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I. PROBLEMAUFRISS: DAS VIELDISKUTIERTE EUROPA

Kaum jemand, dem Europa mehr bedeutet als eine wirtschaftliche Interessengemeinschaft oder ein abstraktes Rechtsgebilde, wird den Rang in Frage stellen wollen, der historisch-kulturellen Erinnerungswerten angesichts aktueller Diskussionen über die gegenwärtige Gesamtverfassung unseres Kontinents zukommt. Nicht die Ökonomie mit ihren Marktinteressen – wie sich unlängst erneut erwiesen hat –, auch nicht die Jurisdiktion mit ihren Normsetzungen – wie man leider schon seit langem weiß – vermittelt einen verlässlichen Orientierungsrahmen zur Verortung gemeinsamer europäischer Erfahrungswelten und Bewusstseinshorizonte. Wer nach solcher Orientierung sucht, wem zudem daran gelegen ist, Möglichkeiten und Grenzen einer gesamteuropäischen Solidaritätsgesinnung auszuloten, der tut gut daran, sich auf die historischen Kognitionsgrößen »Bewahrung«, »Erinnerung« und »Gedächtnis« zu besinnen. Denn Europa ist nicht nur eine konkret erfahrene Alltagswirklichkeit, sondern darüber hinaus ein geschichtlich gewachsener Traditionsraum, dessen überlieferte Zeugnisse für jeden europäischen Bürger –und für jeden anderen, der in diesen Raum eintritt –jederzeit erlebbar sind.

Das gilt, einmal mehr, mit Blick auf das aktuelle Erscheinungsbild der Europäischen Union. In ihr ein bloßes Institutionengefüge zur Verwaltung des Euro, zur Regulierung der Finanzmärkte oder zur Verfolgung von Steuersündern zu erblicken, verkennt die ihr innewohnenden Entwicklungspotenziale. Die Europäische Union repräsentiert vielmehr ein Gesellschaftsmodell und eine Werteordnung, die weit über die Rolle einer zwischenstaatlichen Agentur zur Abwicklung infrastruktureller oder drängender sicherheitspolitischer Probleme des Kontinents hinausweist. Daher ist das Fehlen entsprechend konnotierter Botschaften immer wieder von jenen prominent angemahnt worden, die der mangelnden Identifikation vieler EU-Bürger mit den Gremien und Instanzen »ihrer« EU durch Maßnahmen zu deren symbolischer Verdichtung und zur Aktivierung emotionaler europäischer Bindekräfte abzuhelfen bemüht sind.1

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Eine Besinnung auf Europa, die aktuelle Defizite der Europäischen Union nicht ausspart, auf separatistische Entsolidarisierungstrends verweist und Tendenzen einer zunehmenden Ost-West-Dichotomie kritisiert, darf – dies sei vorweggeschickt – keineswegs als EUfeindliche Philippika missverstanden werden. Kritik schützt bekanntlich vor Stagnation und ebnet Wege zu deren Überwindung. In diesem Rahmen fragt dieses Essay danach, welchen Beitrag eine europäische Geschichtsschreibung, die den historischen Entwicklungsgang des gesamten Kontinents umfasst, zur nicht eben leichten Selbstverortung der Europäer und des Europäischen leisten kann. Vor dem mittlerweile schon wieder verblassten Hintergrund des Weltenumbruchs von 1989/90, den jüngsten Verwerfungen angesichts der »Corona«-Pandemie, und erst recht seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine im Februar 2022, gewinnt diese Frage eine neue, herausfordernde Aktualität: Was ist, und worin gründet die so oft vollmundig beschworene gemeinsame Geschichte der Europäer? Auf welche Weise vermögen historisch verortete Leitgrößen zur Formierung einer europäischen Identität beizutragen? Gibt es überhaupt einen überwölbenden Traditionsbogen, der die vielen disparaten Mythen und kollektiven Erinnerungsgemeinschaften der europäischen Völker und Nationen miteinander verklammert und zu einer Einheit zusammenbindet?

Die Beantwortung solcher Fragen ist bei genauerem Zusehen durchaus nicht so einfach, wie man auf den ersten Blick vielleicht vermuten mag. Eine dezidiert »europäische« Geschichtsschreibung – also doch wohl eine solche, die sich jenseits der geläufigen nationalstaatlichen Referenzmuster bewegt – ist bisher erstaunlicherweise schwach entwickelt. Sie wurde weder in ihren theoretischen Prämissen ausreichend durchdacht noch in ihren methodologischen Möglichkeiten zufriedenstellend ausgelotet.2 Auch in den Darlegungen des nachfolgenden Essays kann dies selbstverständlich nicht erschöpfend geboten werden. Hier sollen lediglich weitere Bausteine zur besseren Einsicht in gesamt- europäische Erinnerungszusammenhänge und binneneuropäische Sonderentwicklungen präsentiert und diskutiert werden, um das Phänomen »Europäische Geschichte« als Problem zu erfassen, einige damit verbundene Leitkoordinaten zu vermessen und die dabei für relevant gehaltenen Eckpunkte miteinander in Beziehung zu setzen.

