»Die Freiheit geschieht nicht an uns, sie geschieht durch uns« (Leseprobe)

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ZEITGESCHICHTE IM FOKUS

Schriftenreihe der Stiftung Ernst-Reuter-Archiv

Bd. 7

Eine gemeinsame Publikation der Konrad-Adenauer-Stiftung e. V. und der Stiftung Ernst-Reuter-Archiv.

»Die Freiheit geschieht nicht an uns, sie geschieht durch uns«
BeBra Wissenschaft Verlag

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© be.bra wissenschaft verlag GmbH

Berlin-Brandenburg, 2023

Asternplatz 3, 12203 Berlin post@bebraverlag.de

Lektorat: Tanja Krajzewicz, Berlin

Umschlag und Satz: typegerecht berlin

Schrift: Minion 10,5/14pt

Druck und Bindung: Finidr, Česky Těšin

ISBN 978-3-95410-106-1

ISSN 2194-4318

www.bebra-wissenschaft.de

Inhalt

MICHAEL C. BIENERT, MATTHIAS OPPERMANN, KATHRIN ZEHENDER

KATHRIN ZEHENDER

MICHAEL C. BIENERT

NORBERT LAMMERT Vorwort 7
Einleitung 11
Richard von Weizsäcker und sein Beitrag zur deutschen Politik 17
Richard von Weizsäckers protestantische Prägungen 27
THOMAS DE MAIZIÈRE
GANGOLF HÜBINGER
der Spitze steht der Alte Fritz« Richard von Weizsäcker, Preußen und die nationale Frage 47
SCHLIE
und gute Erfahrungen aus einer schweren Zeit« Richard von Weizsäcker und der Nationalsozialismus 81
MATTHIAS OPPERMANN »An
ULRICH
»Böse
sind
Richard von Weizsäcker als Vorsitzender der CDU-Grundsatzprogrammkommission 105
»Grundsätze
kein selbsttätiger Besitz«
Politik mit
Richard von Weizsäcker als Regierender Bürgermeister von Berlin, 1981–1984 127
Augenmaß
KARL-RUDOLF KORTE Der Bundespräsident als Politik-Ermöglicher Der Moskau-Besuch Richard von Weizsäckers 1987 165 DOMINIK GEPPERT »König Silberlocke« Richard von Weizsäcker und die Medien 183 Anhang Quellen- und Literaturhinweise 205 Abkürzungsverzeichnis 207 Personenregister 209 Herausgeber und Autoren 211 Abbildungsnachweis 213

Vorwort

»[D]ie Inkarnation der wechselvollen Geschichte der Deutschen, vor allem des vergangenen Jahrhunderts«1 – so bezeichnete Rainer Burchardt 2010 im Deutschlandfunk den 1920 in Stuttgart geborenen Richard von Weizsäcker. Ohne Zweifel gehört dieser Mann zu den herausragenden Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte und der gelungenen zweiten deutschen Demokratie. In den verschiedenen Ämtern, die er in diesem Staat wahrgenommen hat, ist er zu einer Identifikationsfigur geworden, in deren Leben und Wirken sich ein Jahrhundert deutscher und europäischer Geschichte spiegelt.

Für mich persönlich war er, noch vor meiner aktiven politischen Laufbahn, in seiner Rolle als programmatischer Impulsgeber der Christlich Demokratischen Union zu einer Kristallisationsfigur geworden. Nach der Ankündigung des neuen Parteivorsitzenden Helmut Kohl im Jahr 1973, ein erstes Grundsatzprogramm zu entwickeln, hat es beeindruckende Veranstaltungen gegeben, bei denen Weizsäcker als Leiter der Programmkommission über den Stand der Beratungen berichtete. Es gelang ihm dabei immer wieder in unnachahmlicher Manier, wegweisende Elemente des 1978 beschlossenen Parteiprogramms zu entwickeln und zu vermitteln. Bei einer dieser Veranstaltungen hatte er die in der Tagesordnung vorgesehene Redezeit längst deutlich überschritten und fragte mit der ihm eigenen Höflichkeit, ob er noch ein paar Minuten eingeräumt bekäme. Der folgende donnernde Applaus machte deutlich, dass er beliebig lange hätte reden können, ohne dass es jemandem zu viel geworden wäre.

1 Rainer Burchardt: Inkarnation der wechselvollen Geschichte der Deutschen, in: Deutschlandfunk: Andruck – Das Magazin für Politische Literatur, Sendung vom 22. Februar 2010, online unter: https://www.deutschlandfunk.de/inkarnation-der-wechselvollen-geschichte-der-deutschen.1310. de.html?dram:article_id=194045 (Zugriff am 28. Oktober 2021).

Vorwort 7
LAMMERT
NORBERT

1969 war er in den Deutschen Bundestag gewählt worden, dem er zwölf Jahre und durchgehend in der Opposition angehörte. In den kontroversen Debatten um die Ostverträge bewies er bereits seine Fähigkeit zur wort- und wirkmächtigen Intervention, unter anderem als deutschlandpolitischer Sprecher der Unionsfraktion und Mitglied im Ausschuss für innerdeutsche Beziehungen. 1973 unterlag er Karl Carstens in einer Kampfabstimmung um den Vorsitz der CDU/CSU-Bundestagsfraktion und wurde dessen Stellvertreter. Von 1979 bis zu seinem Abschied aus dem Parlament war Weizsäcker dessen Vizepräsident.

Er verließ Bonn 1981, um als Regierender Bürgermeister von Berlin – als »Schwabe im Exil«2 , wie er es nannte – Verantwortung für die Stadt zu übernehmen. Dies geschah zu einer Zeit, als die ideologischen wie realen Mauern noch für die Ewigkeit errichtet schienen; als Berlin weder Hauptstadt noch Regierungssitz war, gleichwohl aber zu den wichtigsten Städten unseres geteilten Landes wie des europäischen Kontinents zählte.

Weizsäcker stand für einen grundlegenden Wechsel, zum einen, weil mit ihm erstmals nach über 25 Jahren die CDU wieder die Senatsführung übernahm; zum anderen, weil er ein auffällig neues Amtsverständnis mitbrachte. Er war bestrebt, die internationalen Kontakte der Stadt zu stärken und auszubauen. Auch bei der Pflege des Verhältnisses zu den Westalliierten erwarb er sich großes Ansehen. Zugleich sah und sorgte er sich um die städtischen Probleme West-Berlins. Er wurde zu einem Hoffnungsträger für ein neues Verständnis vom Leben in der Großstadt, von Wirtschaft und Arbeit in einer Metropole, die aufgrund ihrer Lage und Situation jahrzehntelang weltweit einzigartig war und daher immer einer besonderen Stadtpolitik bedurfte.

Die Überwindung der Teilung Berlins, die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands und das Ende des Kalten Krieges fielen in Weizsäckers Amtszeit als sechster Bundespräsident von 1984 bis 1994. Als er 1990 zudem erster Bundespräsident des wiedervereinigten Deutschlands wurde, erkannte er die unterschiedlichen Befindlichkeiten der Menschen in Ost und West. Er sah es als seine Aufgabe an, sie zusammenzuführen. Am Tag der Deutschen Einheit formulierte er: »Sich zu vereinen, heißt teilen lernen«3 – ein Satz, der die Herausforderung des inneren Einigungsprozesses auf den Punkt brachte, indem er dem Staat wie jedem einzelnen Staatsbürger seine jeweilige Verantwortung zumaß.

2 Zit. nach Gunter Hofmann: Richard von Weizsäcker. Ein deutsches Leben, München 2010, S. 15.

3 Ansprache von Bundespräsident Richard von Weizsäcker beim Staatsakt zum »Tag der deutschen Einheit« am 3. Oktober 1990, online unter: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/ DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1990/10/19901003_Rede.html (Zugriff am 28. Oktober 2021).

