M3ertgarths4yebeobachter 16 oktober 2015

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Beobachter.ch I 16. Oktober 2015 I Nr. 21 I FR. 4.80

Lesben, Schwule

So reagieren katholische Seelsorger

AbschleppDienst Miese Masche: Abzocken mit neuem Trick

BĂśses Essen

Immer mehr Leute meiden Gluten, Laktose und Co. – das macht oft nicht gesund, sondern krank Seite 18


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Editorial 3

Beobachter 21/2015

Ein Trend, der schaden kann

W

enn man sich in einer grösseren Runde zum Essen trifft, kommt spätestens mit Angeboten wie «Pizza mit Salami», «Frischkäse» oder «Erdbeerglace» der erste Einwurf: «Das kann ich leider nicht essen, darauf reagiere ich allergisch.» Mehr als jeder Dritte weiss laut einer Befragung des Zürcher Unispitals aus eigener Erfahrung, wie sich das anfühlt: Man bezahlt den Genuss mit Bauchkrämpfen, Sodbrennen, Kopfweh, Ausschlägen. Bei anderen sinkt der Blutdruck, Schwindelgefühle oder Herzrhythmusstörungen stellen sich ein. Ein Luxusproblem? Durch Ängste verursacht? Solche Reaktionen nehmen seit Jahrzehnten insbesondere in den Wohlstandsländern deutlich zu. Im Verdacht stehen Umweltfaktoren, aber auch Lifestyle-Glaubenssätze, die Gluten oder Laktose als grundsätzlich problematisch oder ungesund erscheinen lassen. Ist die Zunahme von Allergiesymptomen also ein Luxusproblem und oftmals erst durch Ängste verursacht? Ein körperliches Krankheitszeichen als Folge einer hyper­ sensibilisierten Psyche? So einfach ist die Sache nicht. Nicole Krättli und Susanne Loacker zeigen in unserer Titelgeschichte «Gutes Essen, schlechtes Essen» (ab Seite 18), dass Betroffene zuerst abklären sollten, ob sie eine Allergie haben oder ob sie an einer Lebensmittelunverträglichkeit leiden. Auch wenn

der Pseudoallergiker genauso leiden kann wie der Allergiker, sind die Ursachen doch sehr verschieden. Bei einer Allergie leitet das Immunsystem durch eine Überreaktion die unangenehmen bis schweren körperlichen Reaktionen ein. Bei einer Intoleranz hingegen mischt sich das Immunsystem nicht ein, sondern der Patient reagiert mit körperlichen Beschwerden direkt auf ein bestimmtes Lebensmittel.

«Man kann eine Unverträglichkeit geradezu ‹heranzüchten›, warnen Experten.» Andres Büchi, Chefredaktor

Sich bloss nicht verunsichern lassen Wenn die Diagnose Allergie lautet, sollte man die nachweisbaren Allergene meiden, weil auch ein geringer Reiz Beschwerden oder einen allergischen Schock auslösen kann. Bei einer Unverträglichkeit hingegen sind die Reaktionen dosisabhängig. Und zu grosse Vorsicht kann das Problem gar verschärfen. Wer seinem Körper ganz abgewöhnt, gewisse Nahrungsmittel zu verwerten, oder wer auf jedes denkbare Unwohlsein achtet, kann eine Unverträglichkeit geradezu «heranzüchten», warnen Experten. Wir sollten uns also nicht verunsichern lassen von der steigenden Zahl modischer und teurer Produkte, die mit «laktosefrei», «glutenfrei» oder «free from» werben. Wer keine diagnostizierbare Allergie oder Intoleranz hat, sollte auch auf psychischen Stress achten, statt die Schuld vorschnell beim Milchzucker im Joghurt zu suchen oder bei seiner Verdauung. Die ist meist durchaus zufrieden – mit einer ausgewogenen Ernährung und möglichst wenig Fertigprodukten.

News aus der Beobachter-Welt Beobachter Online

Aktuell auf Beobachter.ch

n Selfscanning im Laden ist umstritten. Reaktionen unserer Leser im Überblick: www. beobachter.ch/selfscanning n Allergien Lernen Sie in unserer Infografik diverse Pseudoallergien kennen: www.beobachter.ch/ intoleranz n Psychische Krankheiten Weiterhin ein Tabuthema: Politiker, Betroffene und Arbeitgeber nehmen dazu Stellung unter www.beobachter.ch/psyche

Der Beobachter auf Radio SRF 3 Mittwoch, 21. 10., 10.10 Uhr

Kein Geld trotz IV-Entscheid

Die Idee ist gut: Wenn jemand arbeitslos ist, erhält er auch dann Arbeitslosengeld, wenn eine IV-Abklärung läuft – doch nur so lange, bis der Vorentscheid der IV vorliegt. Zudem braucht die IV nach ihrem Vorentscheid noch Zeit, um die Rente zu berechnen. Das kann bei den Bezügern zu finanziellen Engpässen führen. Was Betroffene tun können, sagt BeobachterExperte Daniel Leiser.

Mittwoch, 28. 10., 10.10 Uhr

Ärger wegen Schikanebestellungen

Es gibt verschiedene Möglichkeiten, anderen Menschen das Leben schwer zu machen. Eine davon ist, im Namen der betreffenden Personen – mehr oder weniger – nutzlose Dinge zu bestellen. Nicht immer gelingt es den Betroffenen, die Angelegenheit bei den Lieferanten zu bereinigen. Beobachter-Experte Daniel Leiser erklärt, ob und wie man sich gegen solche Schikanebestellungen wehren kann.

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Inhalt 5

Beobachter 21/2015

Seite 30 Klangtüftler Seine Sounds kennen alle, doch keiner kennt ihn: Martin Bezzola

Seite 60 Meditatives Mauern Warum die Kurse zum Anlegen von Trockenmauern so beliebt sind

Seite 18 Titelthema Ernährung Gluten- und laktosefreie Produkte erleben einen Boom – Experten sind besorgt

7 Einbahnstrassen Velofahrer sollen vermehrt gegen die Fahrtrichtung fahren dürfen

32 Abschlepptrick Die Autohilfe 24 will kassieren, auch wenn sie gar nicht abschleppt

8 Baurecht Wenn das Amt andere Fenster will

36 Augenzeuge Als «guter» Hacker sorgt Patrick Brielmayer für Sicherheit im Internet

titelFoto: Luxwerk; fotos: Daniel winkler, Luxwerk, Samuel Trümpy, ajt/iStockphoto

10 Gesundheitskosten Bei religiösen Beschneidungen zahlt die Allgemeinheit mit 11 Einbrecher Wie Täter heute vorgehen 12 Baugenossenschaft Deliktsumme 20 Millionen Franken: Anklage gegen Verwaltungsräte 14 Standpunkt Touristen haben ein Recht, Risikogebiete zu bereisen 16 Gewerkschaft Unia Mitarbeiter beklagen sich 18 Titelthema Ernährung Bei vielen Allergikern lässt sich medizinisch nichts nachweisen 26 Flüchtlinge Viel Solidarität für eine Familie 30 Klangtüftler Komponist Martin Bezzola, der Mann für die Klänge im Hintergrund

38 Nachlese Gibt es in Zug bald einen Kirschtortenplatz?

Seite 54 Glaube und Liebe Eine Frau gesteht im Beichtstuhl, sie sei Lesbe – wie reagieren Seelsorger?

70 Psychische Erkrankungen Ein Psychiater widerlegt acht weit verbreitete Vorurteile

40 Reise zu den Wurzeln Wer war mein Grossvater? Auf der Suche nach dem Familiengeheimnis

74 Veterinär Darf der Arzt das Tier behalten, bis die Rechnung beglichen ist?

48 Der Fall Der Junge, der in einer Tiefgarage das Licht der Welt erblickte

76 Erziehung Wie trauert man mit Kindern?

54 Glaube und Liebe Wie hälts die katholische Kirche mit Homosexuellen? Ein Selbstversuch 60 Meditatives Mauern Die Suche nach dem passenden Stein: Trockenmauern im Calancatal 66 Rätsel 88 Leserforum 90 Schlusspunkt Ein Wort zum Ort: Würden Sie lieber in Lachen leben als in Mies?

78 Wohlbefinden Blinzeln und lockern: So werden Ihre Augen wieder frischer 81 Psychologie Wann ist jemand sexsüchtig? 82 Wohneigentum Eine Mietwohnung zu kaufen kann der Himmel sein – oder die Hölle 8 4 Kontakt Beratung und Impressum


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Beobachter 21/2015

Kreditkarte durch die Hintertür Das Halbtaxabo gab dedatum, das genau siees bisher auch zuben Tage zurückliegt, sammen mit einer wenn man ihn erhält. Gratis-Kreditkarte – Laien kommen deshalb das war bei Zehntauzum – falschen – senden von ÖV-NutSchluss, dass die Wizern sehr beliebt. In derrufsfrist bereits abKombination mit der gelaufen ist. Die Frist Visa-Kreditkarte war beginnt aber erst mit dem das Halbtax sogar günstiErhalt der Karte zu laufen. Beobachter  ger als ohne. Damit ist Dazu kommt ein weitetipp Schluss, seit die SBB per res Problem mit den alten Kreditkarte: August 2015 auf den Swisskombinierten Halbtax-ViFür viele ist eine Pass umgestellt haben. sa-Karten: Sie müssen Karte ohne JahresDie bisherigen Abonnicht nur bei der Kreditkargebühr, wie es sie nenten erhalten jetzt ungetenfirma (Bonuscard AG), zum Beispiel über fragt eine neue Visasondern zusätzlich auch Migros und Coop «Liberty Card» zugeschickt. bei den SBB gekündigt wergibt, die günstigere Diese hat aber mit den SBB den, weil sich sonst das Lösung. nichts mehr zu tun – und ist Halbtax automatisch verauch nicht mehr gratis. längert. Obwohl das Abo ja Zwar steht im Begleitbrief fett geeigentlich eine fixe Gültigkeitsdauer druckt, die Kreditkarte sei «ein Jahr hat. Besonders absurd: Laut dem lang kostenlos». Dass sie danach jedes Kleingedruckten der SBB muss man Jahr 60 Franken kostet, muss man sich das alte blaue Halbtax-Kärtli spätesjedoch aus einem Nebensatz zusamtens zwei Wochen vor Ablauf der menreimen. «Im Brief ist keine Rede Gültigkeit an einem SBB-Schalter abdavon, dass man auch einfach kündigeben – obwohl man damit ja noch gen kann», ärgert sich SBB-Kundin 14 Tage lang preisreduziert herumfahSarah Imboden  ­ * aus Meilen ZH. ren dürfte. Gegenüber dem «K-Tipp» «Stattdessen wird mir ungefragt ein sagt eine SBB-Sprecherin, dass die neuer Vertrag untergejubelt.» Kunden für die restliche Dauer eine Übergangskarte erhielten. «Warum Man muss die Karte zweifach kündigen einfach, wenns auch kompliziert Nur wer sich die Mühe macht, das geht?», das scheint das Motto der SBB Martin Müller Kleingedruckte aufmerksam zu stuzu sein. dieren, stösst auf das Widerrufsrecht Einen Musterbrief zur Kündigung der unge«innerhalb von sieben Tagen». Allerfragt zugestellten Kreditkarte finden Sie unter: www.beobachter.ch/halbtax-visa dings hat der Begleitbrief ein Absen-

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iN Zahlen

138 Schweizer Banken gaben in den letzten 20 Jahren ihre Lizenz zurück, wurden verkauft, fusionierten – oder gingen bankrott. Als Grund für ihr Verschwinden wer­ den auch die teuren Prozesse mit den USA genannt, wo mehrere Schweizer Banker wegen Beihil­ fe zur Steuerhinterzie­ hung vor dem Richter standen. Bei der Bank Wegelin & Co. wirkte allein eine Prozess­ androhung aus den USA, und das 1741 gegründete Geldhaus löste sich auf. Ende 2014 gab es noch 275 Schweizer Banken. Ende dieses Jahres dürften es ein Dutzend weniger sein. René Ammann Quellen: «Bilanz», Finma.ch, NZZ, Swissbanking.org

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Velofahrer

Ganz legal verkehrt durch die Einbahnstrasse Viele Velofahrer tun es schon heu­ te: Sie befahren Einbahnstrassen gegen die Fahrtrichtung, um di­ rekter von A nach B zu kommen. Ab nächs­tem Jahr können sie das vielerorts ganz legal praktizieren. Dann tritt eine Änderung der ­Signalisationsverordnung in Kraft. Die Behörden sind dann auf­ gefordert, das Befahren von Ein­ bahnstrassen im Gegenver­ kehr für Velos und Motor­ fahrräder zu erlauben, sofern dabei die Sicher­ heit nicht gefährdet ist. Mit dieser Massnahme soll der Langsamverkehr gefördert werden.

viele Einbahnstrassen freigegeben. «Wir haben in der Stadt St. Gallen knapp 60 Einbahnstrassen. 90 Pro­ zent können von den Radfahrern in der Gegenrichtung befahren werden», so Dionys Widmer, Spre­ cher der St. Galler Stadtpolizei. Ähnlich klingt es in Zürich. «Wir haben schon bisher Einbahn­ strassen für den Veloverkehr in Gegenrichtung geöffnet», sagt Heiko Ciceri, Spre­ cher der Dienstabtei­ lung Verkehr der Stadt Zürich.

