HANDLUNGSEMPFEHLUNGEN | MITTELSTANDSPOLITIK | SZENARIEN
Zukunft des industriellen Mittelstands in Deutschland 2030
Treiber nutzen! Kräfte stärken! Zukunft ermöglichen!
16. Oktober 2024
Einleitung
Im Herbst 2024 sind industrielle Mittelständler und Familienunternehmen in Deutschland – teilweise existenziell – unter Druck.
Der Standort zeigt (schon länger) konjunkturelle und strukturelle Schwächen, das globale und europäische Umfeld wird immer unübersichtlicher. Märkte sind volatil, Lieferketten und Wertschöpfungsverbünde drohen zu reißen. Unternehmen sind in der doppelten Transformation gefordert. Parallel wachsen gesellschaftliche Unruhe und politische Polarisierung in Deutschland, Europa und weltweit.
Mit unterschiedlichen Szenarien zur Zukunft des industriellen Mittelstands in Deutschland 2030 will der BDI sowohl Politik wie auch Unternehmen dazu anregen, trotz aktuell komplexer und unübersichtlicher Zeiten gut begründet zu navigieren.
Dazu ist festzuhalten:
▪ Szenarien ermöglichen es, Zukunftsentwicklungen zu durchdenken, Planungen zu unterlegen und Gestaltungsoptionen zu identifizieren. Die Idee ist nicht die möglichst exakte Vorhersage einer Zukunft. Vielmehr geht es darum, methodengeleitet verschiedene „Zukünfte“ aufzuzeigen, Möglichkeitsräume zu erschließen, Handlungsempfehlungen abzuleiten und so politisch und unternehmerisch „vor die Welle“ zu kommen.
▪ Für „industrieller Mittelstand“ gilt hier eine Arbeitsdefinition, die bei qualitativen Merkmalen und quantitativen Kriterien bewusst über den „klassischen“ Blick auf kleinste, kleine und mittlere Unternehmen (KMU)hinausgeht.
▪ Der Zeithorizont 2030 ist mit Blick auf absehbare politische Entwicklungen sowie auf unternehmerische Planungs- und Investitionszyklen ein geeigneter Perspektivpunkt.
Fabian Wehnert | Mittelstand und Familienunternehmen | T: +49 30 2028-1470 | f.wehnert@bdi.eu | www.bdi.eu
Mit Blick auf 2030 und darüber hinaus ist der industrielle Mittelstand unternehmerisch in erster Linie selbst gefordert, das individuelle Geschäftsmodell dauernd zu überprüfen und anzupassen, die notwendige und gewünschte Transformation – digital und ökologisch – aktiv und entschlossen zu gestalten, eine moderne Unternehmenskultur zu schaffen sowie frühzeitig und vorausschauend einen –im Sinne des Unternehmens und der Belegschaft – erfolgversprechenden Generationswechsel zu regeln.
Angesichts gesellschaftlicher Unruhe und politischer Polarisierung am traditionellen Standort bleibt der industrielle Mittelstand darüber hinaus gefragt, auch im eigenen Interesse für Demokratie, Rechtstaat und Offenheit einzutreten. Gesellschaftliche Verantwortung zeigt, wer klare Haltung entwickelt, eine wahrnehmbare Rolle als öffentlicher Akteur annimmt und sich spürbar vor Ort engagiert.
Allerdings braucht unternehmerische Aktivität und gesellschaftliches Engagement im industriellen Mittelstand eine entschlossene Politik auf allen Ebenen, die am traditionellen Standort international wettbewerbsfähige Bedingungen für erfolgreiches Wirtschaften bietet.
Vor dem Hintergrund von fünf – bewusst unterschiedlich gelagerter – Szenarien sollen hier nicht kurzfristige Wachstumsimpulse aufgezeigt werden. Vielfältige BDI-Empfehlungen dafür liegen schon lange vor. Vielmehr geht es darum, aus den Szenarien ausgewählte zukunftsrobuste Handlungsempfehlungen abzuleiten, wie Treiber für eine positive Entwicklung des industriellen Mittelstands am Standort Deutschland genutzt, vorhandene Kräfte politisch gestärkt sowie Zukunft für Unternehmen und deren Belegschaften ermöglicht werden können.