Ein erster Teil (Kapitel II) gilt daher den Komponenten der politischen Raumordnung in der Geschichte Europas. Der Blick konzentriert sich dabei auf die Frage nach den kulturell ausgewiesenen und historisch gewachsenen Binnengrenzen des Kontinents. Und er richtet sich darüber hinaus auf die daraus abzuleitenden aktuellen politischen Konsequenzen. Der europäische Geschichtsraum gliedert sich seit mehr als einem Jahrtausend in die drei Großregionen des Ostens, der Mitte und des Westens. Diese simpel wirkende historische Dreiteilung der kontinentalen Geschichtslandschaft hat als kulturräumliche Konstante von beträchtlicher Dauer die unterschiedlichen Daseinswelten der Europäer bis heute nachhaltig geprägt. Nur wer um solche Konstanten weiß und sich die daraus folgende Vielfalt europäischer Mentalitäten vor Augen führt, vermag Europa in seiner ganzen Entwicklungsdynamik zu erfassen – Identität in der Differenz.

Ein zweiter Teil (Kapitel III und IV) widmet sich den maßgeblichen Inhalten und Schwerpunkten europäischer Geschichte – allen voran dem Ideal der Einheit, dem Prinzip der Nation und dem Problem der Freiheit.

Damit treten jene charakteristischen Themen, Kräfte und Leitmotive in den Blick, die den Werdegang des Kontinents in der Vergangenheit bestimmten, und die seinen Lebensrhythmus weiterhin entscheidend mitformen. Es gehört zu den wesentlichen Aufgaben einer integralen europäischen Geschichtsschreibung, diese Kräfte in all ihrer Erscheinungsvielfalt angemessen zu rekonstruieren – und sie dabei zugleich als eine für die Nationen und Regionen des Kontinents verbindliche Verständigungsgrundlage zu identifizieren. Nur dann vermag eine derart integrale Geschichtsschreibung als eine spezifisch europäische Geschichtsschreibung im politisch-kulturellen Diskurs der Gegenwart Gehör und Resonanz zu finden – Identität durch Differenz.

Im dritten Teil (Kapitel V und VI) verlagert sich die Perspektive von einer weithin historisch-bilanzierenden zu einer eher gegenwartskritisch-diagnostizierenden Argumentation. Sie bündelt die bis dahin erörterten Problemstellungen europäischer Geschichtsschreibung, die räumlich und thematisch nicht selten in voneinander entfernte Richtungen weisen. Dabei liegt der Fokus auf der Frage nach der Existenzmöglichkeit einer vieldiskutierten »europäischen Identität« – orientiert an den Leitgrößen »Christentum«, »Aufklärung«, »Bürgergesellschaft« und »Erinnerungsgemeinschaft«. Dies erfolgt, nicht zuletzt, im Blick auf jene immer wieder eingeforderte Harmonisierung zweier zusehends auseinanderdriftender europäischer Projekte: eines oftmals als abstrakt empfundenen »EU-Europa« einerseits und eines immer konkreter erlebten »Bürger-Europa« anderseits. Die Antworten auf diese Frage sind vielschichtig. Sie verweisen allesamt auf die Existenz eines mehrfach gebrochenen und alles andere als einheitlichen europäischen Gedächtnisraumes. Aktuelle Diskussionen über die stets erneut zu Tage tretenden Gegensätze zwischen »westlichen« und »östlichen« Erinnerungswelten speisen sich aus fundamental voneinander abweichenden historischen Erfahrungen. Jeder Versuch zur Positionsbestimmung einer integralen Europäischen Geschichte, wie er auf diesen Seiten unternommen wird, muss solche Gegensätze angemessen berücksichtigen.

Denn es gehört zu den zahlreichen Paradoxien Europas, dass sich die einheitsstiftenden Fundamente seiner Geschichte – und mithin die Grundlagen und Voraussetzungen für ein einheitliches europäisches Bewusstsein in der Gegenwart – als Summe ihrer Pluralität und Vielgestalt offenbaren – Identität trotz Differenz.

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