«Nicht unsicherer» Erfreut über die Änderung zeigt sich Philippe Koch, Zusatztafel ist nötig Geschäftsleiter des Vereins «Aber Achtung», sagt Tho­ Umverkehr, der sich gestattet mas Rohrbach, Sprecher schweizweit für eine zu­ des Bundesamtes für Stras­ kunftsfähige Mobilität ein­ sen. «Das heisst nicht, dass nun setzt. «In den Städten hat sich die Velofahrer immer entgegengesetzt Regelung bereits bewährt. Der Ver­ durch Einbahnstras­ sen fahren kehr ist damit nicht unsicherer ge­ können. Die Erlaubnis muss nach worden. Für Velofahrer ist es wich­ wie vor mittels Zusatztafel unter tig, dass sie immer den direktesten dem Signal angezeigt werden.» Weg wählen können. Je mehr Die Änderung wird sich von ­Umwege sie fahren müssen, desto Gemeinde zu Gemeinde unter­ schwieriger ist es, Leute zum Um­ schiedlich stark auswirken. In steigen aufs Fahrrad zu bewegen.» Gian Signorell ­einigen Städten sind bereits heute

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VZ VermögensZentrum So hilft SOS Beobachter

Illustration: Anne seeger

Depot bezahlt dank Spenden Schon in der Hochzeitsnacht wurde die Ostschweizerin Samira Wipf * von ihrem Mann, einem kriminellen Schweizer, ver­prügelt. Nach einem halben Jahr und einem Knochenbruch flüchtete sie ins Frauenhaus, das für sie eine günstige Wohnung fand. Während andere Sozialhilfebehörden im Land rasch und unbürokratisch die Kaution bezahlen und eine Rück­ erstattung sichern würden, stellen sich St. Galler Beamte in solchen Fällen oft quer. Während sie vom Pult aus einmal mehr die langsamen Müh­ * Name geändert

len ihrer Bürokratie in Gang setzten, lief Samira Wipf die Zeit davon. Bevor der Ver­ mieter die Wohnung an einen anderen gab, überwies die Stiftung SOS Beobachter das geforderte Depot – zähneknirschend, weil das eigentlich Aufgabe der staat­ lichen Stellen wäre. Walter Noser Spendemöglichkeiten n Postkonto 80-70-2 n IBAN CH84 0900 0000 8000 0070 2 (Empfänger: Stiftung SOS Beobachter, 8021 Zürich) Infos über die Stiftung www.sosbeobachter.ch

Beobachter 2015

Antworttalon

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Beobachter 21/2015

courage

blamage

Der Tessiner CVP-Nationalrat Fabio Regazzi wird zur Galions­figur der Schweizer Steuersünder. Er beantragte, dass Schwarzgeldbesitzer bei Selbstanzeigen nicht nur straffrei bleiben, sondern Steuern auch nur fünf statt zehn Jahre rückwirkend nachzahlen müssen. Der Nationalrat stimmte dem Antrag letzte Woche zu. Kritiker stören sich am falschen Signal, dass sich strafbares Verhalten auch noch als lohnend erweist. Regazzi sieht im Anreizsystem hingegen eine Möglichkeit, das Geld in den Wirtschaftszyklus zurückzuholen und mehr Steuern abzuschöpfen.

Das Amt mäkelte an der Fassadengestaltung herum: geplantes Haus in Wattwil

Baurecht

Fenster-Posse in Wattwil Die Behörden wollen einem Bauherrn eine «harmonischere Fassade» vorschreiben. Doch das dürfen sie nicht. Kaum etwas ist so strikt reglementiert wie das Baurecht. Wer in der Bau­ bewilligungsbehörde einer Gemeinde sitzt, hat darum alles andere als einen kreativen Job: Er oder sie muss einzig prüfen, ob ein Baugesuch den gesetzli­ chen Vorgaben entspricht. Fast könnte man deshalb ein wenig Mitleid haben mit der Baukommission in Wattwil SG, wo das 59-seitige Bau­ reglement einem Lehrbuch für Mathe­ matik ähnelt. Die Baukommission hat­ te im Februar 2015 über ein Einfami­ lienhaus zu befinden, das Simon und Claudia Grob unweit des Bahnhofs bauen wollen. Das Gesuch entsprach in allen Punkten den Vorschriften der Bauzone, traf aber den Geschmack der Baukommission nicht: Grobs müssten eine «Vereinheitlichung der Fenster im Wohnzimmer» prüfen, ebenso die «Fassadengestaltung, insbesondere im Sockelbereich», hiess es im Bescheid. Das Amt wünscht grössere Fenster Simon Grob prüfte und reichte neue Pläne ein, doch auch diese fanden ­keine Gnade: «Aus Sicht der Baukom­ mission sind die kleinen Fenster im Hauptbau zu vergrössern und die Fenster im Wohnzimmer zusammen­ zufassen.» Eventuell sei «als Variante» der südliche Wohnhausbereich «ohne Fassadenverkleidung» zu erstellen, sonst werde keine Bewilligung erteilt. Da wurde es dem Bauherrn zu bunt:

Er verlangte eine rekursfähige Verfü­ gung – doch nicht einmal das wollte die Wattwiler Behörde tun. Erst nach­ dem Grobs mithilfe eines Anwalts das kantonale Baudepartement einschal­ teten, lenkte die lokale Behörde ein und bewilligte das Baugesuch endlich nach fünf Monaten. Trotzdem hielt sie in einem Brief an ihrer Meinung fest, eine «nach architektonischen Grund­ sätzen» gestaltete Fassade müsse ­harmonischer sein. Ein Beigeschmack von Willkür Das Problem: Für all ihre wenig kon­ kreten Auflagen konnte das Wattwiler Bauamt keine ausreichende Rechts­ grundlage angeben – weil es keine gibt. Chef der Wattwiler Baukommission ist Gemeindepräsident Alois Gunzen­ reiner (CVP). Er hält das Vorgehen im konkreten Fall für «absolut normal», die Baubehörde entscheide «nach objektiven Kriterien». Was er unter ­ «architektonischen Grundsätzen» ver­ steht, wollte er gegenüber dem Beob­ achter aber nicht präzisieren. Simon Grob ärgert sich: Die Bau­ arbeiten seien unnötig verzögert und verteuert worden, zudem habe das Vorgehen der Behörde einen Bei­ geschmack von Willkür und Erpres­ sung: «Sie wissen genau, dass sie kaum einen Entscheidungsspielraum haben, aber wollen trotzdem Macht demons­ Martin Müller trieren.»

Fotos: Manu friederich, parlament.ch, pd

Zwei Berner Polizisten misshandeln auf der Wache einen Mann, der in seine Zelle gepinkelt hat. Zugegen ist auch eine Polizeiaspirantin. Als sie vor Gericht befragt wird, hat sie die unbequeme Wahl: die Fehlbaren decken oder Nestbeschmutzerin werden. Sie belastet sie – und muss sich dafür anhören, sie falle ihren Kollegen in den Rücken. Dank der Aussage der Aspirantin werden die beiden Beamten erstinstanzlich wegen Amtsmissbrauch verurteilt und freigestellt. Der Name der aufrichtigen Polizistin ist leider nicht zu erfahren – wir gratulieren trotzdem zu so viel Rückgrat.


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Beobachter 21/2015

Beschneidung

Der Staat zahlt mit Wenn Eltern ihre Knaben beschneiden lassen, zahlt oft auch die Allgemeinheit. Grosse Kinderspitäler verrechnen für diese Wunschoperationen keine kostendeckenden Tarife.

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Text: Martin Müller

Beschneidung: Religiöse wünschen sie, alle Steuerzahler finanzieren sie mit.

Operation, etwa am Blinddarm, vor­ genommen wird und diverse Kosten, etwa für die Narkose, wegfallen. «Wir machen den Eltern klar, dass wir die Beschneidung der Vorhaut aus religiö­ sen oder rituellen Gründen nicht be­ fürworten», sagt Chefarzt Krebs. «Aber wenn wir sie nicht überzeugen kön­ nen, dann ist es unsere Aufgabe, zu­ mindest die Risiken zu minimieren.» «Strafbare Körperverletzung» Patientenschützerin Margrit Kessler hat Verständnis dafür, dass die Spitä­ ler keine kostendeckenden Tarife ver­ rechnen, weil die Knaben so vor «un­ professionellen Beschneidungen in ihrem Heimatland» bewahrt werden könnten. Das könne «katastrophale Folgen» haben, zum Beispiel eine Ver­ engung der noch verbleibenden Vor­ haut, die später nachoperiert werden muss, Vernarbungen oder Infektionen.

«Diese Schädigung kann nie und nimmer im Interesse des Kindes sein.» Christoph Geissbühler, Präsident des Vereins Pro Kinderrechte Schweiz

«Die Kosten für diese Nachbehand­ lungen müsste dann die Krankenkasse übernehmen», so Kessler. Alle angefragten Spitäler und Ärzte betonen, dass sie den überwiegend jüdischen und muslimischen Eltern von der Beschneidung abraten. Seit einem vielbeachteten Urteil eines deutschen Gerichts, das die Beschnei­ dung von Jungen als strafbare Körper­ verletzung qualifizierte, sind die Spi­ täler vorsichtig geworden (siehe Beob­ achter Nr. 16/2012). Man führe den Eingriff nur nach einer Abwägung des Einzelfalls – mit sorgfältiger Prüfung des Kindswohls – durch und nur wenn beide Eltern respektive alle Erzie­ hungsberechtigten zustimmten. Der Verein Pro Kinderrechte Schweiz sieht im Eingriff eine «schwe­ re Verletzung der sexuellen Integrität» der betroffenen Knaben. Vereinspräsi­ dent Christoph Geissbühler findet es «unhaltbar», dass Schweizer Ärzte «heute noch trotz besseren Wissens» einen solchen nicht notwendigen Ein­ griff sogar unter den effektiven Kosten durchführen. «Eine solche Schädigung kann nie und nimmer im Interesse des Kindes sein.»