Grundsätzlich sollte Politik in Europa, Bund und Ländern mit Blick auf Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz bedenken: Nach Sektor und Größe differenzierte Branchen- und Unternehmensstrukturen bleiben ein Garant für dynamische Wettbewerbsvorteile der deutschen Industrie. Cluster und Netzwerkstrukturen, die steter Überprüfung und dynamischer Veränderung standhalten, haben besondere Bedeutung, um Kompetenzbündel und Synergien und damit Wettbewerbsvorsprünge entwickeln zu können. Auf die Kraft voll funktionsfähiger Märkte, fairen Wettbewerbs, kundengetriebener Innovation und unternehmerischer Vielfalt sollte moderne Politik bauen und diese zu voller Entfaltung bringen.
Politische Handlungsempfehlungen
Wer europäisch, national oder in den Bundesländern eine starke Zukunft des industriellen Mittelstands am Standort Deutschland 2030 sichern will, muss heute handeln. Denn Zukunft wird im Heute gemacht. Um wachsendem Zeitdruck aufgrund von Reformdruck und Transformationsdruck zu begegnen, gilt es ganz grundsätzlich auf zwei Feldern aktiv zu werden:
▪ Staatliche Planungs- und Genehmigungsverfahren beschleunigen Planungs- und Genehmigungsverfahren etwa für Anlagen (Industrie, Windkraft, etc.) oder Infrastrukturprojekte (Verkehr, Energie, etc.) sind in Deutschland aktuell sehr bürokratisch und extrem langwierig. Transformation und Innovation braucht staatlicherseits mehr Planungssicherheit und mehr Geschwindigkeit auf allen Ebenen und in allen Stufen. Dafür gehören die Verfahren insgesamt auf den Prüfstand. Ohnehin müssen Bund und Länder in Deutschland zu einer neuen und effektiven Form der Zusammenarbeit kommen.
▪ Digitalen Staat schaffen. Voll digitalisierte Verwaltungsprozesse einschließlich KI sowie fristgerechte Registermodernisierung spart Unternehmen viele Ressourcen, die für Transformation und Innovation besser angelegt sind. Mehr Flexibilität und höhere Geschwindigkeit und damit einen attraktiveren Standort Deutschland erreicht auch, wer Unternehmen einen unkomplizierten Rahmen für innovative Technologien oder Geschäftsmodelle bietet, etwa durch rechtssichere „Real-Labore“.
Schnellere Verfahren, digitaler Staat und insgesamt weniger Bürokratie sind nicht nur mit Blick auf die Uhr, sondern auch mit Blick in die Gesellschaft drängend. Denn im betrieblichen Alltag vergeht nicht nur manchen Gesellschafterinnen oder Gesellschaftern die intrinsische Motivation auf enkelorientiertes Unternehmertum am Standort. Sondern noch dazu erodiert in manchen Unternehmen und Belegschaften zunehmend das Vertrauen in einen vollständig funktionierenden Staat.
Ergänzend sind zumindest folgende Gegenwartsfaktoren und Zukunftstreiber zu bearbeiten:
▪ Nachhaltige Energieversorgung wettbewerbsfähig machen
▪ Kreislaufwirtschaft etablieren
▪ Innovationen ermöglichen
▪ Ländliche Räume stärken
▪ Potenziale der EU sichern und heben
Nachhaltige Energieversorgung wettbewerbsfähig machen
Steigende Energiekosten, sinkende Versorgungssicherheit und leistungsschwache Energieinfrastrukturen setzen gerade Unternehmen des industriellen Mittelstands – teilweise existenziell – unter Druck. Standorttreue Betriebe leiden besonders unter diesem stark spürbaren Nachteil im internationalen Wettbewerb. Noch dazu fehlt eine klare und konsistente Regulierung, die unternehmerisch langfristige Planung und enkelfähige Investitionen ermöglicht. Wo der Rahmen wackelt, werden notwendige Investitionen zeitlich beziehungsweise örtlich verschoben oder sogar ganz aufgegeben. Deutlich wird, dass erfolgreiche Transformationspfade am Standort an einer Vielzahl von Einflussgrößen hängt und es einen Instrumentenverbund braucht, bei dem Einzelteile widerspruchsfrei zusammenpassen.