8
Norbert Lammert

Neben vielem anderen wird die Amtszeit Weizsäckers insbesondere mit jener Rede verbunden bleiben, die er aus Anlass des 40. Jahrestages des Kriegsendes in Europa am 8. Mai 1985 im Deutschen Bundestag gehalten hat. Sie war seine vielleicht persönlichste, ganz sicher aber seine politisch bedeutendste Rede, die längst und in zweierlei Hinsicht als ein Meilenstein gilt: zum einen, weil sie eine jener herausragenden Reden ist, die in keinem Buch über große politische Reden fehlen darf. Zum anderen, weil sie eine Zäsur in der Erinnerungskultur unseres Landes markiert. Denn das von Weizsäcker Gesagte hat – zwar nicht sofort, aber relativ bald danach – eine deutliche Veränderung des Selbstverständnisses der Erinnerungskultur unseres Landes bewirkt.

»Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.«4 Dass der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung war, hatten andere schon vor ihm in ähnlicher Weise gesagt – zum Beispiel auch Helmut Kohl, etwa zwei Wochen zuvor in Bergen-Belsen bei seiner Ansprache zum 40. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen aus dem Konzentrationslager. Nachhaltige Wirkung entfaltete der Gedanke aber erst in den Worten Weizsäckers – kraft seines Amtes wie seiner persönlichen Autorität, seiner Lebenserfahrung, der erlittenen Brüche in seiner eigenen Familie, aber auch durch die intellektuelle Schärfe seiner zugleich berührenden Gedanken.

Ich habe noch gut in Erinnerung, wie die Rede anfangs unter den anwesenden Mitgliedern des Deutschen Bundestages gewirkt hat: Beinahe alle waren beeindruckt, aber keineswegs alle waren begeistert. Es gab eine überschaubare Minderheit, die nicht nur beeindruckt, sondern nahezu befreit wirkte durch das, was er sagte und wie er es sagte. Daneben gab es eine weitere, nicht viel kleinere Minderheit, die hochgradig irritiert und mit kaum unterdrückter Empörung zur Kenntnis nahm, was er damals zu seinem Verständnis dieses Datums und dessen Bedeutung für das Selbstverständnis dieser Bundesrepublik Deutschland äußerte.

Die Rede wirkt nach, weil sie die Deutschen nicht etwa mit der Geschichte versöhnte, sondern sie veranlasste, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen, auch wenn es weh tut. Richard von Weizsäcker hat damit einen ganz persönlichen Beitrag zum nachhaltigen Umgang der Deutschen mit ihrer Geschichte geleistet – und das wird bleiben.

Dass vieles von ihm bleiben wird, belegt die vorliegende Publikation, herausgegeben von der Stiftung Ernst-Reuter-Archiv und der Konrad-Adenauer-Stiftung

4 Richard von Weizsäcker: Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1985, online unter: https://www. bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_ Rede.html (Zugriff am 27. Oktober 2021).

Vorwort 9

im Nachgang zu einer gemeinsamen Tagung im März 2021 anlässlich seines 100. Geburtstages, den wir im Vorjahr wegen der Corona-Pandemie nicht in einer öffentlichen Veranstaltung würdigen konnten. Die versammelten Beiträge sind Ausdruck unverändert großen Respekts und tiefer Dankbarkeit, die ihm für seine herausragende politische Lebensleistung im Dienste unseres Landes nach wie vor gebühren. Sie zeugen davon, dass Richard von Weizsäcker zeit seines Wirkens Maßstäbe gesetzt hat und dass sein Verständnis einer aufgeklärten, reflektierten politischen Kultur über seinen Tod hinaus weiterwirkt.

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Norbert Lammert a. D.

Einleitung

Seitdem Richard von Weizsäcker ins Amt des Bundespräsidenten gewählt wurde –im Grunde sogar schon seit seiner Wahl in den Deutschen Bundestag – wollte der Ruf nicht verstummen, er sei ein Intellektueller. Dieses Etikett haftet ihm bis heute an. Kann ein Politiker ein Intellektueller sein? Legt man die französische, aus der Zeit der Dreyfus-Affäre stammende Definition zugrunde, nach der ein Intellektueller eine von geistiger Arbeit lebende Person ist, die sich mit Stellungnahmen ins öffentliche Leben einbringt, kann ein Politiker kaum ein Intellektueller sein. Es mag Intellektuelle in der Politik geben. Sie hören dann jedoch notwendigerweise auf, Intellektuelle zu sein. Weizsäcker war keines von beiden: weder ein Intellektueller im französischen Sinne noch ein Intellektueller, der den Weg in die Politik gefunden hatte. Er lebte nicht von geistiger Arbeit und beeinflusste die öffentliche Debatte nicht mit dem Prestige eines homme de lettres.

Als Weizsäcker 1969 erstmals in den Bundestag einzog, war er ein Mann der Wirtschaft, der kirchliche Ämter bekleidet hatte und es sich leisten konnte, die Politik mit fast 50 Jahren zu seinem Beruf zu machen. Seine geistige Brillanz schadete dabei nicht. Sie wurde sogar zu seinem Markenzeichen, nicht erst mit dem Beginn der politischen Karriere, sondern schon als er das Amt des Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentags bekleidete. Aber zum Intellektuellen machte sie ihn nicht. Weizsäcker selbst wusste das ganz genau, wie er am 5. Dezember 1983 in der aus dem Café Kranzler gesendeten Talkshow Leute des Senders Freies Berlin deutlich machte. Als der Kabarettist Wolfgang Neuss ihm aus dem Publikum auf die Bühne zurief, sein Bruder Carl Friedrich sei doch »der eigentliche Intellektuelle in der Familie«, konterte Weizsäcker mit Berliner Tonfall: »Ich bin ja gar keen Intellektueller. Hab’ ich auch nie behauptet.«1

Einleitung 11
1 Leute vom 5. Dezember 1983. Eine Produktion des Senders Freies Berlin, 01:36:00–01:38:20.

Ein Intellektueller war er nicht, und wenn er doch so genannt wurde, dann lag das vor allem daran, dass die deutsche Politik nur wenige Personen zu bieten hatte, die eine geistige Aura umgab. Ganz zu Recht hat Bernhard Vogel festgestellt, Weizsäcker habe »die CDU wieder das Denken gelehrt«.2 Ein Denker in der Politik – das wollte er sicher sein. Politik zu denken war für Weizsäcker mindestens ebenso wichtig, wie sie zu machen. Tatsächlich hat er sie nur in der kurzen Phase als Regierender Bürgermeister von Berlin wirklich gestaltet. Nach langen Jahren als programmatischer Denker der CDU wollte und brauchte er ein exekutives Amt. Es war Zeit, dass er handelte, »statt immer nur herumzudenken«, wie er im Berliner Wahlkampf von 1978 mit ironischem Unterton sagte.3 Doch auch nachdem er 1981 Regierender Bürgermeister geworden war, konnte er das Denken nicht lassen. Immer wieder, so berichtet sein ehemaliger Büroleiter Norbert Kaczmarek, habe er sich für ganze Tage in die von seinem Freund Shepard Stone geleitete American Academy auf der Insel Schwanenwerder zurückzugezogen oder ließ Freiräume in

2 Bernhard Vogel: Ein Mann, der seine Partei das Denken lehrte, in: Werner Filmer/Heribert Schwan (Hrsg.): Richard von Weizsäcker. Profile eines Mannes, 12. Aufl., Düsseldorf/Wien 1986 (erstmals 1984), S. 138–140, hier S. 139.

3 Zit. nach Hans-Joachim Noack: »Statt immer nur herumzudenken«. Weshalb Richard von Weizsäcker in West-Berlin erster Mann werden will, in: Frankfurter Rundschau vom 1. Dezember 1978.