Foto: Christian Werner/laif

as Berner Inselspital gibt zu, dass die von den Eltern zu be­ zahlende Pauschale von 1500 Franken zu tief ist: «Dieser Betrag liegt deutlich unter den Kosten, die uns in der Infrastruktur einer Universitäts­ klinik für eine tagesklinische Opera­ tion entstehen», heisst es in einer Mail von Steffen Berger, dem Chefarzt der Kinderchirurgie, an seine Kollegen. Die Differenz zu den tatsächlich ent­ stehenden Kosten betrage «einige hundert Franken», bestätigt das Insel­ spital auf Anfrage. Keine Angaben macht das grösste Berner Spital dazu, wer die ungedeck­ ten Kosten übernehmen muss. Es ist auf jeden Fall die Allgemeinheit – ent­ weder über die Krankenkassenprä­ mien oder über die Steuerrechnung, je nachdem, ob der Fehlbetrag über den ambulanten oder den stationären Spitalbereich abgebucht wird. Recherchen des Beobachters zei­ gen, dass das Inselspital nicht allein ist mit seiner fragwürdigen Praxis. Einzig das Kinderspital Zürich kennt nach eigenen Angaben keinen Pauschal­ ­ tarif, sondern rechnet je nach Alter und Aufwand nach Taxpunkten ab. Das Kinderspital beider Basel verrech­ net pauschal nur 1100 Franken. Dieser Betrag belaste die Eltern «erfahrungs­ gemäss bereits maximal», begründet Sprecherin Martina Codamo den tie­ fen Tarif. Das Defizit decken die Trä­ gerkantone, also die Steuerzahler von Basel-Stadt und Baselland. Auch das Zentralschweizer Kinderspital des Kantonsspitals Luzern legte die Pau­ schale auf etwa 1100 Franken fest. 1200 Franken kostet der Eingriff am Ostschweizer Kinderspital in St. Gal­ len. Dieser Betrag sei «gerade kosten­ deckend», sagt Chefarzt Thomas Franz Krebs. In rund der Hälfte aller Wunschbeschneidungen kommt aber nur der reduzierte Tarif von lediglich 350 Franken zur Anwendung. Dann nämlich, wenn die Vorhautbeschnei­ dung als Zweiteingriff einer anderen


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Einbrecher

Der Trick mit der Beerdigung Nirgendwo in Europa wird öfter eingebrochen als in der Schweiz. Die Täter schlagen längst nicht nur in der Dämmerung zu, und sie nutzen neuerdings gar Todesanzeigen für Beutezüge.

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Text: Moritz Marthaler

er Wagen trägt Trauerflor. Schwarz gekleidet steigt Helga Bieri* kurz nach Mittag ein. Sie wird abgeholt und zur Beerdigung der Schwester gefahren. Gegen 16.30 Uhr entdeckt ihr Enkel, dass die Eingangstür offen steht. Die Wohnung im zweiten Stock des Mehrfamilienhauses in Winterthur ist verwüstet. Die Wertsachen sind weg. Goldkettchen, Bargeld, Ringe. «Die haben aus der Zeitung von der Beerdigung erfahren», sagt die 80-Jährige. «Mein Name steht bei der Trauerfamilie, die Adresse im Telefonbuch.» Die Schweiz ist die Traumdestina­ tion der Einbrecher in Europa. Es gibt viel zu holen und wenig zu verlieren. 2014 wurden beinahe 53 000 Einbrüche gezählt, aufgeklärt wurden nur 13 Prozent. Die Diebe schlagen öfter zu – und rund um die Uhr. «Der Einbrecher, der nur nachts kommt, ist ein Klischee», sagt Joe Müller, Präven­ tionsverantwortlicher bei der Zuger Polizei. Die Täter steigen ein, wenn die Bewohner ausser Haus sind, vor allem tagsüber.

Spuren der Abwesenheit sind überall Günstige Gelegenheiten erkennen die Einbrecher gemäss Müller auf zwei A rten: Entweder sie streifen durchs ­ Quartier und bemerken verlassene Häuser, oder sie informieren sich im Voraus. «Es ist heute sehr einfach, an Informationen zu kommen», sagt Müller. Die Ferienmeldung auf Facebook, die Abwesenheitsmeldung im Büro oder eben die Todesanzeige in der ­Zeitung – Spuren sind überall. Doch der Polizist relativiert: «Sich zu informieren ist kein Delikt. Man verhindert besser den Einbruch an sich, dann ist auch die Recherche zwecklos.» Veraltete Türen und Schlösser seien die beste Einladung für erfahrene Einbrecher. «Türen mit Ausstattung aus den siebziger Jahren knacken Profis *Name geändert

innert Sekunden.» So geschehen auch im Wallis, wo bei Marta Meier* ebenfalls während einer Beerdigung ein­ gebrochen wurde. Meier glaubt indes nicht, dass die Täter wegen der Todesanzeige von ihrer Abwesenheit wussten. «Ich erhielt in den Tagen zuvor immer wieder Anrufe mit unterdrückter Nummer.» Wie schützt man sich am besten? Auch das ist ein simpler Trick, um zu prüfen, ob jemand zu Hause ist. Bei Meiers waren die Täter offenbar nur wenige Minuten im Haus. «Und bei mir haben sie einiges übersehen», erzählt Helga Bieri aus Winterthur.

Wie schützt man sich denn nun am besten gegen Einbrecher? «Alles vermeiden, was Abwesenheit verrät», sagt Joe Müller von der Zuger Polizei. Er empfiehlt etwa Zeitschaltuhren beim Licht. Weiter könne man ja mal den Nachbarn beauftragen, den Briefkasten zu leeren und ein Auge auf die Wohnung zu werfen. Sparen bei Tür und Schloss empfiehlt sich nicht. Marta Meier lässt nun die neuste Technologie installieren. «Eine solche Tür ist nicht unter einer Stunde zu knacken.» Auch Helga Bieri lässt eine neue Tür einbauen. Und hofft, dass sie sich in den eigenen vier Wänden bald wieder sicher fühlen kann.

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Baugenossenschaft Isenbach

Verwaltungsräte sollen in Haft Der Konkurs der Zürcher Baugenossenschaft Isenbach vernichtete 20 Millionen Franken. Jetzt fordert die Staatsanwaltschaft Freiheitsstrafen für vier Verwaltungsräte.

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Text: Gian Signorell

Schaden in Millionenhöhe Andere Genossenschafter der Isenbach mit Sitz in Illnau-Effretikon ZH hat es noch schlimmer erwischt. Eine Geschädigte fiel wegen des Konkurses der Genos­ senschaft Isenbach in eine Depression. Ihr Pensions­ kassengeld ist fort, sie lebt von der Sozialhilfe. Insgesamt verloren über 500 IsenbachGenossenschafter ihr Geld, 20 Millionen Franken wur­ den vernichtet. Präsident der Genossenschaft und fürs Geschäft verantwort­ lich war Walter Meier. Meier ist eine der Hauptfiguren in einem Netzwerk mehrerer Betei­ ligter, die in mutmasslich krimineller Absicht genossenschaftli­ che Wohnbauprojekte aufgleisten, um sich daran zu bereichern. Der Beob­ achter machte den Fall im Juli 2011 publik. Vier Jahre lang dauerte die ­Untersuchung, dann erhob die Staats­ anwaltschaft Anklage. Sie fordert für *alle Namen geändert

Mit Schweizer Pensionskassengeld bezahlt? Ein Isenbach-Verwaltungsrat baute in der Dominikanischen Republik seinen Alterssitz.

die vier Angeklagten Frei­ heitsstrafen von sechs Monaten bis zu dreiein­ halb Jahren. Für alle Beschuldigten gilt die ­ Unschuldsvermutung. Die Verhandlung fin­ det im April 2016 am Kreisgericht Werden­ berg-Sarganserland statt. Die Anklage zeichnet penibel nach, wie plan­ voll die Mitglieder des Verwaltungsrats – Walter Meier, Martin Capaul und Kathrin Roth sowie der diskret wirkende Karl Sut­ ter* – vorgegangen waren. Gemäss dem St. Galler Staatsanwalt schöpften sie «jeden nur denkbaren finanziellen Mehrwert der Wohnbaugenossenschaft zugunsten ihrer eigenen Aktiengesellschaften ab». Alle Beschuldigten verfügten ­neben ihrer Funktion bei der Wohn­ baugenossenschaft über eigene Fir­

men, von denen sie in «selbstkontra­ hierender» Weise und «mit faktischer Abnahmegarantie» Leistungen ein­ kauften. So konnten sie sich gegensei­ tig Aufträge zuschanzen, die vor allen anderen Rechnungen bezahlt worden seien. Die Genossenschafter hätten davon nichts erfahren. Das «Abschöpfen» erfolgte nach Plan Die Beschuldigten scheinen sich sehr sicher gefühlt zu haben. In einer «ver­ traulichen, nur internen» Liste notier­ ten sich Karl Sutter und Walter Meier «Abschöpfungspositionen», also wie viel Gewinn sie sich aus den Bau­ projekten genehmigen wollten. Das Ende des Projekts warteten sie nicht ab, sondern zahlten sich das Geld stets pauschal und akonto auf der Basis des Voranschlags aus, wobei die Zahlun­ gen auch dann noch erfolgten, als die Genossenschaft finanziell längst am Ausbluten war. Meier und Capaul sol­ len auf diese Weise rund 7,1 Millionen Franken abgeschöpft haben.

Foto: Luis Davilla/Mauritius-Images

elle Strände, im Wind sich w iegende Palmen, und im ­ Frühling paaren sich in der Bucht die Buckelwale: Auf der idylli­ schen Halbinsel Samaná in der Domi­ nikanischen Republik hat sich Bau­ unternehmer Walter Meier* ein Haus gebaut für seinen Lebensabend. Finanziert hat Meier seinen Alters­ sitz mutmasslich unter anderem mit dem Pensionskassengeld von Peter Burkhard*. Als der heute 74-Jährige Burkhard vor fünf Jahren Anteile der Wohnbaugenossenschaft Isenbach er­ warb, glaubte er, eine gute Investition zu machen. Nun sagt er: «Ich habe nachgerechnet. Das Geld wird noch zehn Jahre lang reichen. Wenn ich und meine Frau dann noch leben, müssen wir aufs Sozialamt.»


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Beobachter 21/2015

Zuständig für die Beschaffung des Genossenschaftskapitals war Martin Capaul mit seiner Consultingfirma. Capaul zahlte den Vermittlern des Geldes vier bis sieben Prozent Provi­ sion. Er sammelte ihre Rechnungen, reichte sie mit den Zeichnungsschei­ nen der neuen Genossenschafter ein und schlug für sich drei Prozent drauf. Beworben wurden die Anteilschei­ ne mit dem Attribut «geringes Risiko». Dabei zielte die Isenbach bewusst auf ein Publikum, das eine sichere und nachhaltige Wertanlage wünschte und einer Investition in Schweizer Grundeigentum einen hohen, auch ideellen Wert beimass. Mit Kundengeldern Alimente bezahlt Zu ihnen gehörte der Rentner Günter Bachmann*: «Mir wurde gesagt, es sei eine gute Geldanlage. Die Dokumen­ tation für das Bauprojekt in Sevelen SG war gut gemacht und wirkte solide. Versprochen wurden fünf Prozent Rendite.» Bachmann zeichnete Antei­ le für 150 000 Franken. Doch schon die erste Zinszahlung blieb aus. An der Generalversammlung vom 5. Mai 2011 folgte für Bachmann die Schocknachricht: Die Genossenschaft stand vor dem Konkurs. «Wir haben einen Viertel unseres Pensionskassen­ geldes verloren. Im Nachhinein muss ich mir sagen: Das hohe Rendite­ versprechen hätte mich hellhörig ­machen müssen.» Die beschuldigten Verwaltungsräte griffen systematisch, aber nicht immer mit der grossen Kelle in den IsenbachTopf. So liess sich die selbstständige Immobilienhändlerin und Verwal­ tungsrätin Kathrin Roth gemäss Staatsanwaltschaft über einen Zeit­ raum von drei Jahren eine «vorausset­ zungslose, rentenähnliche monatliche Vergütung» von 1000 und später 1614 Franken auszahlen, ohne eine Leis­ tung dafür zu erbringen. Zusammen mit weiteren Rechnungen für fiktive Dienstleistungen entstand ein Ge­ samtschaden von 298 600 Franken. Isenbach-Verwaltungsrat Capaul, ein ehemaliger Berater von Carsten Maschmeyers Finanzvertrieb AWD,

betrieb mit seiner Consultingfirma ein Nebengeschäft. Er verwendete 129 000 Franken an Kundengeldern, die ihm zur sicheren und ertragsbringenden Vermögensanlage anvertraut worden waren, mutmasslich zur Deckung ­privater Rechnungen wie Arztkosten, Versicherungsprämien, Alimente und sogar Sportartikel. Rechnungen für erfundene Leistungen Im Hintergrund blieb der Vierte im Bunde: Immobilienunternehmer Karl Sutter. Er sorgt seit über 20 Jahren mit Immobilienpleiten für Schlagzeilen. 2010 verurteilte ihn das Zürcher Ober­ gericht wegen Veruntreuung. Mit der Isenbach geschäftete Sutter über seine Firma Tomabo. In den Räu­ men der Isenbach in Kloten ging er laut Anklage ein und aus. Von der

Isenbach flossen rund 2,3 Millionen Franken für die Lieferung von Beton­ elementen, für Baumeisterarbeiten oder Baugrundverbesserungen an die Tomabo. Doch die Lieferungen und Leistungen waren allesamt fingiert. Genauso wie die Bauleistungen der Arnold Meier AG, einer anderen von Sutter kontrollierten Firma: Die Rech­ nungen für «Unkosten Käuferbetreu­ ungen», «Verkaufsunkosten», «Dritt­ mäkler-Honorare»: gemäss Anklage alles fiktiv. Karl Sutter ist längst zu neuen Ufern aufgebrochen. Er wollte mit ­seiner Genossenschaft Swiss Mariposa Sailing in Wollerau SZ Segelschiffe bauen, wie der Beobachter 2011 be­ richtete. Nun ermittelt die St. Galler Staatsanwaltschaft gegen Sutter we­ gen mehrfacher Veruntreuung.

