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II. RÄUME UND GRENZEN

Drei Binnenregionen

Die Geschichte Europas spielt sich nicht im Bodenlosen ab. Sie ist an Räume und Regionen gebunden. Diese jedoch besitzen Grenzen. Daher ist die Frage nach den räumlichen und regionalen Begrenzungen der europäischen Geschichte, unter Einschluss ihrer mannigfachen Gestaltwandlungen, der erste und grundsätzlichste Gesichtspunkt, den eine problemorientierte Europa-Historie zu bedenken hat. Sogleich werden dabei kontrovers diskutierte Themen aktueller europapolitischer Debatten berührt: Welche historisch gewachsenen und kulturell ausgewiesenen Binnengrenzen gibt es innerhalb des europäischen Geschichtsraumes? Welche Landschaften gehören überhaupt zu Europa? Und: Welche Geschichtsregionen folgen anderen, europafernen Entwicklungsverläufen und stehen daher außerhalb der europäischen Grenzziehungen?

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Geographisch spielt sich die Geschichte Europas zwischen dem Atlantischen Ozean im Westen und den Gebirgszügen jenseits des Urals im Osten ab. Dort beginnt bekanntlich Asien. Erich Przywara (1889–1972), katholischer Theologe und Religionsphilosoph, veror-

GEGENSTREBIGE EINHEIT

Rom und Byzanz in Konkurrenz. Elfenbeintafel mit den Personifikationen Roms … tete Europa daher gelegentlich als »größte [westliche]

… und Konstantinopels, Ende 5./Anfang 6. Jahrhundert.

Halbinsel Asiens«.1 Noch pointierter hatte einst der mit Thomas Mann befreundete Journalist und Publizist Ferdinand Lion (1883–1968) den Kontinent als eine »in viele Halbinseln geteilte Halbinsel« bezeichnet.2 Doch mit solchen geographischen Definitionen 3 kann der Historiker kaum etwas anfangen.4 Die für ihn sinnvollste, zugleich älteste europäische Grenzziehung wird durch eine konfessionelle Trennlinie markiert – jene zwischen der Ostkirche und der Westkirche, zwischen den im Osten von Konstantinopel, im Westen von Rom christianisierten Herrschaftsräumen. Trotz der Konkurrenz zwischen der fränkischen und der byzantinischen Kaiseridee5, die seit der Krönung Karls des Großen (742–814) zum Kaiser durch Papst Leo III. (um 750–816) bestand, ging ihrer beider Glaubensauffassung zunächst noch weitgehend miteinander konform. Erst seit dem fortschreitenden 10. Jahrhundert wich die Entwicklungsrichtung zwischen dem Westen und dem Osten, zwischen lateinisch und griechisch bestimmten Lebenswelten zusehends voneinander ab.6

Es war vor allem das durch Otto I. (912–973) im Rückgriff auf die Kaiseridee Karls des Großen seit 962 erneuerte Frankenkaisertum, das Rom in Konflikt zu Byzanz brachte. Denn dort hielt man unverändert am Universalitätsanspruch des eigenen Imperiums fest. In Süditalien trafen die politischen Interessen beider Kaiserreiche unmittelbar aufeinander. Immerhin gehörte der Süden der italienischen Halbinsel bis 1071

II. Räume und Grenzen

zum Herrschaftsgebiet Ostroms. Gegensätze im Frömmigkeitsverständnis und in Fragen des Kirchenrechts, Kontroversen im theologischen Denken und in der liturgischen Praxis traten solchen Differenzen zur Seite.7

Sie gipfelten in der unterschiedlichen Zuordnung von Staat und Kirche. In Rom bildeten beide Bereiche, trotz mancherlei wechselseitiger Durchdringung, zusehends klarer voneinander getrennte Einheiten. Das kirchliche Leben beanspruchte und errang hier mehr und mehr einen eigenen, staatsfreien Raum. Anders hingegen in Byzanz. Dort besaß die Kirche keinen selbständigen Hoheitsbezirk. Sie war und blieb ein Teil des Staates.