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Michael C. Bienert, Matthias Oppermann, Kathrin Zehender Wolfgang Neuss (links) im Gespräch mit Richard von Weizsäcker in der Talkshow Leute im Café Kranzler, 5. Dezember 1983.

seinem Terminkalender reservieren, um in Ruhe denken zu können.4 Und als er das Amt nach gerade einmal zweieinhalb Jahren wieder abgab, bekam die Bundesrepublik einen »Denker als Präsident[en]«5, der gleichwohl die Worte, die er in seinen zahlreichen Reden sprach, als Taten verstand.

Diese für Weizsäcker typische Verschränkung von politischem Denken und Handeln ist der Gegenstand des vorliegenden Sammelbandes. Das Thema spiegelt sich in ganz unterschiedlichen Aspekten seines Wirkens, die sich sicher durch die eine oder andere Betrachtung ergänzen ließen. Die Beiträge sind nicht als Bestandsaufnahme oder gar als Abriss seines ganzen politischen Lebens zu verstehen.

Vielmehr stehen sie schlaglichtartig für Fragen, die Weizsäcker besonders bewegten und vor allem einen tieferen Einblick in sein Verständnis von Politik erlauben.

Gleichsam leitmotivisch für den gesamten Band steht der Aufsatz »Richard von Weizsäcker und sein Beitrag zur deutschen Politik« von Thomas de Maizière, beruhend auf einem Festvortrag, den der Autor im April 2021 bei einer Veranstaltung anlässlich des 100. Geburtstags von Richard von Weizsäcker gehalten hat. Diese Konferenz war das Ergebnis einer Kooperation der Stiftung Ernst-Reuter-Archiv und der Konrad-Adenauer-Stiftung und hätte natürlich schon ein Jahr früher stattfinden sollen. Wie viele andere Ereignisse dieser Art ist das geplante Geburtstagssymposion der Covid-19-Pandemie zum Opfer gefallen. Immerhin konnte es in digitaler und verkleinerter Form nachgeholt werden. Die in diesem Band versammelten Beiträge sind in einer ersten Version zum Teil für diese Tagung geschrieben worden, zum Teil erst später entstanden. Das vorliegende Buch soll jedenfalls die umfassende Würdigung Weizsäckers nachholen, die die wissenschaftliche Tagung in ihrer ursprünglich geplanten Form gewesen wäre.

Thomas de Maizières Ausführungen stellen dabei eine Verbindung zwischen beidem dar. Er zeichnet ein persönliches Bild Weizsäckers, der, wie er schreibt, als Regierender Bürgermeister von Berlin sein »erster Chef« war. Anhand verschiedener Gesichtspunkte zeigt er auf, wie Weizsäcker die deutsche Politik prägte. Dabei kommt das Verhältnis von Wirtschaft und Politik ebenso vor wie das von Religion und Politik. De Maizière weist vor allem auf die große Bedeutung hin, die Weizsäckers Mittlerrolle zwischen der CDU und der Evangelischen Kirche hatte.

Kirche und Glaube sind – aus einem ganz anderen Blickwinkel – auch das Thema des Aufsatzes von Gangolf Hübinger, der sich mit Richard von Weizsäcker als Vertreter des Kulturprotestantismus befasst. Hübinger untersucht zum einen, wie Weizsäcker durch seine Familie geprägt wurde, und zum anderen, welche

4 Vgl. Norbert Kaczmarek: »… statt immer nur herumzudenken«. Richard von Weizsäcker und Berlin 1978–1984, Berlin 2012, S. 133.

Einleitung 13
5 Wolfgang Wiedemeyer: Richard von Weizsäcker. Ein Denker als Präsident, München 1989.

Impulse er im intellektuellen Milieu der sogenannten »protestantischen Mafia« (Claus Grossner) der alten Bundesrepublik erhalten hat. Dabei kommt Hübinger zu dem Schluss, dass Weizsäcker die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und nicht die CDU das Umfeld bot, die Rolle eines public moralist zu spielen. Auch in seinem Umgang mit der deutschen Geschichte erkennt Hübinger den Einfluss des Kulturprotestantismus als einer Bildungsreligion.

Setzt sich Hübinger mit der Bedeutung des Protestantismus für Weizsäckers politisches Denken auseinander, so stellt Matthias Oppermann in seinem Aufsatz die Frage, wie Weizsäckers Rezeption der preußischen Geschichte seinen Blick auf die nationale Frage prägte, welche Wechselwirkungen es also in seinem politischen Denken zwischen dem von ihm oft beschworenen Preußentum und dem in der Familie tradierten Nationalliberalismus gab. Er kommt zu dem Schluss, der ausgesprochen national denkende Weizsäcker habe versucht, Deutschland mithilfe der liberalen Tradition Preußens geistig-moralisch zu rehabilitieren. An die Stelle einer »deutschen Sendung« Preußens sei bei dem Bewunderer Friedrichs des Großen eine »preußische Sendung« für Deutschland getreten.

Auch Ulrich Schlie befasst sich in seinem Beitrag mit der Bedeutung historischer Erinnerung für Weizsäckers Denken und Politik, in diesem Fall mit Blick auf das Erleben des »Dritten Reichs« und des Zweiten Weltkriegs. Er geht davon aus, dass die Erfahrungen, die Weizsäcker in der Zeit des Nationalsozialismus machte, ihn mehr prägten »als alles andere«. Eine zentrale Rolle spielten in diesem Zusammenhang aus Schlies Sicht seine persönlichen Verbindungen zu Akteuren des militärischen Widerstands. Das Attentat vom 20. Juli 1944 sei zum zentralen Ereignis in seinem Leben geworden. Auch das familiäre Umfeld, vor allem die Rolle seines Vaters Ernst von Weizsäcker, bezieht Schlie in seine Betrachtung ein. Weizsäcker erscheint in diesem Beitrag als ein Denker, dessen Vorstellungen tief in der Auseinandersetzung mit der deutschen Geschichte verwurzelt sind, wobei das »Dritte Reich« zwangsläufig herausgehobene Relevanz hatte.

Dass Weizsäckers politisches Denken aber auch ganz konkret auf die Gegenwart gerichtet war, dass er versuchte, mit seinen Reflexionen seine Zeit zu formen, zeigt der Aufsatz von Kathrin Zehender über Weizsäcker als Vorsitzender der CDU-Grundsatzprogrammkommission. Weizsäcker, so Zehender, sei der Ansicht gewesen, dass die CDU ein Grundsatzprogramm brauche, weil eine Volkspartei von Mitgliedern und Wählern mit ganz unterschiedlichen Interessen getragen werde und die Arbeit an gemeinsamen Grundsätzen eine integrierende Kraft entfalte. Seine konservativen Überzeugungen habe er etwa mit Blick auf das Familienbild in das Grundsatzprogramm eingebracht. Zentralen Stellenwert habe für ihn das Ideal der »verantworteten Freiheit« gehabt, mit dem er eine Brücke zwischen seinen konservativen und seinen liberalen Prinzipien geschlagen habe.

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Michael C. Bienert, Matthias Oppermann, Kathrin Zehender

Schneeballschlacht mit Journalisten und Weizsäckers Pressesprecher Friedbert Pflüger (links) während des Staatsbesuchs in Bulgarien, 24. November 1988.

Noch stärker auf die praktische Politik ist der Aufsatz von Michael C. Bienert gerichtet, der Weizsäckers Handeln als Regierender Bürgermeister von Berlin in den Blick nimmt. Obwohl man leicht geneigt sein kann, dessen kurze Amtszeit im Rathaus Schöneberg als eine Zwischenstation auf dem Weg zu noch größeren Aufgaben zu bewerten, sieht Bienert in ihr mehr als eine Randnotiz. Unter schwierigen Ausgangsbedingungen gelang es Weizsäcker, in einer von der Sozialdemokratie geprägten Stadt die CDU in die Regierungsverantwortung zu führen. Zwar konnte der neue Senat zunächst nicht auf eine Mehrheit im Abgeordnetenhaus bauen, die durch eine formelle Koalition abgesichert war, aber er bemühte sich um die Lösung der drängenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme – und bewies dabei eine bemerkenswerte Stabilität. Als Stadtoberhaupt pflegte Weizsäcker ein präsidiales und von geistiger Unabhängigkeit geprägtes Amtsverständnis, das sich Bienert zufolge von den im politischen Milieu West-Berlins üblichen Kategorien abhob.