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Beobachter 21/2015

Selbstbestimmung ist unbezahlbar Wer in einer gefährlichen Weltgegend in Geiselhaft gerät, soll künftig für seine Rettung selber zahlen. Das ist naheliegend, aber falsch.

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Text: Balz Ruchti Illustration: Thilo Rothacker

as Mitgefühl hielt sich in engen Grenzen, als Daniela Widmer und David Och 2011 im pakistanischen Belutschistan entführt wurden: Selber schuld, hiess es; es gab ja eine Reisewarnung für das Gebiet. Als sie achteinhalb Monate später gerettet wurden, mussten sie sich Schimpf und Schande anhören. Volk und Politiker warfen ihnen Eigensinn vor, pochten auf «mehr Eigenverantwortung». Nur die Rückführungskosten von 20 000 Franken mussten die beiden übernehmen – das war vielen Steuerzahlern ein zu kleiner Beitrag an die 2,3 Millionen Franken, die ihre Rettung gekostet haben soll. Künftig sollen befreite Geiseln mehr zahlen, falls sie fahrlässig gehandelt haben. Das sieht die neue Gebührenverordnung des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vor, die am 1. November in Kraft tritt. «Fahrlässig» handelt der Verordnung zufolge, wer «die Empfehlungen des Bundes, namentlich die Reisehinweise und die individuellen Empfehlungen des EDA, nicht beachtet». Wer sich trotz Empfehlungen in Gefahr begibt, dem wird also die gesellschaftliche Solidarität gekündigt. Sie sagen zu Recht: Wir waren nicht schuld Dass dafür eine EDA-Verordnung als Rechtsgrundlage herhalten muss, entlarvt den wahren Geist des Bestrebens: Leute wie Och und Widmer haben sich das falsche Hobby ausgesucht. Statt globetrotten hätten sie bergsteigen sollen. Bergsteigen hat ein gutes Image, dabei ist es gesellschaftlich mindestens so sinnfrei wie Weltreisen – und ebenfalls gefährlich: Steinschlag, Lawinen, Wetterumschwünge, Materialschwächen oder nur schon ein Misstritt können schnell tragische Folgen haben oder eine aufwendige Rettungsaktion nötig machen. Trotzdem ist mit entsprechender Aus­ rüstung, Vorbereitung und Kenntnis selbst bei erheblicher Lawinengefahr eine Bergtour

Die befreiten Geiseln hatten das falsche Hobby. Sie hätten berg­ steigen sollen.

Balz Ruchti ist Beobachter-Redaktor.

möglich. Und auch bei besten Verhältnissen kann ein Unglück passieren. Dann hatte man eben Pech. Genau das nahmen die beiden Exgeiseln für sich in Anspruch. Sie sagen zu Recht: Wir sind nicht schuld. Wir waren uns der Gefahren bewusst – und wir waren vorbereitet. Wir haben die örtliche Polizei über unsere Route informiert, bewaffneten Geleitschutz organisiert – und Pech gehabt. Schuld an der Entführung sind die Entführer. Widmer und Och sind ein Risiko eingegangen. Das tun wir alle manchmal; die einen mehr, die anderen weniger. Doch wenn sich die Mehrheit entscheidet, etwas Riskantes nicht zu tun, bezeichnet sie das gern als vernünftig. Nun liegt Vernunft aber nicht darin, sich nie in Gefahr zu begeben, sondern diese mit einer seriösen Vorbereitung möglichst zu minimieren. Wie beim Bergsteigen. Die Diskus­ sion sollte sich um das Mass an Selbstbestimmung drehen, das wir uns leisten wollen – leisten, weil der Allgemeinheit tatsächlich oft Kosten entstehen, wenn etwas schiefgeht. Stattdessen erklärt man nicht risikofreies Verhalten mehr und mehr zur Privatsache. Man fordert Verbote, und das kollektive Sicherheitsverständnis beginnt schleichend, unsere Selbstbestimmung einzuschränken. Solange sich das gegen Randgruppen richtet, sind wir schnell einverstanden: Waghalsige Extremsportler, jugendliche Rauschtrinker und in Geiselhaft geratene Abenteuerreisende handeln fahr­ lässig und sollen darum selber blechen. Wen triffts als Nächste? Die Velofahrer? Schon erklärt die IV einen Kopfsprung in den Fluss zum «grossen Wagnis», damit sie weniger zahlen muss. Politiker und Krankenkassen schielen auf Raucher und Dicke, um sie für ihren «riskanten» Lebenswandel zur Kasse zu bitten. Und eine grosse Versicherung erklärte Velofahren zur gefährlichen Fortbewegungsart. Wir sollten überlegen, wohin das führt. Selbstbestimmung ist unbezahlbar. Sie zu verlieren ist für einen Menschen das Allerschlimmste, sagen Widmer und Och. Sie wissen, wovon sie reden.



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Beobachter 21/2015

Unia

Wer nicht will, kann gehen

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Text: Moritz Marthaler

ie Unia ist mit über 200 000 Mit­ gliedern die grösste Gewerk­ schaft der Schweiz. Arbeit­ gebern klopft sie gern auf die Finger, was den Umgang mit Mitarbeitern be­ trifft. Doch im eigenen Betrieb werden die gewerkschaftlichen Grundwerte nicht immer ganz bewusst gelebt. ­Immer wieder ein Beispiel: Die aggres­ sive Expansionspolitik der Sektion Zürich-Schaff­hausen. Wer nicht mit­ ziehen will, muss gehen. «Der Druck ist riesig», sagt Ex-­ Mitarbeiterin Helga Müller *. Bis vor knapp einem Jahr war sie im Regional­ sekretariat Zürich-Schaffhausen in

*Name geändert

der Personalabteilung angestellt. Die Personalpolitik sei wirr und rück­ sichtslos, erzählt sie. Zwischen März 2012 und Januar 2013 gab es allein in Zürich 16 Abgänge und 13 Zugänge – dies bei einem Personalbestand von 70 Mitarbeitern. In der gesamten Organi­ sation waren es 113 Ab- und 148 Zu­ gänge bei 900 Mitarbeitenden. «Instabiles Teamgebilde» «Im Rahmen einer umfassenden Reor­ ganisation war die Fluktuation damals hoch», sagt Lorenz Keller, Medien­ sprecher bei der Sektion Zürich. «Doch wir sind froh, dass wir diese mittler­ weile stark reduzieren konnten.» Fürs

laufende Jahr gibt die Unia an, 16 Leu­ te eingestellt zu haben. Abgänge habe es bislang 6 gegeben. Ein Grund für die hohe Fluktuation könnte der übermässige Druck sein, neue Mitglieder anzuwerben. Gemäss Helga Müller sind die Gewerkschafts­ sekretäre angehalten, im Schnitt pro Tag bis zu 1,5 neue Mitglieder zu ge­ winnen. «Von uns wurde verlangt, dass wir pro Tag auf zehn Baustellen gehen, mindestens 40 Gespräche füh­ ren und 1,5 neue Mitglieder anwer­ ben», sagte die ­ entlassene Nicole Schnetzer im ­Juli gegenüber «10 vor 10». «Solche Anwerbeziele erhalten bei uns natürlich nur jene Mitarbeiter, die

Foto: Valeriano Di Domenico/keystone

Die Gewerkschaft Unia verfolgt eine aggressive Wachstumsstrategie. Dazu setzt sie ihre eigenen Mitarbeiter unter Druck.


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Führungsnachwuchs als grosse Her­ ausforderung.» Hinweise auf eine übermässig forsche Expansionspolitik kommen auch aus dem BeobachterBeratungszentrum: Dort meldeten sich in den letzten Jahren viele Eltern minderjähriger Lehrlinge, die sich zu einer Mitgliedschaft hatten überreden lassen. Sie ist nur schwer zu kündigen: Wer den Termin Ende Jahr verpasst, zahlt während mindestens 18 Mona­ ten weiter den Mitgliederbeitrag.

Es rumort in den eigenen Reihen: Unia-Vertreter an Zürcher Kundgebung, Juni 2015

auch im dafür vorgesehenen Team tätig sind», meint Mediensprecher Keller. «Und wir g­ eben keine unmögli­ chen Vorgaben.» Die Unruhe beim Personal war ­offenbar auch bei strategischen Aus­ richtungen innerhalb der Zürcher ­Sektion ein Thema. An einem Infor­

mationsanlass für Mitarbeiter Ende Oktober 2012 erkannte die Sektions­ führung ein «instabiles Teamgebilde aufgrund hoher Fluktuation». Als «grösste Baustelle» wurde ­damals in einem internen Positions­ papier festgehalten: «Hohe Fluktuati­ on, unklare Jobprofile und Aufbau von

Immer wieder Unruhe In den letzten Jahren gab es immer wieder Berichte über Probleme bei der 2004 entstandenen Gewerkschaft. 2011 kam es in der Berner Sektion ­wegen umstrittener Personalentschei­ de zu Unruhe – der Streit gipfelte in ­einem internen Streik und dem Rück­ tritt der damaligen Co-Leiterin. Auch in der Abteilung Nordwestschweiz ­r umort es seit Jahren. Zuletzt scharte gar ein langjähriger Mitarbeiter ent­ lassene Unia-Genossen in einer eige­ nen Gewerkschaft um sich.

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18 Titelthema ernährung

Beobachter 21/2015

Gutes Essen, schlechtes Essen Jeder Dritte glaubt, an einer Unverträglichkeit oder Allergie zu leiden. Bei fast der Hälfte der Betroffenen lässt sich aber medizinisch nichts nachweisen. Text: Nicole Krättli und Susanne Loacker Fotos: luxwerk; Illustrationen: Anne Seeger

Weltstars mischen kräftig mit Geschürt wird die Angst vor allem, was klebrig klingt. Nicht nur gewiefte Gesundheitsapostel und Buchautoren tun das, sondern auch Weltstars wie Schauspielerin Gwyneth Paltrow. In ihrem Buch erklärt sie, wie man ohne Gluten, Zucker und Laktose gesünder leben und besser aussehen könne. Auch Teenie-Idol Miley Cyrus twitter­ te unlängst «Gluten ist scheisse. Jeder sollte eine Woche Gluten vermeiden. Die Veränderungen von Haut, Körper und Geist sind unglaublich.» Auch die Medien sind auf den Hype aufgesprungen und propagieren den «Free from»-Lifestyle: frei von Gluten,

Laktose, Fruktose und Histamin (siehe die vier Infografiken in diesem Arti­ kel). Ein britisches Magazin mit dem Titel «Free From» trägt die Unterzeile «Heaven». Damit ist klar: Wer Brot, Milch, Käse und Fleisch isst, wird in der Hölle schmoren. Fakt ist: Es gibt Leute, die unter Nahrungsmittelallergien und Intole­ ranzen leiden, bestimmte Nahrungs­ mittel oder Stoffe nicht essen können. Für Allergiker kann schon die Einnah­ me kleinster Mengen des schädlichen Stoffes lebens­gefährlich sein. Intoleranzen hingegen sind bloss unangenehm und können schmerz­ haft sein, sind aber selten lebens­ gefährlich. Unbestritten ist, dass gera­ de in Industrieländern Allergien seit Jahren zunehmen. «Auch die Zahl der Leute mit einer sogenannten Hyper­ sensitivität hat zugenommen», sagt Peter Schmid-Grendelmeier, Leiter der Allergiestation am Unispital Zürich. «Das hat zu einem Teil damit zu tun, dass es neue Krankheitsbilder gibt»,