Als Handlungsempfehlungen für eine starke Zukunft des industriellen Mittelstands 2030 sind zu nennen:
▪ Strompreise entlasten. Für industrielle Mittelständler – nicht zuletzt in energieintensiven Sektoren – gehören Entlastungen beim Strompreis vereinfacht, ausgeweitet und längerfristig garantiert sowie die Stromnetzentgelte effektiv und ohne bürokratische Aufwände gesenkt. Weiteres Einsparpotenzial liegt darin, den europäischen Energiebinnenmarkt besser zu nutzen und damit Effizienz- und Kostenreserven zu heben.
▪ Zugang zu Wasserstoff ermöglichen. Erfolgreiche Transformationspfade auch im industriellen Mittelstand werden nicht ohne die Schaffung eines kostengünstigen und sicheren Zugangs zu erneuerbarem und kohlenstoffarmem Wasserstoff bzw. Wasserstoffderivaten gelingen. Die Sorge ist, dass der Markthochlauf nicht zügig genug vorangeht.
▪ Alle Optionen für De-Karbonisierung nutzen. Selbst wenn die direkte Vermeidung von Treibhausgasen weiter im Mittelpunkt industrieller Transformation steht, muss die europäische und nationale Ebene auch die Chancen durch eine Abscheidung, Entnahme, Nutzung und Speicherung von Kohlendioxid (CCS/CCU) erkennen und nutzbar machen.
▪ Effektiven Carbon-Leakage Schutz herstellen. Wer mit Blick auf Klimatransformation weiterhin Innovation, Investitionen, Produktion und Arbeitsplätze des industriellen Mittelstands am traditionellen Standort sichern will, muss den internationalen Wettbewerbsdruck gerade in energieintensiven Sektoren adressieren. Hilfreich ist es, die Bepreisung von CO2 als klimapolitisches Instrument möglichst international vergleichbar durchzusetzen. Solange das nicht gelingt, ist ein wirksamer Carbon-Leakage Schutz notwendig, der fairen Handel ermöglicht sowie kosteninduzierten Unternehmensverlagerungen ins Ausland vorbeugt.
Kreislaufwirtschaft voll etablieren
In Deutschland führen schon allein Energiewende, Elektromobilität, Digitalisierung oder Infrastrukturausbau zu einer signifikant steigenden Nachfrage nach Rohstoffen. Schwindende Versorgungssicherheit bei Rohstoffen aus globalem Bezug machen die heimische Rohstoffförderung und Weiterverarbeitung, Kreislaufwirtschaft und Zirkularität auch für den industriellen Mittelstand immer wichtiger. Zu Wettbewerbsfähigkeit und Resilienz gehört es auch, die Folgen des Klimawandels und des Biodiversitätsverlusts zu adressieren sowie Kreislaufwirtschaft als Chance für neue Wertschöpfungsverbünde sowie für Wertschöpfung und Beschäftigung am traditionellen Standort zu verstehen.
Als Handlungsempfehlungen für eine starke Zukunft des industriellen Mittelstands 2030 sind zu nennen:
▪ Resilienz von Rohstoff-Lieferketten stärken und kritische Abhängigkeiten reduzieren. Es stärkt den Standort Deutschland, wenn neue strategische Importpartnerschaften für kritische Rohstoffe geschlossen und die europäische Rohstoffproduktion entlang der gesamten Wertschöpfungskette gestärkt werden. Mehr europäische Rohstoffproduktion und klare strategische Importpartnerschaften sollten sich auch in den Abnahmen dieser lokalisierten Fertigung kritischer Vorprodukte niederschlagen.