Den selbstbewussten Anspruch, die der jeweiligen Position innewohnenden Handlungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen, stellte Weizsäcker nicht nur in Berlin als Regierender Bürgermeister unter Beweis, sondern er zog sich auch durch die Zeit als Bundespräsident. Karl-Rudolf Korte betrachtet in seinem Beitrag die außenpolitische Dimension, die Weizsäcker diesem Amt gab. Mit Blick auf den Wiedervereinigungsprozess sieht er ihn als einen in Moskau dem Bundeskanzler vorarbeitenden »Politik-Ermöglicher«. Nicht zuletzt nach dem missglückten

Einleitung 15

Newsweek-Interview Helmut Kohls, in dem der Bundeskanzler die propagandistischen Fähigkeiten Michail Gorbatschows mit denen des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels verglichen hatte, habe Weizsäckers Moskau-Besuch 1987 einen Neuanfang in den deutsch-sowjetischen Beziehungen markiert. Korte zeigt auf, wie Weizsäcker die Spielräume seines Amtes geschickt für außenpolitische Zwecke nutzte und damit die Voraussetzungen dafür schuf, dass Kohls Politik der Wiedervereinigung gelingen konnte.

Hier und auch bei anderen Gelegenheiten spielte Weizsäckers geschickter Umgang mit den Medien eine wichtige Rolle. Dieses Thema untersucht Dominik Geppert in seinem Aufsatz und stellt dabei fest, dass sich in der Medienberichterstattung schon früh ein bestimmtes, positives Weizsäcker-Bild herausgebildet habe, das sich über die folgenden Jahre und Jahrzehnte ausdifferenzierte, aber nicht grundlegend veränderte. Mit Blick auf Weizsäckers Präsidentschaft erklärt er, dass diese positive Wahrnehmung zum Teil auch darin begründet gewesen sei, dass Journalisten ihn oft mit dem von ihnen ungeliebten Helmut Kohl verglichen hätten. Auch Kritik aus den eigenen Reihen habe Weizsäckers Beliebtheit in den Medien und der breiteren Öffentlichkeit keinen Abbruch getan. Einen Grund dafür sieht Geppert darin, dass Weizsäcker ausgesprochen professionell im Umgang mit den Medien gewesen sei und belastbare Beziehungen zu Journalisten aus dem linksliberalen Lager gepflegt habe.

Das Bild, das durch die Betrachtung dieser Facetten von Richard von Weizsäckers Denken und Handeln entsteht, wird abgerundet durch das Vorwort von Norbert Lammert. Wir sind ihm zu besonderem Dank dafür verpflichtet, dass er es zu diesem Sammelband beigesteuert hat. Das Vorwort ist eine erweiterte und überarbeitete Fassung der Einführung, die er im April 2021 bei der digitalen Veranstaltung zum 100. Geburtstag gegeben hat, und kann als eine gleichermaßen persönliche wie politische, vor allem aber gerechte Würdigung verstanden werden. Herzlich danken wir zudem Leonie Kayser dafür, dass sie sich der redaktionellen Betreuung der einzelnen Beiträge und des ganzen Sammelbandes angenommen hat. Unser Dank gilt weiterhin Tanja Krajzewicz vom BeBra Wissenschaft Verlag für das umsichtige Lektorat. Und schließlich sei auch allen Autorinnen und Autoren dafür gedankt, dass sie diesen Sammelband mit ihren Gedanken bereichert haben.

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Michael C. Bienert, Matthias Oppermann, Kathrin Zehender

Richard von Weizsäcker und sein Beitrag zur deutschen  Politik

Festvortrag von Bundesminister a. D.

Dr. Thomas de Maizière MdB am 24. März 2021

Am 15. April 2020 wäre Richard von Weizsäcker 100 Jahre alt geworden. Dass wir heute unabhängig von seinem Geburtstagsjubiläum zusammenkommen, zeugt davon, dass Richard von Weizsäcker für Politik und Gesellschaft jenseits von irgendwelchen Daten prägend bleibt.

Mit dem Buch Kassandra von Christa Wolf hat es zu tun, dass ich heute diesen Festvortrag halte. Richard von Weizsäcker war mein erster Chef. 1983 bewarb ich mich um eine Anstellung als Redenschreiber Weizsäckers, dem Regierenden Bürgermeister von Berlin. Im Bewerbungsgespräch am Rande eines CDU-Landesparteitages fragte er mich, welches Buch ich zuletzt gelesen hatte. Angeblich sind solche Fragen heutzutage in Bewerbungsgesprächen politisch nicht korrekt – was für ein Unsinn! Es war Kassandra – Christa Wolfs bitter-kluge Erzählung über Schwäche, Angst und Gewalt. Ein altgriechischer humanistischer Mythos, mit großer Kraft erzählt von einer DDR-Schriftstellerin, gelesen in der ganzen deutschen Nation. Weizsäcker hatte es auch gerade gelesen. Es entspann sich eine lange Diskussion über Kassandra zwischen uns. Auf diese Weise glückte das Vorstellungsgespräch, und ich bekam die Stelle. – Er suchte ja einen Redenschreiber und keinen Justiziar.

Es war äußerst lehrreich und prägend, für Richard von Weizsäcker zu arbeiten. Er hat mir wesentliche Dinge beigebracht, von denen ich bis heute profitiere: sein Umgang mit Menschen und Sprache, seine Bildung und Disziplin, sein historischer Weitblick.

Ich bin gebeten worden, darzulegen, in welcher Weise Weizsäcker in Politik und Gesellschaft Spuren hinterlassen hat und wie er uns in Erinnerung bleibt. Zuvor möchte ich – für die Jüngeren – schlaglichtartig einige seiner Lebens- und beruflichen Stationen Revue passieren lassen. So wird am besten deutlich, wie stark sein eigenes Leben von der deutschen Geschichte geprägt war.

Richard
17 THOMAS DE MAIZIÈRE
von Weizsäcker und sein Beitrag zur deutschen Politik

Richard von Weizsäcker kam im April 1920 in Stuttgart als Sohn des Diplomaten Ernst von Weizsäcker auf die Welt. Zusammen mit seinem Bruder Heinrich gehörte er als Angehöriger des berühmten Potsdamer Infanterie-Regiments 9 zu den Soldaten, die am 1. September 1939 nach Polen einmarschierten. Heinrich fiel einen Tag nach Beginn des Krieges – Richard von Weizsäcker hielt Nachtwache bei seinem verstorbenen Bruder. Ganz selten sprach er von Heinrich. Dieser Verlust schmerzte ihn besonders. Der Krieg führte ihn an die Front vor Moskau und Stalingrad. Nach dem Zweiten Weltkrieg half der junge Jura-Student Richard von Weizsäcker im sogenannten Wilhelmstraßenprozess seinem Vater bei der Verteidigung.

Nach dem Studium in Göttingen ging Weizsäcker in die Industrie, anschließend war er Rechtsanwalt in Bonn. Daneben engagierte er sich in der Kirchentagsbewegung und wurde zweimal Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags. Der damals aufstrebende CDU-Landesvorsitzende in Rheinland-Pfalz, Helmut Kohl, wurde auf ihn aufmerksam. 1969 wurde Weizsäcker aus Rheinland-Pfalz in den Deutschen Bundestag gewählt, wo er seine politischen Lehrjahre als Abgeordneter in der Opposition antrat – manchmal, so kam es manchen vor, auch in Opposition zur eigenen Partei: Als Befürworter der Ostpolitik von Willy Brandt hatte er keinen leichten Stand in der Fraktion.