Beobachter online Mehr zur Nahrungsmittelunverträglichkeit auf www.beobachter.ch/intoleranz Wie hoch ist das Risiko, dass Ihr Kind eine Allergie entwickelt? Machen Sie den Test auf www.beobachter.ch/allergietest

sagt er. Daneben werde diesem Thema aber auch eine unglaubliche Aufmerk­ samkeit zuteil, es gebe gerade in den Medien einen Hype um Unverträglich­ keiten. «Es ist fast schon schick, ein Nahrungsmittel nicht zu vertragen.» Sind das alles eingebildete Kranke? Was die Vorstellungskraft auslösen kann, zeigte bereits 1990 ein Experi­ ment: Versuchspersonen wurde eine Kochsalzlösung gespritzt. Zuvor hatte man ihnen suggeriert, es handle sich um ein Allergen. Ein Viertel der Pro­ banden zeigte klare allergische Reak­ tionen. Und das, obwohl der menschli­ che Körper selber 150 bis 300 Gramm Kochsalz enthält. Die Schweiz belegt bei den Unver­ träglichkeiten europaweit einen Spit­ zenplatz: 37 Prozent der Bevölkerung geben in einer Befragung des Unispi­ tals Zürich an, sie würden gewisse Le­ bensmittel nicht vertragen. Doch nur bei jedem Zweiten von ihnen können diese medizinisch nachgewiesen wer­ den. Sind alle anderen Hypochonder? Nein, sagt Ernährungsberater Adri­ an Baumann von der Berner Uniklinik für Endokrinologie, Diabetologie und Klinische Ernährung: «Diese Leute haben echte Symptome und leiden da­ runter. Sie bilden die grosse und stetig wachsende Gruppe von sogenannten

Quelle: Allergiezentrum Schweiz (Aha)

G

enuss war gestern. Ver­ zicht ist in. Nahrungs­ mittel werden in gut und böse, richtig und falsch ­ unterteilt. Das nützt der US-Neurologe David Perlmutter aus – mit seinem Buch «Dumm wie Brot» stürmte er die Best­ sellerlisten. Sein Rezept: Kohlenhydrate seien die Wur­ zel allen Übels und sogar für Alzhei­ mer und Demenz mitverantwortlich. Der US-Kardiologe William Davis geht noch einen Schritt weiter und erklärt in einem Buch, dass Weizen die Ge­ sundheit gefährdet: «Weizen macht fett, herzkrank und depressiv.»


Milchzucker, der zu Krämpfen führt Laktoseintolerante vertragen folgende zehn Lebensmittel nicht oder nur schwer:

Butter

Schokolade, Pralinen

Buttermilch, Molke

Rahm

Joghurt, Quark

Glace

bestimmte Käsesorten (etwa Frischkäse)

Pudding

Laktoseintoleranz

(Betroffen: 20 Prozent der Bevölkerung)

Ursache: Normalerweise wird der Milchzucker im Dünndarm durch das Enyzm Laktase gespal­ ten und über den Darm ins Blut aufgenommen. Statt ins Blut gelangt der Milchzucker bei Laktoseintoleranz unverdaut in den Dickdarm und wird dort von Bakterien vergoren. Das ist unangenehm, aber nicht lebensbedrohlich. Vorkommen: Milch, Milchprodukte, Fertig­ produkte.

Symptome: Blähungen, Bauchkrämpfe, Durchfall, Übelkeit, Verstopfung, Erbrechen. Diagnose: Atemtest oder Blutgentest. Therapie: In einer ersten Phase sollten sich Betroffene laktosefrei ernähren. Danach sollte während einer Testphase die Verträglichkeit der Laktose ermittelt werden. Man kann das fehlen­ de Enzym Laktase allerdings auch in Form von Kapseln oder Tabletten einnehmen.

Fertigsuppen, Bouillon

Muttermilch


Wenn Weizen reizt Wer Gluten (Kleber­eiweiss) nicht verdauen kann, muss folgende Nahrungsmittel meiden:

Brot

Kuchen, Guetsli

Teigwaren

Senf

Pizza

Gewürzmischungen

paniertes Schnitzel

Müesli

Bier

Spätzli

Zöliakie

(Betroffen: 1 Prozent der Bevölkerung)

Ursache: Gluten ist ein Sammelbegriff für Klebereiweisse in verschiedenen Getreidesorten. Zöliakie ist eine extreme Überempfindlichkeit gegenüber Gluten, sie schädigt die Dünndarmschleimhaut. Die Schädigung führt zum Abbau der Dünndarmzotten. Nährstoffe können zudem weniger gut aufgenommen werden, was zu einer Mangelerscheinung führen kann. Vorkommen: Weizen, Dinkel, Roggen, Gerste, Hafer, Emmer, Grünkern, Kamut, Einkorn und Triticale (Kreuzung zwischen Weizen und Roggen).

Symptome: Müdigkeit, Erschöpfung, Blutarmut, Eisenmangel, Durchfall, Verstopfung, Bauchschmerzen, Knochenschmerzen, Gewichtsund Kraftverlust, Konzentrationsprobleme, depressive Verstimmungen. Diagnose: Messung von Zöliakieantikörpern unter glutenhaltiger Ernährung. Therapie: Bei Zöliakie hilft nur eine lebenslange glutenfreie Ernährung. Auf diese Weise ist jedoch ein beschwerdefreies und gesundes Leben möglich.


ernährung Titelthema 21

Beobachter 21/2015

Quelle: Allergiezentrum Schweiz (Aha), IG Zöliakie der deutschen Schweiz

Pseudoallergikern.» So werden Patienten bezeichnet, die keine klassisch diag­ nostizierbare Allergie haben, aber über Beschwerden klagen. Baumann: «Mit ­ ­d iesem Begriff wollen die Fachleute nicht etwa suggerieren, diese Leute hätten gar nichts.» Klinisch seien die Symptome von einer Allergie kaum zu unterscheiden, aller­ dings liessen sich Pseudoallergien meist erst durch eine diagnostische Diät nach­ weisen – also das konsequente Weglassen aller fraglichen Nahrungsbestandteile in Einzelschritten, so Baumann. Renate Huber * ist eine solche Pseudo­ allergikerin. Die 33-Jährige leidet nicht nur unter einer Laktoseintoleranz, son­ dern auch unter einer «unspezifischen Mastzellaktivierung». Diese sei jahrelang nicht diagnostiziert worden: «Ich hatte ständig Beschwerden und wurde nicht ernst genommen. Schliesslich habe ich gegoogelt, wie das alle Hypochonder tun.» Auf der Website der Schweizerischen Interessengemeinschaft Histamin-Intole­ ranz fand sie dann eine Checkliste, und die aufgeführten Symptome kamen ihr bekannt vor: ständige Bauchschmerzen, Übelkeit, Herzrasen, Migräne, Durchfall, Juckreiz, manchmal Asthma. Von einem Arzt zum anderen Huber ist von den Ärzten enttäuscht. «Ich hoffe seit sechs Jahren auf einen Befund. Schon meine Mutter hatte ständig Aller­ gien, der Vater dauernd Magenschmer­ zen. Ich vermutete schon lange, dass ich auch erblich vorbelastet bin.» Huber war so verzweifelt, dass sie nach einer Konsul­ tation beim Hausarzt eine zweite Haus­ ärztin und einen Ernährungsberater um Rat bat. «Immer hiess es: ‹Wir finden nichts, das legt sich wieder.›» Auch eine Darmspiegelung brachte keine Diagnose. Heute ist Huber bei einem Spezialisten für Allergologie in Behandlung – es geht ihr besser. «Manchmal habe ich den Ver­ dacht, dass die Lebensmittelindustrie und die Pharmabranche sich gegenseitig in die Hände spielen: Die einen entwerfen im­ mer mehr Lebensmittel mit Zusätzen, und die anderen bringen Medikamente auf den Markt, damit wir diese Lebensmittel überhaupt vertragen.» Adrian Renfer ist Arzt für Allgemeine Medizin in Dietikon ZH und praktiziert traditionelle chinesische Medizin, die oft bei Allergikern zum Einsatz kommt. «Vie­ le Mediziner vermuten, dass sich Aller­ giker nur deshalb der Alternativmedizin zuwenden, weil man dort mehr Zeit für sie *Name geändert

Nahrungsmittelallergie Eine Nahrungsmittelallergie ist eine Abwehrreaktion des Körpers gegenüber pflanzlichen und tierischen Eiweissen. Schon der Kontakt mit kleinsten Mengen kann allergische Reaktionen aus­lösen. Diese reichen von harmlosem Juckreiz bis hin zu einem anaphylaktischen Schock, der schlimmstenfalls tödlich sein kann. In der Regel können Allergien mittels Haut- und Bluttests fest­ gestellt werden. Besonders schwerwiegende allergische Reaktionen treten bei Erd­ nüssen, Meeresfrüchten, Nüssen und Sesamsamen auf.

Nahrungsmittelintoleranz Nahrungsmittelintoleranzen sind ein Sammelbegriff für verschiedene, nicht allergisch bedingte Reaktionen auf Nahrungsmittel. Bei einer Lebensmittelintoleranz fehlt dem Körper die Fähigkeit, einen bestimmten Stoff zu verdauen. Die häufigsten Symptome einer Nahrungsmittelintoleranz sind Ver­dauungsbeschwerden. Tests oder eine Weglass­diät können Klärung bringen.

hat und sie sich besser verstanden füh­ len», sagt er. «Ich glaube aber nicht, dass sich Leute, die unter Allergien und Unver­ träglichkeiten leiden, nur deshalb bei ­einem Alternativmediziner anmelden.» Eine Diagnose sei nichts mehr als ­«eine Behandlungshypothese» – eine Art Label, das wohl zu Beschwerden passt, diese oft aber nicht gänzlich umfasst. «Das erklärt auch, weshalb gewisse Medi­ kamente und Therapiemethoden beim ­einen Patienten super funktionieren und beim anderen nur mässig.» Die chinesi­ sche Medizin, so Renfer, kümmere sich vereinfacht gesagt weniger darum, woher eine Störung komme, sondern um Mög­ lichkeiten, diese beim Individuum zu mil­ dern oder zum Verschwinden zu bringen. Manche haben ihr Notfallset immer dabei Inzwischen ist Renate Huber ein Profi in Sachen Histaminintoleranz. Sie hat u nzählige Bücher zum Thema gelesen ­ und trägt ein Notfallset mit Antihistamin, Prednison und einer Adrenalinspritze mit sich, nimmt täglich Medikamente, um Reaktionen vorzubeugen. Checklisten ­ und Apps helfen ihr: «Ich koche praktisch alles selber», sagt die kaufmännische ­A ngestellte. Denn die Liste der Nahrungs­ mittel und Zusatzstoffe, die ihr Probleme bereiten, ist schier endlos: Brot mit Hefe, Konserven, Fertigprodukte, Wein, Curry, Pfeffer, alles mit E-Zusatzstoffen, Ge­ schmacksverstärkern, Farbstoffen und Verdickungsmitteln. Zudem verschlech­ tert sich ihr Zustand, wenn zu einem «schlechten» Lebensmittel zusätzliche Faktoren, sogenannte Trigger, dazukom­ men: Stress, Schlafmangel, Ärger im Büro. «Wenn eine echte Unverträglichkeit ausgeschlossen ist oder sehr unwahr­ scheinlich, haben die Symptome in der Regel psychosomatische Gründe», sagt Bettina Isenschmid, Chefärztin des Kom­ petenzzentrums für Essverhalten, Adi­ positas und Psyche am Spital Zofingen. «Man sagt ja nicht umsonst: Mir liegt ­etwas auf dem Magen, etwas macht mir Bauchweh, mir kommt die Galle hoch. Unsere Verdauungsorgane sind über das vegetative Nervensystem sehr eng mit der Psyche verbunden.» Isenschmid vermutet, dass es vielen leichter fällt, über alle möglichen Unver­ träglichkeiten zu diskutieren und sich mit dem Verdauungstrakt zu beschäftigen als mit der eigenen Psyche. Dazu leistet die Werbung seit Jahren einen massiven Beitrag. Trinkjoghurt fürs Immunsystem, «Free from»-Produkte ge­


22 Titelthema ernährung

Beobachter 21/2015

«Man sagt ja nicht umsonst: Mir liegt etwas auf dem Magen, mir kommt die Galle hoch.» Bettina Isenschmid, Chefärztin des Kompetenzzentrums für Essverhalten, Adipositas und Psyche am Spital Zofingen

«Das Misstrauen gegenüber Nahrung ist sehr gross. Das ist problematisch.» Erika Toman, Psychologin und Leiterin des Zürcher Kompetenzzentrums für Essstörungen und Adipositas

Genuss, Wohlbefinden – und viel Umsatz Dahinter steckt ein immenses Business. Der weltweite Umsatz mit glutenfreien ­Lebensmitteln ist zwischen 2008 und 2013 um 75 Prozent auf über zwei Milliarden US-Dollar angestiegen. Auch Migros und Coop sind auf diesen Zug aufgesprungen. Die Migros bot 2008 noch 33 Produkte für Allergiker an, heute sind es über 100.