▪ Systemische Perspektive einnehmen. Es gilt Potenziale von Rohstoffen genauso in den Blick zu nehmen wie Produktdesign als Schlüssel für Geschäftsmodelle in den Bereichen Wiederverwendung, Reparatur, Refurbishment oder Recycling. Instrumente der Klimaschutzpolitik und zirkuläre Wertschöpfung gehören enger miteinander verzahnt. An den Schnittstellen zur Digitalisierung sowie zu Normung und Standardisierung sind große Potenziale für den industriellen Mittelstand und das Technologie-, Innovations- und Exportland Deutschland zu heben.
▪ Solide Folgeabschätzung von Vorgaben sichern. Bei politischen Vorgaben zum Einsatz von Rohstoffen am Markt gilt es transparent und solide zu prüfen, welche Effekte auf Angebot und Nachfrage zu erwarten sind. So sind die für den jeweiligen Stoffstrom passenden Maßnahmen („Push“ oder „Pull“) besser zu identifizieren und eine gewünschte Lenkungswirkung zu erreichen.
▪ Internationale Anschlussfähigkeit sichern. Wenn es darum geht, das Verständnis zirkulärer Wertschöpfung als Exportmodell zu etablieren, ist gerade der industrielle Mittelstand auf die Anschlussfähigkeit des deutschen und europäischen Regelwerks an internationale Prozesse angewiesen. So sollte die europäische Normungsstrategie die Kreislaufwirtschaft systematischer berücksichtigen und ein Engagement von Unternehmen in internationalen Normungsgremien gefördert werden.
Innovationen ermöglichen
Wenn es um die Fähigkeit zur Innovation geht, bewegt sich Deutschland im internationalen Vergleich gerade mal im Mittelfeld und der Abstand zur Spitze ist (schon länger) deutlich. Dabei entscheiden nicht zuletzt Innovationen über die Zukunftsfähigkeit des industriellen Mittelstands. Am Standort gibt es kaum eigene Rohstoffe und die Arbeitskosten sind hoch. Daher ist Innovation existenzieller Differenzierungsfaktor im zunehmend internationalen Wettbewerb. Staaten, Länder und Unternehmen ohne geeignetes Umfeld für innovative Forschung und neue Geschäftsmodelle verlieren an Bedeutung. Im deutschen Innovationssystem braucht es mehr Dynamik, Tempo und Flexibilität sowie Mut, Offenheit und Umsetzungswillen auf allen Seiten.
Als Handlungsempfehlungen für eine starke Zukunft des industriellen Mittelstands 2030 sind zu nennen:
▪ Ökosystem für Innovation stärken. Es hilft dem industriellen Mittelstand, wenn die öffentliche Hand international wettbewerbsfähige Unternehmenssteuern ansetzt, gezielt finanzielle Unterstützung anbietet und grundsätzlich einen smarten Rahmen für Forschung und Innovation setzt. Es gilt, technologieoffen und entlang klarer Kriterien gezielt zu fördern sowie nicht zuletzt zirkuläre und ressourceneffiziente Geschäftsmodelle zu stärken.
Geeignete Freiräume vorausgesetzt, ist gerade der wendige Mittelstand stark darin, entlang von Kundenwünschen und mit geduldigem Kapital zukunftsträchtige Themen und Märkte zu entwickeln. Flankierend sollte das Bildungssystem eine Kultur der Innovation fördern, etwa durch mehr anwenderbezogene Forschung an Universitäten und Fachhochschulen oder durch Schulreformen mit Blick auf modernes Lehren und Lernen sowie auf mehr Fokus für MINT-Fächer.
▪ Gründen und Nachfolgen erleichtern. Die Gründungsdynamik erhöht, wer neue Geschäftsmodelle zulässt sowie deren schnelle Einführung und Skalierung ermöglicht. Somit sollte der Zugang zu Risikokapital erleichtert, regulatorische Belastungen reduziert und besserer Marktzugang –nicht zuletzt für Kooperation mit industriellen Mittelständlern – ermöglicht werden.
Ein völlig falsches Zeichen zum Thema Unternehmensnachfolge setzt, wer Modelle von Substanzbesteuerung inklusive überschießender Erbschaftsteuer in der politischen Debatte vorantreibt. Vielmehr gilt es, den Wert von unternehmerischem Denken und Handeln überall verständlich zu machen und gesellschaftlich zu stärken.