1979 kam er nach Berlin, um als CDU-Spitzenkandidat bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus anzutreten – beim ersten Mal noch erfolglos. Ohnehin hat er einige Male Kampfkandidaturen verloren. Auch das wird heute oft vergessen. Zwei Jahre später wurde er bei vorgezogenen Neuwahlen zum Regierenden Bürgermeister gewählt – in einer Stadt, die gekennzeichnet war von einer schwachen Wirtschaft, einer ausgeprägten Subventionsmentalität und einer aufflammenden Hausbesetzerszene. Weizsäcker reizte die »Verbindung von täglichen exekutiven Aufgaben mit der Außenpolitik«1.

1984 folgte der Ruf zurück nach Bonn, durchaus in einem Ringen mit Helmut Kohl. Was zehn Jahre zuvor misslang, war nun von Erfolg gekrönt: Die Bundesversammlung wählte Richard von Weizsäcker zum Bundespräsidenten. Als solcher hat sich Weizsäcker hohes Ansehen erworben. Bis heute ist er der beliebteste Bundespräsident.

Besondere Beachtung fand seine große Rede am 8. Mai 1985, in der er das Kriegsende 40 Jahre zuvor als »Tag der Befreiung« schilderte. Es gelang ihm auf

18 Thomas de Maizière I.
1 Richard von Weizsäcker im Fernseh-Portrait »Richard von Weizsäcker – Für immer Präsident«, NDR 2010, online unter: https://www.youtube.com/watch?v=hjvMu81V1Eg (Zugriff am 6. September 2021).

Richard von Weiz-

und Sabine Bergmann-Pohl (Präsidentin der Volkskammer) vor dem Beginn des Festakts der DDRRegierung zum bevorstehenden Tag der Deutschen Einheit, 2. Oktober 1990.

dauerhaft prägende Weise, den Standort der Bundesrepublik in der Geschichte zu beschreiben. In Weizsäckers zweite Amtszeit als Bundespräsident fielen 1989/90 die Friedliche Revolution, der Mauerfall und die Deutsche Einheit. Das geschlossene Brandenburger Tor, für ihn ein Zeichen der offenen deutschen Frage, öffnete sich.

Am 3. Oktober 1990 um Mitternacht stand er neben Willy Brandt, Helmut Kohl und Lothar de Maizière auf der Treppe des Reichstagsgebäudes vor einer Million vereinten Menschen.

Am 31. Januar 2015 verstarb Richard von Weizsäcker im Alter von 94 Jahren.

II.

Ich möchte sechs Aspekte seiner Biografie, seiner Person und seiner Politik etwas näher beleuchten. Und ich möchte damit zeigen, auf welche Weise Weizsäcker die deutsche Politik und Gesellschaft aus meiner Sicht geprägt hat – seinerzeit und darüber hinaus.

Erstens: Weizsäcker war einer von wenigen, die erfolgreich den Weg von der Wirtschaft in die Politik gingen. In seinem besonderen Fall führte ihn der Weg dazu noch über die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Die Welt der Wirtschaft interessierte ihn, auch weil es bis dato in seiner Familie noch keine Un-

Richard von Weizsäcker und sein Beitrag zur deutschen Politik 19
säcker

ternehmer oder Manager gab. Der ältere Bruder Carl Friedrich war Physiker und Philosoph. Und auch sonst betätigte sich in der Juristen- und Theologenfamilie der Weizsäckers noch keiner in der Privatwirtschaft. Richard von Weizsäcker sagte einmal ziemlich kokettierend: »Ich bin der Einzige in der Familie, der kein Professor geworden ist.«

Schon während des Studiums der Rechtswissenschaften fand er eine Anstellung bei Mannesmann. Nach dem Studium machte er Karriere und stieg zum Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung auf. Später wechselte er in die Geschäftsführung des Chemieunternehmens Boehringer Ingelheim. Dass Weizsäcker von der privaten Wirtschaft in die Politik ging, war damals ungewöhnlich. Denn viele Berufspolitiker kamen aus den bewährten Unions- oder Zentrumsnetzwerken, waren in der Partei groß geworden. Doch das war Weizsäcker eher fremd.

Zur CDU führte ihn vielmehr der sozialpolitische Arbeitskreis des Bundesverbandes der Industrie in Köln. Die ersten anderthalb Jahrzehnte seiner Mitgliedschaft nahm er an keiner Parteiversammlung teil. 20 Jahre lang war er dafür in verschiedenen Bereichen der Wirtschaft tätig. Richard von Weizsäcker wies einmal darauf hin, dass seine »Neigung zur Politik«2 nicht von der Wirtschaft und auch nicht von der Parteiarbeit herkam. Vielmehr hat ihn die Evangelische Kirche darauf gebracht.

Warum ist ein solcher Weg heute so selten: Liegt es an der mangelnden Bereitschaft aufseiten der Wirtschaft? Oder liegt es an der mangelnden Akzeptanz in der Politik?

Zu einem zweiten Aspekt: Richard von Weizsäcker baute Brücken zwischen Kirche und Politik. Bereits neben seinen Tätigkeiten in der Wirtschaft arbeitete Weizsäcker aktiv in der Leitung des Evangelischen Kirchentags mit. Zunächst plagten ihn große Zweifel, ob er das Amt des Kirchentagspräsidenten überhaupt annehmen sollte, worum Reinold von Thadden-Trieglaff ihn gebeten hatte. Später aber bezeichnete er seine Entscheidung als eine »entscheidende Wende« in seinem Leben: »Mich für den Kirchentag zu engagieren, packte mich mehr, als immer tiefer in die private Wirtschaft einzutauchen. Ich war vierundvierzig Jahre alt, und wenn es einen wirklich richtungsweisenden Entschluss zu fassen gab, dann war dafür jetzt die Zeit gekommen.«3

Kirche und Welt einander näherzubringen, sie nicht als Gegensätze zu perpetuieren, das war für Richard von Weizsäcker eine Lebensaufgabe. Auch hier wünschte ich mir heutzutage mehr gute Beispiele.

2 Ebd.

3 Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 164 f.

20 Thomas de Maizière

Beim Kirchentag war ihm besonders wichtig, die Beziehungen zu den Kirchentagsbewegungen in der DDR nie abbrechen zu lassen. Politisches und christliches Engagement prägten Weizsäcker sicherlich auf ganz unterschiedliche Weise. Sein Glaube blieb dabei jedoch stets wie er selbst: klar, eindeutig und frei von aufgetragener Frömmigkeit.

Umso leidenschaftlicher machte er sich daran, Brücken zu bauen – gerade zur Politik und auch zu seiner Partei, der CDU. Die katholische Kirche war schon längst mit dem rheinischen Machtzentrum der CDU verbunden. Richard von Weizsäcker vermochte es, ebenso wie Kai-Uwe von Hassel, die CDU auch mit der Evangelischen Kirche zu versöhnen. Als Kirchentagspräsident verteidigte er die Politik gegenüber seinen kritischen Glaubensbrüdern und -schwestern. Als Politiker war ihm später umgekehrt daran gelegen, die Politik immer wieder für die – mitunter auch unbequemen – Anliegen der Kirchen zu sensibilisieren.

Mein dritter Punkt: Richard von Weizsäcker beeinflusste mit seiner Ost- und Deutschlandpolitik die Union früher und nachhaltiger als alle seine Gegner, die meistens in der Mehrheit waren. An der berühmten EKD-Ostdenkschrift hat Weizsäcker als Co-Autor 1965 selbst mitgeschrieben. Darin war jene Deutschland- und Ostpolitik formuliert, die vier Jahre später von Willy Brandt und Walter Scheel verwirklicht werden sollte: Wandel durch Annäherung.

