner Finnlands haben einen Online-Zugang zu ihren Gesundheitsdaten und ihrer elektronischen Verordnungshistorie, was die finnischen Gesundheitsdaten in Bezug auf Umfang und Breite einzigartig macht.
Handlungsempfehlungen für die Stärkung des iGW-Standortes Deutschland Auf Basis der beschriebenen Wachstumsszenarien und -potenziale – aber auch entlang des internationalen Vergleichs – lassen sich klare Handlungsempfehlungen ableiten, mit denen die iGW in Deutschland in Zukunft strategisch gestärkt werden muss, um Wachstums- und Innovationstreiber zu bleiben. Industrielle Gesundheitswirtschaft strategisch und ganzheitlich denken 1. iGW als Zukunftsindustrie mit strategischem Wert für die Resilienz des Standorts verankern → Damit die iGW im internationalen Wettbewerb eine Leitindustrie in Deutschland bleibt, benötigt es einen langfristigen und umfassenden Maßnahmenplan zur Sicherung und Stärkung des Gesundheitswirtschaftsstandortes Deutschland. → Dazu muss der BMWK Round Table Gesundheitswirtschaft in der nächsten Legislaturperiode erweitert und als Ort für den Dialog zwischen den Ressorts der Bundesregierung, der Länderregierungen sowie der Industrie zu Themen und Belangen der iGW institutionalisiert werden. → Um ein höheres Maß an Koordination auch auf europäischer Ebene zu erreichen, braucht es ein klares Bekenntnis der Politik zur iGW als Schlüsselindustrie, z. B. durch eine/n Beauftragte/n der Bundesregierung für die iGW. Fachkräfte gewinnen und halten 2. Gesamtkonzept zur Sicherung der iGW-Fachkräftebasis erarbeiten und umsetzen → Neben einer verstärkten Erwerbsmigration nach Deutschland muss auch das inländische Arbeitskräftepotenzial noch besser mobilisiert werden, um eine Erhöhung der Erwerbsbeteiligung auch für die iGW zu erreichen. Dazu gehört, möglichst viele Menschen möglichst lange im Erwerbsleben zu halten. Voraussetzung hierfür ist vor allem der Abbau von Frühverrentungsanreizen. → Entscheidend sind die Ausbildung und Förderung der Erwerbstätigkeit von Frauen in allen Berufsbildern (z. B. MINT), unterstützt durch Maßnahmen zur besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. 3. Aus-, Weiter- und Fortbildung fördern und Möglichkeiten zum Quereinstieg schaffen → Bildungspolitik und Sozialpartner sind auch weiterhin gefordert, bedarfsgerechte Berufsbilder (z. B. Data Nurses) zu schaffen und gegebenenfalls bestehende Ausbildungsmodelle zu überdenken. Die Weiterbildungsangebote für Berufsbilder der Gesundheitswirtschaft sollten ausgeweitet und an die Bedarfe der verschiedenen Unternehmen angepasst werden. → Partnerschaften zwischen Unternehmen, iGW-Fachverbänden und Universitäten sollten auf regionaler Ebene mit Blick auf Arbeitskräfteverschiebungen zwischen den Branchen unter Einbindung der Bundesagentur für Arbeit ausgebaut werden.
6
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
4. Kooperationen ausbauen und vernetztes Arbeiten an iGW-Innovationen ermöglichen → Kooperationen zwischen universitären und außeruniversitären Forschungseinrichtungen, Industrie und öffentlicher Hand sollten im Rahmen von Public Private Partnerships (PPP) gefördert werden, um die Verbesserung der Gesundheitsversorgung mit gemeinsam entwickelten Produkten, Dienstleistungen und anderen Lösungen voranzutreiben. → Engagement der öffentlichen Hand stärken, z. B. durch Ausschreibungen von Partnerschaften, Koordinationshilfen, Match-Making oder den Aufbau von spezifischen nationalen Netzwerken zum Thema PPP. 5. Gründungen und Skalierungen von Unternehmen durch zugängliches Kapital ermöglichen → Anreize für Risiko- und Wachstumskapital für innovative Start-ups und Scale-ups mit Produktentwicklungen für den Gesundheitssektor gezielt verbessern, um die Finanzierungslücke zwischen Europa und anderen Regionen zu schließen; dabei müssen längere Marktzugangsprozesse in der iGW berücksichtigt werden. → Eine Erweiterung des „DeepTech & Climate Fonds“ für die medizinische Biotechnologie wäre wünschenswert, um Innovationen in diesem Bereich zu fördern und Kapital zu mobilisieren. → Fördermöglichkeiten sollten einfach zugänglich und übersichtlich dargestellt werden und möglichst nahtlos aufeinander aufbauen; Förderprozesse sollten einheitlich gestaltet sowie bestehende Programme in eine zentrale Anlaufstelle / Plattform überführt werden. 6. Steuerliche Rahmenbedingungen schaffen, die international wettbewerbsfähig sind → Die EU hat den Weg für die Mitgliedstaaten frei gemacht, für Gesundheitsprodukte den ermäßigten Mehrwertsteuersatz zu erheben. Daher sollte dies aufgegriffen und für alle Medizinprodukte der ermäßigte, zumindest aber ein einheitlicher Mehrwertsteuersatz gelten.