Noch vor der Migros lancierte Coop 2006 eine Linie für Allergiker. Das Label «Free from» mit grünem Logo und schlan­ ken Buchstaben verspricht «Genuss und Wohlbefinden». Dass es sich bei den Pro­ dukten nicht um eine Gesundheitslinie, sondern um Allergikerprodukte handelt, sieht der Kunde erst auf den zweiten Blick. Viele springen auf den Trend an Angebot und Umsatz wachsen stetig: Das «Free from»-Sortiment von Coop brachte 2012 einen Umsatz von 17 Millionen Fran­ ken, zwei Jahre später waren es 25 Millio­ nen. Migros verzeichnet mit den «Aha!»Produkten seit 2013 zweistelliges Wachs­ tum, ein Ausbau des Sortiments ist ­geplant. Dass vor allem glutenfreie und Milchersatzprodukte massiv teurer sind als herkömmliche, begründet MigrosSprecherin Christine Gaillet mit den ho­ hen Herstellungskosten: «Reis und Mais, die Hauptzutaten dieser Produkte, dürfen nicht mit glutenhaltigem Getreide in ­Berührung kommen. Dazu müssen sie mit speziellen Maschinen geerntet, separat transportiert, in speziellen Mühlen ge­ mahlen und gesondert gelagert werden.» Wie viel mehr es kostet, Produkte für Allergiker herzustellen, will die Migros «aufgrund der Komplexität» nicht sagen. «Wir verdienen an diesen Produkten grundsätzlich nicht mehr als an anderen.» Ein Ende des Hypes ist nicht abzusehen. Früher wurde mit dem Slogan «Die Milch

Kinder mit Nahrungsmittelallergien: Heikle Stoffe meiden oder nicht? 10 bis 15 Prozent der Klein­ kinder leiden unter Neuro­ dermitis. Die Hälfte hat Glück: Es kommt zu sogenannten Spontanheilungen – das Leiden wächst sich aus. Die andere Hälfte hat Pech. Sie entwickelt Asthma und im Schulalter Heuschnupfen. So beginnen die klassischen Allergiekarrieren. Allergien sind zu einem grossen Teil erblich: Ist ein Elternteil betroffen, erbt das Kind sie laut Allergiezentrum Schweiz mit 30-prozentiger Wahr­ scheinlichkeit. Sind beide Elternteile Allergiker, erhöht sich das Risiko fürs Kind auf 50 bis 70 Prozent. Wie sollen Eltern mit diesem

Wissen umgehen? Die heiklen Stoffe vermeiden, rät der gesunde Menschenverstand. Falsch, sagt die Forschung: Dem britischen Allergologen Georges Du Toit fiel auf, dass jüdische Kinder in London, die während ihres ersten Lebens­ jahres keine erdnusshaltigen Produkte essen dürfen, viel häufiger an Erdnussallergien litten als jüdische Kinder in ­Israel, wo Erdnussbutter schon für die Kleinsten auf dem Menü steht. Er unter­ suchte 640 Säuglinge, die Neuro­dermitis und damit ein erhöhtes Allergierisiko hatten. Jedes siebte Kind, das bis zum Alter von fünf Jahren keine Erdnussprodukte bekam, ent­

wickelte eine Erdnussallergie. Von den Kindern, die essen durften, was sie wollten, hatten nur zwei Prozent eine Erdnussallergie. «Ich finde diese Studie sehr spannend und auch über­ zeugend», sagt die Zürcher Kinderallergologin Christina Weber. «Aber es ist schwierig, da es je nach untersuchter ­Population verschiedene Resultate geben kann, weil unzählige andere Faktoren mitspielen.» Sie beobachtet in ihrer Praxis, dass einigen Eltern der Unterschied zwischen einer Allergie und einer Unverträglichkeit nicht bekannt ist. «Es wird viel geforscht. Das, was wir heute

empfehlen, kann in ein paar Jahren bereits widerlegt sein. Grundsätzlich muss man bei Kindern viel genauer hin­sehen als bei Erwachsenen, weil sie für Wachstum und Gedeihen wichtige Nährstoffe benöti­ gen. Viele Nahrungsmittel­ allergien können sich aus­ wachsen» – etwa Allergien gegen Weizen, Kuhmilch, Ei, Soja oder Fisch. Das Gegenteil gibt es aber auch: Kinder im Säuglingsalter haben kaum je eine Laktos­eintoleranz. «Das ist gut so, sonst wären wir vermutlich längst aus­ gestorben», sagt Allergologin Weber. Dennoch: reagieren, wenn das Kind immer wieder über Bauchweh klagt.

Quelle: Allergiezentrum Schweiz (Aha), Schweizerische Interessensgemeinschaft Histamin-Intoleranz (SigHi)

gen Verdauungsbeschwerden. «Wir beob­ achten einen Anstieg bezüglich Überbe­ sorgnis rund um die Verdauung», erklärt Bettina Isenschmid. «Auf diese Werbe­ botschaften reagieren gerade ängstliche oder verunsicherte Personen stark.» «Das Misstrauen gegenüber Nahrung ist sehr gross. Das ist problematisch», stellt auch Erika Toman fest, Psychologin und Leiterin des Zürcher Kompetenzzent­ rums für Essstörungen und Adipositas: Viele hätten Angst vor gesunder, natür­ licher Nahrung, nur weil sie eine hohe ­Kaloriendichte hat. «Vorsicht ist aber vor allem bei stark industriell verarbeiteten Lebensmitteln geboten. Diese zielen oft darauf ab, das Hunger-Sättigungs-Gefühl durcheinanderzubringen», warnt Toman. Rinderwahn und andere Lebensmit­ telskandale würden zusätzliche Ängste schüren. «Die Lebensmittelindustrie hat ihre eigenen Skandale ausgeschlachtet und die Angst der Leute genutzt, um nun industriell veränderte, angeblich ‹gesun­ de› Produkte zu propagieren.»


Trauben, Honig – und Bauchweh Wer Probleme hat, Fruktose (Fruchtzucker) zu verdauen, muss folgende Esswaren vom Speisezettel streichen:

Kiwi

Honig

Haushaltszucker

Limonade, Eistee

Birnen

Likör

Apfelsaft

Fruktoseintoleranz

(Betroffen: Anteil an der Bevölkerung nicht bekannt)

Ursache: Bei der Fruktoseintoleranz oder -malabsorption ist die Funktion des Transportproteins für Fruktose eingeschränkt. Dadurch kann der Fruchtzucker nicht ausreichend in die Darmzellen aufgenommen werden. Vorkommen: Vor allem in Kern- und Steinobst, Fruchtsäften, Dörrobst und süssen Brotauf­ strichen. Auch in kalorienreduzierten Süss­ getränken oder Spezialprodukten für Diabetiker.

Symptome: Bauchschmerzen bis hin zu Bauchkrämpfen, Blähungen, Durchfall, Verstopfung, Druckgefühl im Oberbauch, Übelkeit, allgemeines Unwohlsein, Erbrechen und Aufstossen. Diagnose: Atemtest. Therapie: Betroffene sollten sich nach der Diagnose während maximal zwei Wochen fruktose­arm ernähren und auf Zuckeralkohole verzichten. Anschliessend wird in einer Testphase die Verträglichkeit der Fruktose ermittelt.

Konfitüre

Banane

Süssigkeiten


Migräne wegen Makrelen Nicht alle sollten Spinat essen oder Wein trinken. Wer heftig auf Histamin reagiert, meidet:

Tomaten

Bratwurst, Cervelat

Spinat

Rohschinken

Essig

Crevetten

Sauerkraut

Alkohol (etwa Wein)

Aubergine

Histaminintoleranz

(Betroffen: 1 Prozent der Bevölkerung)

Ursache: Es wird vermutet, dass die Histamin­ intoleranz durch ein Missverhältnis zwischen dem Angebot an Histamin und der einge­ schränkten Aktivität der histaminabbauenden Enzyme entsteht. Vorkommen: Histamin kommt in tierischen und pflanzlichen Lebensmitteln vor, besonders in Wurstwaren, Fisch, Meeresfrüchten, Hart-, Weich- und Schmelzkäsesorten und gewissen Gemüsesorten.

Symptome: Plötzliche Hautrötungen, Juckreiz, Verdauungsbeschwerden, Blutdruckabfall, chronischer Schnupfen, Kopfschmerzen, Migräne, rote Augen. Diagnose: Es gibt keine eindeutigen Diagnose­ kriterien für Histaminintoleranz. Therapie: Zuerst muss streng auf histamin­arme Ernährung umgestellt werden, um darauf­ hin gezielt histaminreiche Lebensmittel zu tes­ ten und die Verträglichkeit zu ermitteln.

Quelle: Allergiezentrum Schweiz (Aha), Gastroenterologie Wettingen

Hartkäse, Schimmelkäse


ernährung Titelthema 25

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machts» für das Wundergetränk ge­ worben. Heute zahlen Konsumenten doppelt so viel, um Milch, Joghurt oder Teigwaren ohne Laktose zu be­ kommen. Und obwohl nur ein Prozent der Schweizer Bevölkerung an Gluten­ unverträglichkeit (Zöliakie) leidet, fin­ den sich die Produkte mit der durch­ gestrichenen Ähre mittlerweile in den meisten Supermärkten; Speisekarten weisen Gerichte als laktose- und g lutenfrei aus, und im Tourismus ­ wirbt man sogar mit gluten- und ­laktosefreier Erholung. Im Restaurant nicht ernst genommen «Die vielen Angebote und das Be­ wusstsein für dieses Thema erleich­ tern zwar das Leben der Betroffenen», sagt Karin Stalder, Ernährungsberate­ rin und Projektleiterin beim Allergie­ zentrum Schweiz. «Es ist aber auch ein grosses Problem, dass viele Leute auf diesen Trend anspringen, ohne wirk­ lich ein medizinisches Problem zu ­haben. Denn diese Leute erlauben sich manchmal Ausnahmen bei der Ernäh­ rung, die echte Allergiker nicht machen dürfen. Das kann etwa in ­ ­Restaurants zu Verwirrung führen.» Das fällt auch Marion Spyrig * auf. «Ich glaube, dass man echte Allergiker in der Gastronomie nicht mehr richtig ernst nimmt, weil so viele Leute ­behaupten, dass sie dies oder das nicht vertragen.» Sie trinkt in Gastwirt­ schaften nur Wasser. Ihre Mutter war auf Bienengift allergisch. Nach einem