Dass Weizsäcker mit seiner Position auch auf heftigen Widerstand in der Unionsfraktion traf, nahm er aus Überzeugung in Kauf. Als er in einer Fraktionssitzung 1972 ankündigte, für den Polen-Vertrag zu stimmen, trafen ihn derbe Beschimpfungen und »ziemlich harte« Papierkugeln. Schließlich enthielt er sich, um die Geschlossenheit der Fraktion zu wahren. Die Zweifel, die er bei der Enthaltung spürte, nagten noch lange Zeit an ihm.

Weizsäcker legte sein Amt als Regierender Bürgermeister repräsentativ-außenpolitisch aus. Ihm war bewusst, dass Berlin so etwas wie ein »Resonanzboden« für das Mächteverhältnis zwischen West und Ost darstellte. Und er erzielte Resonanz, und was für eine! Er empfing Ronald Reagan im Jahr 1982. Und im Jahr darauf besuchte er als erster Regierender Bürgermeister Erich Honecker in Ost-Berlin. Als Bundespräsident setzte er das beim Staatsbesuch in Moskau 1987 fort. Immer wieder wies er darauf hin, dass »[d]ie deutsche Frage […] so lange offen [ist], als das Brandenburger Tor zu ist.«4

Viertens möchte ich einen Blick auf die Parteipolitik in Berlin werfen. Richard von Weizsäcker hat – mit anderen –, so meine These, die West-Berliner CDU zu einer modernen Großstadtpartei gemacht. Helmut Kohl trug ihm die Aufgabe an,

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Politik 21
von
und sein Beitrag zur deutschen
4 Ders.: Von Deutschland aus, Berlin (West) 1985, S. 54.

die entkräftete Berliner CDU 1979 in den Wahlkampf zu führen. Politisch war der Wechsel in die geteilte Stadt natürlich auch mit Risiken verbunden. Die lange Zeit in der Opposition hatte ihr zugesetzt. Eine gewisse Skepsis schlug Weizsäcker seitens einiger Berliner Christdemokraten entgegen. Der Ostpolitik von Willy Brandt misstrauten sie. Weizsäcker war ihnen zu liberal. Manche aus der CDU drohten, sich abzuspalten und eine neue Partei zu gründen.

Die Neuwahlen in Berlin 1981 sorgten für eine Wiederaufnahme des Wahlkampfes, den Weizsäcker als eine »Befreiung von der Theorie«5 empfand. Für die Berliner CDU kann man hinzufügen: Der Erfolg sorgte auch für eine Befreiung von alten Verkrustungen. Der etablierten Berliner CDU hat Weizsäcker dann schon mit der Senatsbesetzung allerhand zugemutet. Eberhard Diepgen wird sich erinnern, wie schwierig es war, Weizsäckers bunte Truppe zusammenzuhalten: die eine Hälfte aus Westdeutschland »importiert«, und in der anderen aus der Berliner CDU kamen auch nicht nur bekannte Persönlichkeiten zum Zuge.

Eine Zumutung war es anfangs auch, dass Weizsäcker die Ansprüche einer vielfältigeren Gesellschaft in Berlin wahrgenommen hat. Sicherlich war er kein Kulturrevolutionär, der die Berliner CDU grundsätzlich infrage stellte. Aber er war vielen zu weich mit Blick auf die Hausbesetzerszene. Und auch hier schauen wir auf heute: Ohne Großstadtpartei, Metropolenpartei sein zu wollen, wird die CDU in Berlin sich schwertun.

Mein fünfter Punkt: Richard von Weizsäcker gelang es, eine Verbindung von moralischen Werten einerseits und nüchterner, harter Sicherheitspolitik andererseits herzustellen. An Weizsäckers Erinnerungen an den Kirchentag in Wittenberg im Jahr 1983 wird das besonders deutlich. Er beschreibt die »überwältigende Atmosphäre der Wärme und Zusammengehörigkeit der Menschen aus der DDR mit den Gästen aus dem Westen.«6 Und ja: Nie wieder Krieg von deutschem Boden aus – das war bei den Kirchentagsteilnehmern natürlich unstrittig. Friedrich Schorlemmer schmiedete sogar ein Schwert zu einer Pflugschar. Richard von Weizsäcker erinnerte aber auch daran, dass er unbequeme Wahrheiten aussprechen musste. Er hielt den NATO-Doppelbeschluss angesichts der sowjetischen Mittelstreckenraketen für unausweichlich, gerade weil »Frieden nicht Unterwerfung bedeuten durfte.«7

Von scheinbar gegensätzlichen Zielen war auch die Deutschlandpolitik jener Zeit gekennzeichnet: eine Balance zwischen »Sicherheit und Entspannung, zwi-

5 Ders.: Vier Zeiten, S. 261.

6 Ebd., S. 272.

7 Ebd

22 Thomas de Maizière

Richard von Weizsäcker auf dem 21. Evangelischen Kirchentag, 31. Mai 1983.

schen Konfrontation in den Prinzipien und Kooperation in der Praxis, zwischen konkreten Schritten zugunsten der Deutschen in der DDR, die ohne Mitwirkung ihrer Machthaber nicht zu haben waren, und dem späteren Ziel der Einheit, auch wenn niemand wußte, wann und wie und ob es überhaupt erreichbar sein würde.«8

Richard von Weizsäckers kluge Beiträge zur Ambivalenz zwischen Moral und Politik, zwischen Werten und Interessen in der Außen- und Sicherheitspolitik, auch davon würde ich mir mehr in unseren – sehr deutschen – Debatten wünschen.

Seine Expertise in der Außen- und Sicherheitspolitik konnte er im Bergedorfer Gesprächskreis einbringen. Daran nahmen und nehmen hochrangige Politiker und Experten aus aller Welt teil – und diskutieren in vertraulicher Runde die Grundfragen der deutschen und europäischen Politik. Bereits 1973 nahm er zum ersten Mal an einem Bergedorfer Gesprächskreis teil, 1994 wurde er dessen Vorsitzender. Weizsäcker lobte den Bergedorfer Gesprächskreis als »ein Trainingslager für alle, die bereit sind, die Grenzen der eigenen Disziplin, der jeweiligen Parteien und Interessen zu überschreiten, um in der Konfrontation mit der Vielfalt von Erfahrungen und Perspektiven anderer zu lernen.«9

8 Ebd., S. 268.

9 Zit. nach: »Reden ist Handeln«, in: Neue Zürcher Zeitung vom 9. März 2010.

Richard
Weizsäcker
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von
und sein Beitrag zur deutschen Politik

Dass er sich an solchen Gesprächen beteiligte, lässt mich – sechstens – feststellen, dass Richard von Weizsäcker ein erfolgreicher Intellektueller in der Politik war. Auch wenn sich viele vielleicht gern so gesehen hätten, traf es nur auf wenige zu: Carlo Schmid, Peter Glotz und Kurt Biedenkopf könnte man hier nennen. Richard von Weizsäcker verfügte über die Gabe, aus dem Kleinen das Große entwickeln zu können. Und umgekehrt: Aus dem großen Weltgeschehen konnte er meisterhaft und scheinbar mühelos Konsequenzen und Bedeutungen für den Einzelnen ableiten.

Er konnte die Dinge auch deswegen so meisterhaft ins Verhältnis setzen, weil er ein umfassend und breit gebildeter Mensch war. Ich betone das, weil diese Art von umfassender Bildung – im besten Sinne humanistische Bildung – heute nicht mehr allzu oft anzutreffen ist. Er selbst hat einmal gesagt: »Humanistische Bildung ist nicht dazu da, unsere Probleme zu lösen, sondern sie sichtbar und verständlich zu machen.«10

Was mich neben seiner umfassenden Bildung stets beeindruckte, war Weizsäckers meisterhafter Umgang mit Sprache. Auch das zeichnete ihn als Intellektuellen aus. Sprache war für ihn kein Mittel zum Zweck. Im Gegenteil: Seine Sprache war für ihn Ausdruck seiner Haltung. Auch sie musste vor allem eines sein: verständlich, klar und eindeutig. Es bleibt unvergessen, wie er sich als Bundespräsident darüber erregen konnte, dass alle immer nur von »Versöhnung« mit dem polnischen Volk sprachen. Das sei ein falsches, ein anmaßendes Wort. Mehr als »Verständigung« dürften wir Deutschen nicht erwarten.