Dessen Oberhaupt, der oströmische Kaiser, firmierte in der Nachfolge Konstantins des Großen (ca. 270–337) als Stellvertreter Christi. Ihm kam daher auch die Funktion des kirchlichen Oberherrn zu. Alle Imperatoren Ostroms sind sich dieser Stellung bewusst gewesen, haben ihre Rolle nach Kräften auszufüllen und ihre Kirche bis hinein in die innersten geistlichen Angelegenheiten souverän zu regieren versucht.8 Wie man weiß, sollten sich später, seit dem Ende des 15. Jahrhunderts, die Moskauer Großfürsten als vermeintlich legitime Repräsentanten eines »Dritten Roms« diesen »Cäsaro-Papismus« zu Eigen machen. Jedenfalls strebten mit alledem nach der Kirchenspaltung von 1054 das »abendländische« und das »morgenländische« Christentum, unbeschadet mehrfach unternommener Versuche zur Wiederannäherung, dauerhaft in unterschiedliche Richtungen. Angesichts der wachsenden und ganz unverkennbar lebensgefährlichen Bedrohung Konstantinopels durch die Seldschuken und später durch die Osmanen erwies sich das schwindende Verständnis der westlichen Christenheit für Ritus und Liturgie der Ostkirche mehr und mehr als fatal.

Die seit der Kirchenspaltung von 1054 entstandene früheste europäische Binnengrenze ist niemals nur eine bloß kirchlich-konfessionelle, sondern stets auch eine geistig-kulturelle und eine politisch-soziale Scheidelinie gewesen. Ihre Trennungspotenziale besaßen über die Jahrhunderte hinweg ein erhebliches Gewicht. Und sie wirken in mancherlei Hinsichten bis heute unverändert fort. »Das Abendland«, so resümierte einst ein berufener Kenner entsprechender Zusammenhänge, »hat Gestalt gewonnen, indem es sich gegenüber dem Griechentum in Kirche und Politik während des frühen Mittelalters abschloß«.9 Griechen, Bulgaren, Mazedonier, das Reich der Kiewer Rus10 und (nach langem Schwanken zwischen West und Ost) auch das der Serben wurden bekanntlich byzantinisch-orthodox christianisiert. Sie bildeten damit (und bilden seither) einen eigenen geschichtskulturellen Raum: Osteuropa, 11 mit speziellen Schriftformen (griechisch, kyrillisch, rumänisch), einer besonderen Kirchenstruktur und einer davon weithin geprägten Lebenswelt. Denn anders als die lateinische Kirche des Westens, in deren Einzugsfeld es immer wieder »zu einer lebendigen Fortbildung der rationalen theologischen Gedankenarbeit« gekommen ist,12 befleißigte sich die Ostkirche einer auf mystisch-spekulative