Stich erlitt sie einen Schock und muss­ te wiederbelebt werden. «Ich bringe dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf», sagt Spyrig. Sie will verhindern, dass ihre eigenen Kinder sie so sehen müs­ sen – und verzichtet auf eine ganze Reihe von Gemüse, Früchten und Ge­ würzen. Seit dem 19. Altersjahr leidet die heute 47-Jährige an Nahrungs­ mittel- und Medikamentenunverträg­ lichkeiten. Medizinisch nachgewiesen sind die wenigsten ihrer Beschwerden. Doch rote Quaddeln am Körper, ein geschwollener Mund und Atemnot sind für sie Beweis genug, dass da ­etwas sein muss. «Die vielen Unver­ träglichkeiten machen das Essen lang­ weilig und eintönig. Am schlimmsten ist jedoch, dass ich eigentlich kein komplizierter Mensch bin. Meine ­Geschichte macht mich kompliziert.» Es sei sinnvoll, allergieauslösende Nahrungsbestandteile zu vermeiden, sagt der Berner Ernährungsexperte Adrian Baumann. Selbstauferlegte Einschränkungen hingegen seien kon­ traproduktiv: «Wer keine nachgewie­ sene Allergie oder Unverträglichkeit hat, wird durch den Verzicht auf ­Gluten oder Laktose nicht gesünder, sondern höchstens kränker.» Man ris­ kiere nicht nur eine Unterversorgung mit bestimmten Nährstoffen, sondern auch, dass man sich eine Unverträg­ lichkeit «heranzüchte»: «Wenn der Körper über längere Zeit gewisse Stoffe gar nicht bekommt, gewöhnt er sich ab, sie zu verwerten. Werden sie dann

plötzlich wieder zugeführt, kann das Probleme geben.» Diese Erfahrung machte Prisca ­Egli *. Sie wollte ein paar Pfunde los­ werden und ass nur noch Gemüse, ­Eier, Fisch und Fleisch. Als sie nach einigen Monaten Diät «verbotene» ­ ­L ebensmittel ass, bekam sie Magen­ schmerzen: keine Pasta, keine Pizza ohne Krämpfe und schlaflose Nächte. Nach einigen Arztbesuchen und Ge­ sprächen fiel es der 32-Jährigen wie Schuppen von den Augen: «Ich hatte mir so lange eingeredet, dass diese ­L ebensmittel schlecht für mich sind, dass es mein Körper irgendwann glaubte. Ich fürchte, dass ich mir eine Unverträglichkeit antrainiert habe.» Bis man in einer Essstörung landet Solche Geschichten hört Bettina Isen­ schmid regelmässig. Es sei zwar nicht per se schädlich, auf Milchzucker oder auf Gluten zu verzichten, aber: «Gera­ de bei Laktose kann es schnell gehen: Man lässt immer mehr weg, verträgt dadurch immer weniger und lässt ­dadurch noch mehr weg.» Ein Teufels­ kreis, der letztlich in einer ausge­ wachsenen Essstörung mit Mangeler­ nährung, psychischer Verstimmung, sozialem Rückzug, Schuld- und Versa­ gensgefühlen enden könne. Isen­ schmid warnt deshalb: «Sobald das Essen eine Bedeutung bekommt, die über Sättigung und Genuss hinaus­ geht, ist das eine krankhafte Einstel­ lung, die behandelt werden sollte.»

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Ausschaffung

Ein Dorf auf den Barrikaden

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Text: Markus Föhn

ie Kantonspolizisten kommen morgens um vier, ein gutes Dutzend Beamte. Sie verschaf­ fen sich Einlass in die Wohnung, be­ fehlen den vier Kindern und der Mut­ ter, ihre Habseligkeiten zu packen. Der Ton ist barsch, die Polizisten legen sel­ ber Hand an, die Zeit scheint zu drän­ gen. Achtlos stopfen sie in Taschen, was sie in den Schränken finden: Klei­ der, Lebensmittel, Spielzeug, alles durcheinander. Den Vater, der seit ei­ nem Zusammenbruch in der psychia­ trischen Klinik liegt, holt eine andere Einheit. Gegen acht Uhr klingelt in Kilch­ berg ZH bei Francesca Bürgin das Te­ lefon. Am Draht ist eine Bekannte aus dem Dorf. Unten bei der tschetscheni­ schen Familie sei alles voller Polizei­

autos, berichtet sie. Bürgin ruft ihren Mann an, dann Mitstreiterin Isabelle Blümlein, die wiederum ihren Mann kontaktiert. Den beiden Ehepaaren, dem Kern des Komitees «Hier zuhau­ se», schwant: Es geschieht, was sie ­verhindern wollten – die Flüchtlings­ familie wird ausgeschafft. Schluchzen und erleichtertes Lachen Kurz vor Mittag ein dramatischer Moment: Das Komitee berät sich im Wohnzimmer der Bürgins, das Schwei­ zer Fernsehen filmt mit. Da klingelt Isabelle Blümleins Handy. Sie nimmt ab, die Kamera zoomt auf ihr Gesicht. Später wird am Fernsehen zu sehen sein, wie sie stirnrunzelnd ins Telefon spricht – und nach wenigen Sekunden in ein Schluchzen und gleichzeitig ein erleichtertes Lachen ausbricht. Es ist

der 17. September 2015, die Zwangs­ ausschaffung der Kilchberger Flücht­ lingsfamilie wurde nach deren Wider­ stand am Flughafen abgebrochen. Das alles hätte sich auch gänzlich unbemerkt abspielen können; die Be­ hörden haben 2014 über 6000 Perso­ nen gegen ihren Willen ausgeschafft, ohne dass eine breite Öffentlichkeit daran Anteil genommen hätte. Dass es hier anders ist, liegt an Francesca Bür­ gin, Isabelle Blümlein und ihren Ehe­ männern. Sie haben der tschetscheni­ schen Familie einen Anwalt zur Seite gestellt und unter dem Motto «Hier zuhause» Hunderte Gleichgesinnter mobilisiert. Sie haben eine Website aufgeschaltet, eine Facebook-Gruppe gegründet, eine Petition an Bundes­ rätin Simonetta Sommaruga lanciert. Und sie haben dafür gesorgt, dass die

Foto: zoe tempest

Im gutbürgerlichen Kilchberg ZH solidarisieren sich Hunderte mit einer tschetschenischen Flüchtlingsfamilie, die ausgeschafft werden soll.


«Die tschetschenischen Flüchtlinge sind bestens integriert»: Bürgeraktion «Hier zuhause» in Kilchberg ZH

Öffentlichkeit von allem erfährt: Gezielt kontaktierten sie Medienleute, damit sie die Geschichte eines Dorfs aufnehmen, das sich schützend vor ­eine Flüchtlingsfamilie stellt. Isabelle Blümlein sagt: «Wenn man diesen Kindern in die Augen sieht, kann man nicht anders, als ihnen beistehen zu wollen.» Und Francesca Bürgin fügt an: «Dass die Familie nach Tschetschenien zurückgeht, ist für uns keine Option.» Das sind kämpferische Töne, dabei ist Kilchberg kein Hort von Aufruhr und Revolte. Unten am Zürichsee verströmt die Fabrik von Linth & Sprüngli Schokoladeduft, oben am Hang hat Literaturnobelpreisträger Thomas Mann seine letzte Ruhe gefunden. Dazwischen leben gut 7500 Einwohner ein gutsituiertes Leben. «Pfnüselküste» nennen Zürcher zwar diese Seeseite, weil sie weniger besonnt und weniger gut betucht ist als die «Goldküste» gegenüber, aber dennoch: Arbeitslosenund Sozialhilfequote liegen in Kilchberg deutlich unter dem kantonalen Durchschnitt, das steuerbare Einkommen massiv darüber. Eine bürgerliche

Gemeinde durch und durch – und dennoch unterstützen Hunderte von Einwohnern die Aktion «Hier zuhause». Vielleicht, weil Politik dabei gar nicht mal eine so grosse Rolle spielt: «Wir sind nicht politisch motiviert», sagt Isabelle Blümlein. «Uns geht es um diese bestens integrierte Familie. Wir halten es für unzumutbar, sie in einen Unrechtsstaat zurückzuschaffen.» «Man traf sie beim Grümpelturnier» Die Familie hat Tschetschenien vor gut vier Jahren verlassen. Ein Mann, eine schwangere Frau und drei Kinder auf der Flucht vor den Spezialein­ heiten des despotischen Präsidenten Kadyrow. Die Polizisten, so berichtete Familienvater Timur dem Staatssekretariat für Migration (SEM), hielten ihn für einen Sympathisanten der Rebellen. Sie hätten ihn während zehn ­Tagen in einem Keller gefoltert, um Auskünfte zu mutmasslichen Widerstandskämpfern aus ihm heraus­ zupressen. Immer wieder hätten bewaffnete Trupps danach das Haus der Familie aufgesucht, mitten in der Nacht, hätten getobt und gedroht.

In Kilchberg, wo die Behörden sie 2012 für die Dauer des Asylverfahrens unterbringen, lebt sich die Familie gut ein. Der heute 14-jährige Sohn und seine 11- und 10-jährigen Schwestern werden eingeschult, lernen schnell Deutsch. Sie sind beliebt bei Lehrern, Mitschülern und deren Eltern, finden leicht Freunde. Die Mutter kümmert sich um den Jüngsten, der in Horgen zur Welt kommt. Vater Timur geht derweil unaufgefordert dem Asylbeauftragten der Gemeinde zur Hand, hilft mit, Unterkünfte für neue Asylbewerber herzurichten, schleppt Möbel, räumt auf, entsorgt Müll. Eine Umzugs- und Reinigungsfirma will ihn einstellen, sobald das Asylverfahren abgeschlossen ist. «Die Familie war im Dorf immer sehr sichtbar», erinnert sich Francesca Bürgin. «Man traf sie beim Grümpelturnier, bei den Dorffesten, in der Badi.» An Schulanlässen seien die Eltern stets dabei gewesen, hätten sich inte­ ressiert gezeigt, sie seien aufgefallen durch ihre höfliche, hilfsbereite Art. Allen, die sie sahen, sagt Bürgin, sei klar gewesen: «Diese Leute wollen das


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Proteste bleiben oft wirkungslos Francesca Bürgin meldet sich sofort. «Hier zuhause» läuft an: Suche nach einem Anwalt, zweites Asylgesuch, ­Rekurs, Wiedererwägungsgesuch, Gang an die Öffentlichkeit. Dazu aber auch: moralische Unterstützung für die Familie, vor allem, als Vater Timur wegen der drohenden Ausweisung einen Zusammenbruch erleidet. So ­ seien die Leute im dörflich strukturierten Kilchberg eben, sagt Bürgin: «Die Menschen schauen zueinander.»

Fremde werden zu normalen Nachbarn, je besser man sie kennenlernt – bis man sich für ihr Wohl einzusetzen beginnt, wenn man dieses durch den Staat gefährdet sieht. Das passiert nicht nur in Kilchberg, sondern auch andernorts, immer wieder. In Bern hat sich das Komitee «Liberty for O.» gebildet, das mit Kundgebungen gegen die Ausschaffung eines 36-jährigen Nigerianers protestierte. In Zürich war bis Anfang Jahr das Komitee «Familie Nikitin bleibt» aktiv. Mit Veranstaltungen und einer Petition an die Kantonsregierung machten sich Hunderte für eine russische Familie stark. Dieser Fall zeigt aber auch den ­begrenzten Einfluss von Solidaritäts­ komitees: Die Familie – deren Vater 2011 geltend machte, er sei in Russland wegen seines politischen Engagements bedroht – wurde im Februar nach Russland zurückgeschafft, allen Bürgerprotesten zum Trotz. Die Solidaritätsbewegung ging damals von Lehrern aus, die Kinder aus der Familie unterrichteten; sie gewan-

nen die Unterstützung der Schule und der reformierten Kirchgemeinde, dann immer weitere Sympathisanten. Einer dieser Lehrer war Christoph Schneebeli. «Es war eine engagierte Familie», erinnert er sich. Die Eltern hätten Deutsch gelernt und sich für die Schule interessiert, hätten sich integrieren wollen. «Wir mochten sie und wollten, dass sie hierbleiben», sagt er. «Und vor allem spürten wir auch, welche Angst ihnen der Gedanke an eine Ausweisung machte.» «Es zehrt an den Nerven» Die Ausweisung erfolgte unangekündigt, die Familie war plötzlich weg, niemand konnte sich von ihr ver­ abschieden. Das habe vielen Unterstützern den Boden unter den Füssen weggezogen, sagt Schneebeli. «Es war zwar ein gutes Gefühl, mit den unterschiedlichsten Leuten für diese Familie zu kämpfen und diese grosse Solidarität zu spüren, aber es war auch ­eine belastende Zeit. Man hängt in so etwas emotional stark drin.» Gemerkt

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Beste für ihre Kinder – und sie wollen ernsthaft Teil unserer Gemeinschaft sein.» Als das SEM Ende 2013 das Asylgesuch ablehnt, beginnt diese Gemeinschaft, sich für sie einzusetzen. Lehrer schreiben den Ämtern, Primarschüler sammeln Unterschriften, um sie dem Gemeindepräsidenten zu überreichen. Als Isabelle Blümlein von ihrer Tochter, die mit einem der Flüchtlingsmädchen zur Schule geht, erfährt, wie es um die Familie steht, schreibt sie andere Eltern an.