Seine immer wieder gelobte Wortgewalt entsprang auch seiner Fähigkeit, zuhören zu können. Weizsäcker trat seinen Gesprächspartnern mit einer ihm eigenen Mischung aus Offenheit und Empathie – mit ungeteilter Aufmerksamkeit – gegenüber.

Als Bundespräsident wagte Richard von Weizsäcker einen intellektuellen Durchbruch mit politischer Wirkung im Umgang mit der Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs und des Nationalsozialismus. In seiner Rede zum 40. Jahrestag nach Kriegsende kulminierten seine historische Bildung, sein politischer Verstand, sein Gefühl für Sprache und seine Fähigkeit zur Empathie sowie sein scharfsinniger Intellekt. Er sprach vieles aus, was viel zu lange ungesagt geblieben war. Originalton von Weizsäcker: »Wir haben die Kraft, der Wahrheit so gut wir können ins Auge zu sehen, ohne Beschönigung und Einseitigkeit.«11

10 Richard von Weizsäcker: Dankrede bei der Preisverleihung des Humanismuspreises am 17. April 1998, in: Forum Classicum 1998, H. 2, S. 68–71, das Zitat S. 68.

11 Ders.: Gedenkveranstaltung im Plenarsaal des Deutschen Bundestages zum 40. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa am 8. Mai 1985, online unter: https://www.bundespraesident.de/

24 Thomas de Maizière

Richard von Weizsäcker als Beispiel eines erfolgreichen Wechsels von der Wirtschaft in die Politik;

– die Versöhnung seiner Partei – ja, der Politik – mit der der Evangelischen Kirche;

seine vorausweisende Ost- und Deutschlandpolitik in Wort und Tat;

– die Modernisierung der West-Berliner CDU;

– seine Verbindung von Werten und Interessen, von Freiheit und Sicherheit, von Wünschbarem und Notwendigem;

– ein Intellektueller in der Politik, und doch so nah an den Menschen.

Mit diesen sechs Facetten aus Richard von Weizsäckers beruflicher wie politischer Laufbahn habe ich hier versucht, seine bleibenden Spuren aufzuzeigen.

Lassen Sie mich zum Abschluss noch auf Weizsäckers Selbstdisziplin hinweisen.

Noch im hohen Alter, mit über 80 Jahren, legte er das Sportabzeichen in seinem Lieblingssport, dem Schwimmen, ab. Ganz ähnlichen Ehrgeiz entwickelte er beim

SharedDocs/Reden/DE/Richard-von-Weizsaecker/Reden/1985/05/19850508_Rede.html (Zugriff am 27. Oktober 2021).

Richard von Weizsäcker und sein Beitrag zur deutschen Politik

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III.
Der Bundespräsident beim 100-MeterLauf, den er für das Deutsche Sportabzeichen absolviert, 16. Juli 1993.

Schachspiel. Seine Disziplin durchzog sein ganzes Leben. Helmut Schmidt nannte ihn einmal »einen preußischen Schwaben oder einen schwäbischen Preußen«.12 Sicherlich lässt sich auch ohne den Bezug auf Regionalklischees sagen, dass Richard von Weizsäcker geleitet war von unbedingter Pflichterfüllung – als Politiker, als Versöhner, als Protestant.

Auch wenn die Herrschaft über die Geschichte nicht in unserer Hand liegt, steht doch »jede Generation zu ihrer eigenen Zeit vor neuen Herausforderungen der Freiheit.«13 Aus der Ausübung von Freiheit entsteht Geschichte für die nächste Generation. Das hat Richard von Weizsäcker gelebt und erläutert. Mögen es ihm viele in unserer Zeit gleichtun.

12 Helmut Schmidt: Laudatio, in: Richard von Weizsäcker. Reden bei der Festveranstaltung aus Anlaß der Ernennung von Dr. Richard von Weizsäcker zum Ehrenbürger der Universität Stuttgart, 18. Dezember 1995. Hrsg. von Heide Ziegler (= Reden und Aufsätze, Bd. 52), Stuttgart 1996, S. 15–22, hier S. 15 f.

13 Weizsäcker: Vier Zeiten, S. 469.

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de Maizière
Thomas

Richard von Weizsäckers protestantische Prägungen

Ende März 2020 fiel nicht nur das wissenschaftliche Symposium zum 100. Geburtstag Richard von Weizsäckers der Covid-19-Pandemie zum Opfer. Wie alle kulturellen Einrichtungen musste in Berlin auch das Deutsche Historische Museum schließen und konnte seine große Ausstellung zu Wilhelm und Alexander von Humboldt nicht mehr zeigen. Dort hatten die Besucher im Ausstellungsteil über die jugendliche Bildung der aufstrebenden Brüder und die Offenheit der Berliner Salonmilieus lesen können, der Bildungsweg der Humboldts sei »ohne protestantische Moral« erfolgt, stattdessen sei er beherrscht gewesen von Geschichte und Geografie. Es gehört zum festen Repertoire der deutschen Kulturgeschichte, individuelle Bildungsgänge und soziale Bildungsmilieus immer auch auf ihre religiösen Imprägnierungen hin zu befragen. Wie es sich bei Richard von Weizsäcker verhielt, ist Gegenstand dieses Beitrags: Inwieweit können wir bei Richard von Weizsäcker von einer intellektuellen Prägung mit protestantischer Moral sprechen? Welche protestantische Ethik war es, die seine politische vita activa beeinflusst hat? Und wie beherrscht waren Denkstil und Lebensweg von »Geschichte«?

Religiöse Prägungen müssen auf jeden Fall stark und erkennbar gewesen sein, denn Bundeskanzler Helmut Schmidt konnte sich halb anerkennend mokieren über »das fromme Gerede des Freiherrn«1. Wissenschaftlich beglaubigt wird diese Taxierung durch den Soziologen Ralf Dahrendorf, der das geflügelte Wort von der »protestantischen Mafia« kreiert und ihr auch Weizsäcker zugerechnet hat. Gemünzt hat Dahrendorf den Topos auf eine Reformgruppe der frühen 1960er Jahre, primär auf Carl Friedrich und Richard von Weizsäcker, Ludwig Raiser, Klaus von

Richard von Weizsäckers protestantische Prägungen 27 GANGOLF HÜBINGER
1 Vgl. Gunter Hofmann: Richard von Weizsäcker. Ein deutsches Leben, München 2010, S. 8. Vgl. auch Hermann Rudolph: Richard von Weizsäcker. Eine Biographie, Berlin 2010.

Bismarck, Werner Heisenberg, Georg Picht, Hellmut Becker und Hartmut von Hentig. Den Kern bilden die Autoren des Tübinger »Memorandums der Acht« zu einer neuen Deutschland- und Ostpolitik von 1962. Es sind Köpfe, die Marion Gräfin Dönhoff seit diesem Memorandum als »Lobbyisten der Vernunft« in den liberalen Reformkurs ihrer Wochenzeitung Die Zeit einspannte. Unter der Fragestellung »Braucht Politik Intellektuelle?« zitierte Dahrendorf später noch einmal explizit die Zeit-Herausgeberin Dönhoff, um die »zugleich intellektuelle und politische Rolle« der genannten Vernunft-Lobbyisten zu beschreiben. Den Bedarf an Intellektuellen in der Politik machte Dahrendorf nicht nur an Theodor Heuss fest, sondern explizit auch an Richard von Weizsäcker.2 Dem Freiherrn selbst gefiel Dahrendorfs Bild von der »protestantischen Mafia«. Er nahm es in seine Memoiren auf, wandelte es aber leicht zur »evangelischen Mafia« ab3 und identifizierte die Gruppe zusammen mit Marion Dönhoff politisch als »mein Nest, aus dem ich geschlüpft bin«4.