Räume und Grenzen

Innerlichkeit des religiösen Lebens gerichteten Weltabgewandtheit, die in Meditation, Kontemplation und »Überschwang zum Jenseitigen«13 ihr Genügen fand. Auf soziale Aktivität und kulturelle Verwirklichung im Hier und Jetzt wurde darüber weitgehend verzichtet. »Abendländisch« geprägte Beobachter – wie etwa der Schriftsteller und Maler Richard Seewald (1889–1976) –haben in diesem Zusammenhang häufig auf die »geheimnisvolle Erstarrung« verwiesen, die sich vor allem in der Baukunst der Ostkirche »seit tausend Jahren« ungebrochen offenbare.14 Frei von Kontinuitätsbrüchen und Reformschüben, die jenen des westlichen Christentums zur Seite gestellt werden könnten, beharrte die Ostkirche auf ihren tradierten Formen und Ritualen. Und während die Westkirche sich im Rahmen ihres Missionsauftrags über die Jahrhunderte hinweg weltweit Gehör und Geltung zu verschaffen wusste, blieb die Strahlkraft der Orthodoxie im Wesentlichen ein territorial umgrenztes Phänomen des europäischen Ostens. Nicht ins Einzugsfeld byzantinisch-orthodoxer Kirchlichkeit gerieten die Kroaten und Slowenen, die Tschechen und Slowaken, die Ungarn und die Polen. Sie alle wurden im 10. Jahrhundert, in Konkurrenz zu Byzanz, römisch-katholisch christianisiert. Seitdem gehören sie zum Einzugsfeld lateinisch geprägter Kultur. Ihre Herrschaftsräume firmieren gemeinhin unter der Bezeichnung Mitteleuropa. 15 Beiden Regionen wiederum, dem byzantinisch-orthodoxen Osteuropa und dem römisch-lateinischen Mitteleuropa, tritt ein dritter euro- päischer Geschichtsraum zur Seite: Westeuropa als jener ebenfalls »römisch« dominierte, jedoch – im Vergleich zum Osten und zur Mitte – zeitlich bereits weitaus früher christianisierte »alte« Teil des Kontinents, allen voran die Welt des Mittelmeers mit Italien, der Iberischen Halbinsel und Frankreich. Auch weite Gebiete Britanniens sowie das von den Römern unter Kontrolle gebrachte Territorium Deutschlands zählten (und zählen weiterhin) zu diesem westeuropäischen Kulturraum. Hingegen lagen die nicht vom Römischen Imperium beherrschten Regionen östlich der Elbe-Saale-Grenze bis zum Beginn der um 1150 einsetzenden deutschen Ostsiedlung – mit ihren »strukturverbessernde[n] und strukturverfestigende[n] Impulsen[n]«16 –, ähnlich wie der Norden Europas, zunächst außerhalb des Einzugsfeldes des westlichen Christentums.

Diese historisch begründete Dreigliederung europäischer Lebenswelten in die Großregionen des »Osten«, der »Mitte« und des »Westen« hat sich seit weit über einem Jahrtausend als kulturräumliche Konstante der kontinentalen Geschichtslandschaft bewährt.17 Und sie ist für zahlreiche aktuell geführte europapolitische Diskussionen weiterhin relevant.

II. Räume und Grenzen

Das Reich und die Nationen

Westeuropa, jene Region mit den ältesten historisch nachweisbaren »europäischen« Traditionen, besaß die vergleichsweise größte innere Entwicklungsdynamik. Damit verband sich eine territorial sehr stark aufgefächerte Binnenstruktur. Das aus der Erbschaft des Karolingischen Imperiums nach dessen Gebietsteilung von 843 hervorgegangene Westfränkische Reich, das spätere Frankreich, fand seit der Königswahl Hugo Capets

(940/41–996) 987 im 13. und 14. Jahrhundert allmählich den Weg zur Errichtung einer »nationalen« Monarchie, wovon noch zu sprechen sein wird. Gleiches galt für das 1066 von den Normannen eroberte England. Dort regten sich, ebenfalls um die Mitte des 14. Jahrhunderts, und nicht zuletzt befördert durch die kriegerische Auseinandersetzung mit dem französischen Langzeitrivalen, unter König Edward III. aus dem Haus Anjou-Plantagenet (1312/27–1377) erste Ansätze englischer Identitätsbildung und eines »nationalen« Selbstbewusstseins.18

Beide Länder akzeptierten lange Zeit die geistliche Amtsgewalt des Papstes, in dessen kirchlicher Autorität sich die Einheit der europäischen Völker am sichtbarsten manifestierte – zumal die römische Kurie schon früh maßstabsetzende Impulse zur Ausgestaltung weiter Bereiche des öffentlichen Lebens in Europa lieferte, allen voran im Rechtswesen und in der Verwaltungspraxis. Erst an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert

DAS FRÜHNEUZEITLICHE EUROPA ALS JUNGFRÄULICHE KÖNIGIN

Europa prima pars terrae in forma virginis. Kartografische Darstellung aus dem Reisebuch »Itinerarium sacrae scripturae« von Heinrich Bünting (1545–1606), 1581.

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