Ländliche Räume stärken
Unternehmen des industriellen Mittelstands sind oft – meist seit Generationen – in ländlichen Räumen beheimatet. Eingebunden in innovative Wertschöpfungsverbünde wirtschaften sie vor Ort nachhaltig erfolgreich und sind oft auch international tätig. Unternehmerischer Erfolg ermöglicht es Betrieben, attraktive Aus- und Weiterbildung sowie soziale Leistungen zu bieten. Ergänzend dazu sind viele der Unternehmerinnen und Unternehmer innovative Gestalter ihrer Region. Sie fördern Kunst, Kultur und Sport am Standort und engagieren sich für Integration und Inklusion. Für Deutschland insgesamt bringt das Stärke in der Breite und trägt bundesweit zu gleichwertigen Lebensverhältnissen bei.
Als Handlungsempfehlungen für eine starke Zukunft des industriellen Mittelstands 2030 sind zu nennen:
▪ Moderne digitale Infrastruktur schaffen und fortentwickeln. Mittelständler müssen an jedem Standort im Land umfassende digitale Prozesse nutzen und mit Kunden, Partnern oder Zulieferern aus aller Welt digital interagieren können. Für eine leistungsfähige, resilientere und nachhaltigere digitale Infrastruktur gilt es regulatorische Hürden für den Ausbau zu senken sowie Planungs- und Genehmigungsverfahren – Ende zu Ende digitalisiert – zu beschleunigen.
▪ Verkehrsinfrastruktur modernisieren und ausbauen. Um im verarbeitenden Gewerbe wettbewerbsfähig wirtschaften zu können, müssen Vorleistungen stets fristgerecht die Produktion erreichen und fertige Produkte zügig die Betriebe verlassen können. Arbeits- und Fachkräfte wiederum achten bei der Wahl des Arbeitgebers auch auf moderne Mobilität vor Ort inklusive guter Anbindungen an größere Städte.
▪ Anbindung an Energienetze sichern. Elektrizität bleibt auch im industriellen Mittelstand eine Schlüsselenergie. Jenseits von Versorgungssicherheit und wettbewerbsfähigen Preisen benötigen Unternehmen nicht zuletzt Anschlüsse an eine leistungsfähige Netzinfrastruktur.
▪ Bildungsmöglichkeiten flächendeckend anbieten. Moderne Bildungsmöglichkeiten in der Fläche – ob in Schule oder Berufsschule – helfen dabei, Abwanderung vorzubeugen und qualifizierte Fachkräfte zu binden. (Fach-)Hochschulen auch in ländlichen Gebieten zu halten, erlaubt es Mittelständlern zukunftsorientiert Forschungsprojekte mit der Wissenschaft aufzusetzen und Studierende frühzeitig als potenzielle Arbeitgeber anzusprechen.
▪ Fachkräfteversorgung sichern. Urbanisierung, demographischer Wandel und Akademisierung machen es dem industriellen Mittelstand in der Fläche besonders schwer, Arbeits- und Fachkräfte zu finden und zu halten. Notwendig ist ein umfassendes und schlüssiges Gesamtkonzept zur Fachkräftesicherung. Dazu gehört die Erschließung aller inländischen Potenziale sowie zur gezielten Erwerbs-Zuwanderung mit zügigen, transparenten und digitalen Verwaltungsverfahren.
▪ Kommunale Strategie für Zukunftsinvestitionen sichern. Wegweisend bleibt eine moderne und nachhaltige Gemeindefinanzierung, die den Anforderungen des Unternehmenssteuerrechts und dem Finanzbedarf der Kommunen gleichermaßen gerecht wird. Hilfreich ist, ländliche Regionen als Investitionsstandort für privates und öffentliches Wagniskapital attraktiver zu machen. Es stärkt die Attraktivität einer Region, wenn es Angebote für Wohnen, wohnortnahe Schule und Gesundheit sowie für leistungsfähige lokale und regionale Verkehrsdienste gibt.