Innovationen schneller in den Markt bringen 7. Bürokratische Hürden abbauen, Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen → Verwaltungsaufwand für die Genehmigung von klinischen Studien und Genehmigungsverfahren verkürzen. → Bestehende und künftige Regulierungen sollten durch einen Innovations-Check überprüft werden. Neue bürokratische Anforderungen, wie sie beispielswiese das Digitalgesetz (Digi-G) des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) mit Blick auf Digitale Gesundheitsanwendungen (DiGA) aktuell schafft, müssen vermieden werden. → Sobald sich Regulierungen als herausfordernd oder praxisuntauglich erweisen, müssen diese zügig evaluiert, entsprechend anpasst und strukturell weiterentwickelt werden. So ist es beispielsweise angebracht, die EU-Medizinprodukteverordnung (MDR) vor 2027 zu evaluieren und dies jetzt ins Arbeitsprogramm der EU-Kommission für 2024 – 28 aufzunehmen. → Für die Genehmigung von Herstellungs- und Produktionsanlagen für Medizinprodukte und Arzneimittel sind Spezialkenntnisse erforderlich, die lokale Behörden nicht immer vorhalten können. Hier könnte die Bündelung von Kompetenzen auf der Landesebene hilfreich sein, um Genehmigungsprozesse effizient, investitions- und innovationsfreundlich zu organisieren. → Langwierige Verwaltungsverfahren senken zunehmend die Attraktivität des Standorts Deutschland für Unternehmen der iGW. Damit Investitionen auch weiterhin in Deutschland erfolgen, müssen Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie weitere Verwaltungsprozesse durch eine nutzerorientierte, effiziente und Ende-zu-Ende digitalisierte Verwaltung ermöglicht werden. Damit Unternehmen effizient mit der Verwaltung interagieren können, muss das Organisationskonto bundesweit angeboten, die Registermodernisierung vorangetrieben und das Once-Only-Prinzip umgesetzt werden.
7
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
8. Marktzugang für iGW-Innovationen sichern, der mit Innovationstempo mithält → Hürden bei Marktzugang und Erstattung müssen abgebaut werden und innovative Erstattungsmodelle und digitale Versorgungslösungen stärker eingebunden werden. Hierzu gehört auch eine zeitgemäße Überarbeitung des Arzneimittelneuordnungsgesetzes (AMNOG) gemeinsam mit forschenden, innovativen Pharmaunternehmen, mit dem Ziel auch Schrittinnovationen zu honorieren. → Deutschland muss passende Instrumente der Methodenbewertung (wie z. B. eine Bewertung im Laufe des Produktlebenszyklus) entwickeln und die Hersteller in der Erzeugung der im Sozialgesetzbuch V geforderten Evidenz unterstützen. Das notwendige Fachwissen muss über gezielte Fortbildungsangebote vermittelt und die Durchführung von Methodenbewertungen zumindest in der Anfangsphase finanziell unterstützt werden. Rückstand in der Digitalisierung aufholen 9. Datensätze für die iGW zugänglich machen und miteinander verknüpfen → Das Gesundheitsdatennutzungsgesetzes (GDNG) des BMG muss konsequent umgesetzt werden, damit die Industrie Zugang zu Gesundheitsdaten für die Forschung erhält. Damit nutzbare Datensätze entstehen, bedarf es einer vollumfänglichen Registermodernisierung; zudem sollten Anreize gesetzt werden, damit die elektronische Patientenakte (ePA) genutzt und befüllt wird. → Die Echtzeitdatennutzung sollte ermöglicht und Grundlagen für longitudinale Datennutzung geschaffen werden, z.B. im Rahmen eines Datencockpits in der ePA, mit der Patientinnen und Patienten auf eine einfache Art und Weise die Möglichkeit bekommen, dieser longitudinalen Datenverwendung zuzustimmen. 10. Auslegung und Anwendung des Datenschutzes vereinheitlichen → Die Datenschutzkonferenz (DSK) sollte zukünftig ein stärkeres Mandat haben, um verbindliche Aussagen zur Auslegung der DSGVO treffen zu können und bundeslandübergreifende Forschungsvorhaben der iGW zu erleichtern. → Eine deutliche Erleichterung für die Industrie wäre darüber hinaus die Harmonisierung der Landesgesetze – insbesondere der Landeskrankenhausgesetze – auf bundesweit einheitliche Auslegung der DSGVO.
8
Wachstumspotenziale in der industriellen Gesundheitswirtschaft
Impressum Bundesverband der Deutschen Industrie e.V. (BDI) Breite Straße 29, 10178 Berlin www.bdi.eu T: +49 30 2028-0 Lobbyregisternummer: R000534
Redaktion Rabea Knorr Abteilungsleiterin industrielle Gesundheitswirtschaft T: +49 30 2028-1495 r.knorr@bdi.eu Maria Kusmina Stellvertretende Abteilungsleiterin T: +49 30 2028-1505 m.kusmina@bdi.eu
Die Erstellung der Studie wurde unterstützt durch: Bayer AG, Boehringer Ingelheim Corporate Center GmbH, Brainlab AG, Bristol Meyer Squibb GmbH & Co. KGaA, GlaxoSmithKline GmbH & Co. KG, Merck Healthcare Germany GmbH, Pfizer Deutschland GmbH, Roche Pharma AG, Sanofi-Aventis Deutschland GmbH, Siemens Healthcare GmbH, Deutsche Telekom Healthcare and Security Solutions GmbH, Verband der Elektro- und Digitalindustrie
BDI Dokumentennummer: D 18600
9