Im Folgenden soll die »intellektuelle und politische Rolle« des protestantischen Mafioso unter fünf Aspekten erörtert werden. Auszugehen ist von den Prägungen im familiären Milieu; zu klären ist, welches intellektuelle Milieu sich hinter der »protestantischen Mafia« in Netzwerken, Medienpräsenz und politischer Gestaltungskraft verbirgt; jeweils für sich zu betrachten sind Weizsäckers Stationen als Kirchenpolitiker in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und als Berufspolitiker, für den weniger die Parteiräson als eine intellektuelle Politik des Wortes maßgeblich war; in der Summe stellt sich die Frage, inwieweit Weizsäckers permanente Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte und die Geschichtsbilder seiner politischen Reden eine religiöse Färbung erkennen lassen.

Die Familie und der Protestantismus

In Reden, Interviews und natürlich in seinen Erinnerungen ist Richard von Weizsäcker immer wieder auf die Prägekräfte seiner Herkunft zu sprechen gekommen. An erster Stelle nannte er regelmäßig seine Familie, Eltern und Geschwister, die geistig rege und politisch sensible Atmosphäre seiner Schulzeit und anschließend die elitär abgeschottete Kameradschaft des Potsdamer Infanterie-Regiments 9, in

2 Ralf Dahrendorf: Umbrüche und normale Zeiten: Braucht Politik Intellektuelle?, in: Gangolf Hübinger/Thomas Hertfelder (Hrsg.): Kritik und Mandat. Intellektuelle in der deutschen Politik, Stuttgart 2000, S. 269–282, hier S. 279. – Zum Topos »protestantische Mafia« ausführlicher Ralf Dahrendorf: Liberal und unabhängig. Gerd Bucerius und seine Zeit, München 2000, S. 162 f.

3 Vgl. Richard von Weizsäcker: Vier Zeiten. Erinnerungen, Berlin 1997, S. 180.

4 Zit. nach Hofmann: Weizsäcker, S. 180.

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Gangolf Hübinger

dem aus den zwei Dienstjahren sechs Kriegsjahre mit wachsender Verantwortung für den bei Kriegsende 25-jährigen Wehrmachtsoffizier wurden. In Konfrontation mit den barbarischen Kriegserfahrungen habe ihn der Freundeskreis der »IR 9er« zum »Kern der menschlichen Existenz« geführt.5

Protestantische Einflüsse sind kaum notiert, einer besonderen innerprotestantischen Bekenntnisrichtung fühlte er sich nicht zugehörig. Auf dem Kölner Kirchentag von 1965, auf dem Weizsäcker als Kirchentagspräsident die Schlussansprache zum Thema »In der Freiheit bestehen« hielt, ging er darauf ein: »Viele von uns – mich eingeschlossen – sind herangewachsen, ohne zu merken, ob sie Lutheraner, Reformierte oder Unierte sind.«6 Sich in den innerprotestantischen Strömungen und Kulturgegensätzen nicht zu einer kirchlich bindenden Glaubensrichtung zu bekennen, macht nun seit Friedrich Schleiermacher eine spezifische und attraktive Auffassung von Protestantismus aus. Seit Ende des 19. Jahrhunderts sprach diese kulturliberal orientierte Richtung von »freiem Protestantismus« oder

5 Interview mit Harald von Troschke nach seinem 50. Geburtstag im Norddeutschen Rundfunk, in: Harald von Troschke Archiv, online unter: https://troschke-archiv.de/interviews/richard-von-weizsaecker (Zugriff am 9. September 2021).

6 Richard von Weizsäcker: In der Freiheit bestehen (1. August 1965), in: ders.: Die deutsche Geschichte geht weiter, Berlin (West) 1983, S. 43–50, hier S. 45; vgl. auch Hofmann: Weizsäcker, S. 121.

Richard von Weizsäckers protestantische Prägungen 29
Richard von Weizsäcker auf der Abschlusskundgebung des 12. Deutschen Evangelischen Kirchentags in Köln, 1. August 1965.

von »freiem Christentum«. Die orthodoxen Gegner münzten darauf pejorativ die Kennzeichnung »Kulturprotestantismus«, um eine vermeintliche Auslieferung von Glaubensinhalten an Werte der modernen Kultur zu brandmarken. Mittlerweile ist »Kulturprotestantismus« begrifflich neutralisiert zu einem Forschungsfeld der Religionsgeschichte geworden.7 Die Merkmale eines kulturprotestantischen Habitus lassen sich in wenigen Stichworten umreißen: Weltfrömmigkeit, Geschichtsbewusstsein, Gewissensstärke, Arbeitsethos, Bildungsemphase bis zur Wissenschaftsgläubigkeit, ein Primat der autonomen Persönlichkeit vor der Gemeinschaftsmoral. Oft, wie bei dem führenden kulturprotestantischen Theologen, Kulturphilosophen und politischen Publizisten Ernst Troeltsch, kommt eine Affinität zu Liberalismus und Demokratie hinzu, weil die moderne Welt als eine vielstimmige Welt von Gegensätzen erfahren und legitimiert wird.8 Das zentrale Element, so hat es Reinhart Koselleck sogar anthropologisch zu grundieren versucht, ist die protestantische Imprägnierung von Bildungsgütern und Bildungswissen. Koselleck zufolge zeichnet sich die im bürgerlichen Wertekanon hochgeschätzte »neuzeitliche Bildung« unter anderem »dadurch aus, dass sie religiöse Vorgaben umgießt in Herausforderungen persönlicher Lebensführung [und] dass sie, die Autonomie der Individualität generierend, offen und anschlussfähig ist in alle konkreten Lebenslagen hinein […].«9 Auf die Selbstverpflichtung zur vita activa in der Gestaltung der modernen Lebenswelt, auf die »unentrinnbare Verantwortung vor der Geschichte«10, wie es Max Weber klassisch kulturprotestantisch nennt, und auf eine gebildete Selbstkritik der eigenen Urteilskraft kommt es an.

Führt man sich diese Merkmale vor Augen, dann ist Weizsäckers Habitus zweifellos kultur- oder bildungsprotestantisch geprägt,11 zumal als Kernregion des Kulturprotestantismus der südwestdeutsche Raum gilt.12 Hier gibt es einen direkten Familienbezug. Der evangelische Theologe Carl Heinrich Weizsäcker (1822–1899), der Urgroßvater, war eine prominente Figur des Tübinger Kulturprotestantismus.

7 Vgl. Hans M. Müller (Hrsg.): Kulturprotestantismus. Beiträge zu einer Gestalt des modernen Christentums, Gütersloh 1992; Friedrich Wilhelm Graf: Kulturprotestantismus. Zur Begriffsgeschichte einer theologiepolitischen Chiffre, in: Archiv für Begriffsgeschichte 28/1984, S. 214–286.

8 Vgl. ausführlicher Gangolf Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, Tübingen 1994.

9 Reinhart Koselleck: Einleitung – Zur anthropologischen und semantischen Struktur der Bildung, in: ders. (Hrsg.): Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil II: Bildungsgüter und Bildungswissen, Stuttgart 1990, S. 11–46, hier S. 34.

10 Max Weber: Deutschland unter den europäischen Weltmächten, in: Max Weber-Gesamtausgabe (MWG), Bd. I/15: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918. Hrsg. von Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger, Tübingen 1984, S. 153–194, hier S. 194.

11 Vgl. auch Hofmann: Weizsäcker, S. 120.

12 Vgl. Hübinger: Kulturprotestantismus und Politik, S. 95–113, 190–196.

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