▪ Medizinische Versorgung flächendeckend gewährleisten. Allein bis 2030 geht rund die Hälfte aller Allgemeinmediziner in den Ruhestand. Innovative und digitale Gesundheitslösungen mit nachgewiesenen Zusatznutzen können flächendeckend und wohnortnah die erforderliche Gesundheitsversorgung stärken.
Potenziale der EU sichern und heben
Viele industrielle Mittelständler und Familienunternehmen sind durch Arbeitsteilung, Wissensaustausch, Investitionen und Handel – auch in grenzüberschreitenden Lieferketten und Wertschöpfungsverbünden – weltweit verflochten. In Deutschland hängt jeder vierte Arbeitsplatz vom Export ab, in der Industrie sogar mehr als jeder zweite. Der regionale Schwerpunkt internationaler Aktivitäten liegt meist in Europa und dem EU-Binnenmarkt.
Mehr denn je muss sich Deutschland in einem Umfeld des verschärften globalen Standortwettbewerbs und zunehmenden geopolitischen Verwerfungen orientieren. Erfolgreich kann das nur in und mit einer starken EU gelingen. Wer die politische oder populistische Axt gegen die EU schwingt, der gefährdet das fragile Ökosystem eines zukunftsfähigen industriellen Mittelstands am Standort. Die Kosten von Nicht-Europa sind immens und gehen weit über materielle Schäden hinaus.
Gleichzeitig stimmt, dass ein BDI-Lagebild im industriellen Mittelstand aus Spätsommer 2023 ergeben hatte, dass 51 Prozent der Unternehmen die EU als Teil der Lösung für die Wettbewerbsfähigkeit des eigenen Unternehmens sehen. Allerdings bewerteten 26 Prozent die EU als Teil des Problems. Hier zu einer anderen EU-Wahrnehmung und zu mehr positiver Spürbarkeit in der Praxis zu kommen, ist ein gemeinsames Interesse von Politik auf allen Ebenen sowie von Mittelstand und Familienunternehmen aller Größen, Regionen und Branchen.
Als Handlungsempfehlungen für eine starke Zukunft des industriellen Mittelstands 2030 sind zu nennen:
▪ EU-Binnenmarkt zum Wachstumsmotor machen. Der EU-Binnenmarkt bietet nur dann sein volles Potenzial, wenn er voll funktionsfähig ist. Barrieren für Produkte, Dienstleistungen, Kapital und Beschäftigte müssen verlässlich fallen. Es gilt, freien Transfer und optimale Ressourcenallokation über EU-Grenzen hinweg sicher, einheitlich und zuverlässig zu organisieren. Lücken müssen geschlossen und eine weitere Vertiefung – insbesondere bei Energie, Dienstleistungen, Digitales oder Kapital – vorangebracht werden.
▪ EU wirtschafts- und mittelstandspolitisch klar ausrichten. EU-Kommission, EU-Parlament und Ministerrat sind im Interesse des industriellen Mittelstands in Deutschland aufgefordert, die europäische Wirtschaftspolitik in allen Facetten an Wettbewerbsfähigkeit in der digitalen und ökologischen Transformation auszurichten sowie an besserer Rechtssetzung und möglichst sparsamer Regulierung im Dienst der Marktschaffung zu orientieren.
Mittelstandspolitik gehört strukturell und auch operativ – hinsichtlich bürokratischer Entlastung und gezielter Förderung – fest auf der politischen EU-Agenda verankert. Eine Reform der KMU-Definition ist notwendig, eine Unternehmenskategorie „Mid-Caps“ angesichts der besonderen Qualität des industriellen Mittelstands überfällig.
Gerade unter der Bedingung der doppelten Transformation und des wachsenden Protektionismus weltweit sollte „Mittelstand“ – KMU plus Mid-Caps – bürokratiearmen Zugang zu EU-Förderprogrammen bekommen. Da gilt es in relevanten Programmen gezielt anzusetzen sowie den mehrjährigen Finanzrahmen ab 2027 strategisch zu nutzen.
▪ Besseres Recht setzen. Der industrielle Mittelstand ist mehr als genug damit beschäftigt, diverse Anforderungen hochgradig komplexer EU-Gesetze der letzten Jahre umzusetzen. Zu denken ist
etwa an die Berichterstattung zu Nachhaltigkeit oder die Dokumentationen zu CBAM im Außenhandel.
Künftig müssen Gesetzgebungsinitiativen der EU genauere Kosten-Nutzen-Rechnungen umfassen und die Ergebnisse öffentlicher Konsultation stärker berücksichtigen. Ohnehin gilt es, die Qualität von Folgenabschätzungen zu erhöhen, eine unabhängige Regulierungskontrolle zu stärken und das One in, one out-Prinzip auf europäischer Ebene umzusetzen. Neben administrativen Belastungen, muss auch der erhebliche Erfüllungsaufwand für Unternehmen unterschiedlicher Größen erfasst und zügig abgebaut werden.
▪ Außenwirtschaftliche Wachstumsimpulse setzen. Für erfolgversprechende internationale Geschäfte außerhalb der EU baut der industrielle Mittelstand auf offene Märkte und fairen Wettbewerb weltweit. Komplizierte Zollverfahren der EU dürfen weder Marktzugangsbarriere für Unternehmen aus Drittländern noch Exporthindernis sein. Für mehr Zugang braucht es weitere Handelsverträge mit strategischen Partnern.
Wichtig für regelbasierten Welthandel bleibt eine leistungsfähige WTO. Zugleich braucht es neue handelspolitische Ansätze wie etwa plurilaterale Initiativen innerhalb der WTO (etwa zu Mechanismen oder Verträgen), mehr Diversifizierung und De-Risking sowie mehr europäische Entschlossenheit zur Umsetzung einer „offenen strategischen Autonomie“.
▪ Nationale Voraussetzungen für hilfreiche EU schaffen. Dem industriellen Mittelstand hilft ein EU-Binnenmarkt spürbar dann, wenn die „vier Freiheiten“ und ein grenzüberschreitend einheitlicher Rechtsrahmen gewährleistet sowie das Prinzip der Subsidiarität voll umgesetzt sind.
Die nationale Ebene sollte EU-Recht immer 1:1 umsetzen und auf „Gold-Plating“ verzichten. Gleichzeitig gilt es, das Prinzip der gegenseitigen Anerkennung systematisch anzuwenden und grenzüberschreitende Kooperationen mit Behörden anderer EU-Staaten zu verbessern.
Die Bundesregierung bleibt aufgefordert, frühzeitig und ressortübergreifend eine Position zu europapolitischen Dossiers abzustimmen, um deutsche Interessen im Rat wirkungsvoller vertreten zu können. Dabei hilft es, immer wieder neue Allianzen mit gleichgesinnten Partnern zu suchen und gezielt voranzutreiben.
Impressum
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Lobbyregisternummer: R000534
Die „Zukunftsszenarien industrieller Mittelstand 2030“ hat der BDI mit methodischer Beratung und inhaltlicher Unterstützung von Daniel Bonin, Holger Glockner und Christian Grünwald aus dem Beratungsunternehmen Z_punkt GmbH entwickelt.
Dank für Idee und Inspiration sowie für Rat und Tat im Projekt „Zukunftsszenarien industrieller Mittelstand 2030“ geht an den BDI/BDA-Mittelstandsausschuss und den BDI-Arbeitskreis Mittelstand. Explizit genannt seien auch jenseits davon: Johannes Bräun, Sebastian Brunkow, Alexander Felsch, René Hagemann, Walter Hallstein, Wolfgang Hartung, Hendrik Hartenstein, Jonas Löher, Holger Lösch, Jens Loschwitz, Jens Matschenz, Katharina Mayer, Oliver Perschau, Judith Pichler, Klaus-Heiner Röhl, Eberhard von Rottenburg, Tillman van de Sand, Volker M. Schilling, Carsten Wehmeyer und Alexander Winkler.
Redaktion
Fabian Wehnert
Abteilungsleiter Mittelstand und Familienunternehmen
T: +49 30 2028-1470 f.wehnert@bdi.eu
BDI Dokumentennummer: D1995