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Linda (links) und Marha (rechts) sollen in der Schweiz bleiben dürfen. Das findet auch ihre Schweizer Freundin Melanie (Mitte).

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habe er das, als er einsehen musste, dass der Kampf verloren war: «Ich fiel in eine Art Schockstarre.» Auch die Unterstützer in Kilchberg sind emotional stark involviert. Sie sei ständig auf Draht, sagt Isabelle Blümlein. «Es zehrt an den Nerven, vor allem wenn man sieht, wie es der Familie jetzt geht: Der Vater retraumatisiert in der Klinik, die Mutter geht ohne unsere Begleitung nicht mehr aus dem Haus, die Kinder sind ängstlich geworden.» Francesca Bürgin pflichtet bei: «Es ist gerade eine strube Zeit.» «Hier zuhause» brachte das Schicksal der Flüchtlingsfamilie aufs politische Parkett: Die Kantonsregierung wird Stellung nehmen müssen, auch weil zum Zeitpunkt des Ausschaffungsversuchs beim Bundesverwaltungsgericht eine Beschwerde vorlag. Doch ob das Komitee es schafft, die Familie in Kilchberg zu behalten, ist offen. Gemäss Anwalt ist die Beschwerde hängig, vorläufig gilt ein Vollzugsstopp. Der Gerichtsentscheid kann jeden Moment fallen.

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Sounds

Der meistgespielte Unbekannte Martin Bezzola ist der Klangtüftler der Nation. Täglich ist er auf den Sendern von SRF zu hören. Trotzdem kennt ihn kaum jemand. Der Beobachter hat ihn gefunden. Text: Peter Johannes Meier und Mario Stauber Fotos: daniel winkler

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er Helfer auf dem Handy versagt: «Keine Treffer», meldet Shazam, die App, die fast jeden Song erkennt. Im Hintergrund läuft Hintergrundmusik. Genauer: Pausenmusik. Jeder, der am TV oder am Radio schon mal auf die nächste SRFSendung gewartet hat, kennt sie – ­d iese anregende, aber nie aufregende Soundcollage, ein chilliger Beat, eine dezente Melodie und immer wieder Geräusche. Einmal hört man einen Wasserfall, dann Steine, die eine Geröllhalde herunterdonnern, Turn­ schuhe quietschen auf einem Hallenboden. Alles dezent verwoben. Manchmal dauert der Track einige Sekunden, dann mehrere Minuten. Bis zur nächsten Sendung halt. Es muss das meistgespielte Stück der Schweiz sein. Seit 2007 erklingt es täglich x-fach auf mehreren Sendern. Wer hat es komponiert? Wo Shazam versagt, hilft Leutschenbach. «Sie suchen Martin Bezzola», weiss SRF. Der Weg zu Bezzola führt an die Zürcher Langstrasse. Dort, wo sie besonders hektisch und laut ist. In ein Bürohaus zwischen einer Bushaltestelle, wo Polizisten Junkies filzen, und einer Denner-Filiale, wo sich Prostituierte und Alkis eindecken.

«Stille ist teuer» Auf bescheidenen 30 Quadratmetern hat sich Bezzola eingerichtet. Mikro­ fone, Computer, Lautsprecher, ein schwarzer Flügel, eine alte Orgel. Und Stille. Welch ein Kontrast! Von der Strasse ist nichts mehr zu hören. «Stille ist teuer», sagt Bezzola. Er meint es wörtlich. Für viel Geld hat er Fenster, Wände und Decken isoliert. Nur so sind Liveaufnahmen ungestört möglich. Die Alternative wäre ein Keller. Aber wer will sein Arbeitsleben im Keller verbringen? Der 39-jährige Bezzola komponiert nicht einfach Pausen-

musik, er hat auch Dutzende Jingles für Radio- und TV-Sendungen gestaltet. Für den «Club» und für Nachrichtensendungen auf SRF 1 und SRF 4. Eine Anfrage bei der Suisa, die Urheberrechte von Musikern schützt, bestätigt die Vermutung: Bezzola ist der meistgespielte Schweizer Komponist. Seine Werke sind im zweiten Halbjahr 2014 17 Stunden lang von Radio- und TVStationen gespielt worden. Die Hits der fünf meistgespielten Schweizer Bands schafften es auf jeweils 13 Stunden. Reich ist er damit nicht geworden. «Für einen Jingle erhalten Komponisten nur einen Bruchteil der Tantiemen, die für einen Song fällig würden. Aber natürlich werde ich vom Auftraggeber für eine Komposition bezahlt.» Bezzo-

«Ich arbeite wie ein Grafiker, der mit Bildern und Layouts komponiert – einfach mit Sounds.» Martin Bezzola, Klanggestalter

la steht nicht im Rampenlicht, seine Musik kann nicht mal gekauft werden. Fuchst ihn das? «Ich bin so weit weg von dem Starkult-Ding, dass ich mir die Frage eigentlich gar nie gestellt habe.» Aber Feedbacks erhalte er schon, aus seinem Umfeld und von eingefleischten Radiofans, die einen neuen «Bezzola» sofort erkennen. Woran? Ein «Bezzola» besteht aus extrem vielen Schichten. «Ich lege Elemente übereinander, die für sich allein keinen besonders starken Charakter haben. Dadurch ergibt sich ein eigener Sound. Ich bin nicht der Mann der Melodien, für dieses ‹in your face›.» Gerade bei Jingles, die sehr oft gespielt werden, zahle sich das Subtilere, Vielschichtige aus. «Man kann sie sich hundertmal anhören und entdeckt immer wieder etwas Neues.» Qualitativ hochstehende Nachrichten- und Hintergrundsendungen hät-

ten es ohnehin nicht nötig, laut auf sich aufmerksam zu machen. Pathetische Bläsersätze, Gefiepse und Gedonnere würden auf die Dauer nerven. Auch Stimmen meidet Bezzola. Sou­ lige Gesänge und ganze Chöre, die einem den Sendernamen ins Ohr ­ schmettern, das überlässt er gern Privatsendern. Bezzola bindet Musiker in seine Kompositionen ein und sandte auch schon Soundscouts aus, die ihm aus­ sergewöhnliche Alltagsaufnahmen zurückbrachten. Und er fährt selber mit Mikrofonen in die Berge – wo der Zürcher mit Bündner Wurzeln herkommt. «Im Calancatal haben wir für das Radio den Berg bearbeitet, den Wald geschüttelt, Steine hinunter­ geworfen und einen Holzrechen über den Boden eines Maiensässes gezogen. Daraus entstehen Ideen, Skelette für neue Jingles.» Seine Leidenschaft sind Hörspiele Bei einem Jingle muss sich Bezzola auf wenige Sekunden beschränken. Immer mehr Ansprüche werden an solche Minikompositionen gestellt. «Jingles sollen einen Sender und spezifische Sendungen sofort akustisch identifizierbar machen. Darum müssen zum Beispiel bestimmte Tonfolgen in jedem Jingle vorkommen.» Bei SRF 1 dieses «Dudidudii». Bezzola hat eine Passion, die ihm etwas mehr Raum lässt: Hörspiele. «Ich mag es, mit Musik und Geräuschen Geschichten zu erzählen», sagt er. Damit hat er schon mehrere Preise gewonnen. «Ich arbeite wie ein Grafikdesigner, der mit Bildern und Layouts komponiert. Ich mache das einfach mit Sounds», sagt Bezzola, der bescheidene Rekordhalter.

Beobachter online Eine Auswahl an Stücken von Martin Bezzola hören Sie auf beobachter.ch/bezzola



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Autohilfe 24

Abkassieren statt abschleppen Die Firma Autohilfe 24 macht seit je auf unzimperliche Art Geld mit Parksündern. Neu verlangt sie über 400 Franken, auch wenn es gar nichts zum Abschleppen gibt. Text: Conny Schmid Foto: Flurin Bertschinger/Ex-Press

I

van Mihaljevic ist ein weit gereister Mann. Der gebürtige Kroate lebte viele Jahre in den USA, später in Deutschland, jetzt am Zürichsee. Doch was ihm an jenem Herbstabend in Zürich widerfuhr, hat er noch nie erlebt. Er wollte einen amerikanischen Freund abholen, der gerade in der Stadt zu Besuch war. Schräg gegenüber dessen Unterkunft stellte Mihaljevic seinen Wagen auf einem privaten Parkplatz ab. Er stieg aus und blieb ­neben dem Auto stehen, damit sein Freund ihn sehen würde. Plötzlich tauchte ein Mann auf, der sein Auto fotografierte, erzählt Mihaljevic. «Ich habe ihn gefragt, ob ich auf seinem Parkplatz stehe, habe mich entschuldigt und stieg sofort ein, um den Platz freizugeben. Doch der Typ sagte bloss, das sei ihm egal, er werde trotzdem etwas gegen mich unternehmen.» Im Rückspiegel sah Mihaljevic, wie der Fotograf noch ein Bild von ­h inten schoss und dann telefonierte. 470 Franken für eine «Leerfahrt» Einige Tage später fand er eine Rechnung im Briefkasten. Der Absender: die Autoabschleppfirma Autohilfe 24 aus Opfikon ZH. Kosten: 300 Franken für eine «Leerfahrt» plus 120 Franken «Administrations­gebühren» und 50 Franken «Wochenendzuschlag». «Ich konnte es nicht fassen. Ich stand ja neben dem Auto und wollte weg­ fahren. Der Abschleppdienst wurde gerufen, als ich schon nicht mehr auf dem Parkplatz stand», sagt Mihaljevic. Auf der Website der Firma fand er schnell heraus, weshalb der Fotograf so eifrig bei der Sache war: Die Autohilfe 24 verspricht jedem Auftraggeber eine «Umtriebsentschädigung» von 50 Franken. Das klingt vertraut. Der Beobachter hat schon vergangenes Jahr über die

«Ich stieg sofort ein und wollte den Platz freigeben.» Ivan Mihaljevic, Betroffener


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Methoden der Autohilfe 24 berichtet, schlossen ist und das Auto des Parkweil sie Autos von untervermieteten sünders mit einer Telefonnummer Parkplätzen des Sharing-Portals Parku ­beschriftet ist und dieser damit leicht abschleppte (Nr. 12/2014). Freunde des zu kontaktieren wäre. Derartige Erfahdamaligen Geschäftsführers sorgten rungen machten bislang vor allem die für immer neue Aufträge. Gäste der Pizzeria nebenan. Ein Mit­ Nun spart sich die Autohilfe 24 das arbeiter hat eines Tages einen Test Abschleppen offenbar in vielen Fällen ­gemacht und ist über den Parkplatz ganz – und verdient trotzdem daran. des Nachbarn gerollt. Der AbschleppEin Einzelfall ist Mihaljevic nämlich dienst sei nie gekommen, sagt er. nicht. Inzwischen haben weitere Be­Dafür die Rechnung: 300 Franken für troffene sogar eine Selbsthilfegruppe eine «Leerfahrt». gegründet (www.ig-selbsthilfe.ch). Autohilfe 24 bestreitet die Vorwürfe Eine der Initiantinnen ist Nicole Dieses Vorgehen entspricht nicht dem Lieberherr, ehemalige FDP-GemeinVerhältnismässigkeitsprinzip. Gemäss derätin aus Opfikon, die ebenfalls eine gängiger Rechtsauffassung darf ein Rechnung für eine Leerfahrt kassierte. privater ParkplatzbesitSie kennt zahlreiche zer fremde Fahrzeuge weitere Fälle, aus Zürich nur abschleppen lassen, und den umliegenden wenn er den Platz effeknördlichen Gemeinden. tiv benötigt. Und er muss «Die Autohilfe 24 wirbt zuerst versuchen, den aktiv bei Geschäftsinhafehlbaren Lenker aus­ bern mit der Provision, findig zu machen. Den die sie pro Auftrag beGourmetladenbesitzer zahlt», sagt sie. Der Clou «Umtriebsentschädigung» kümmert das nicht. Er bei der Sache: Normaverspricht Autohilfe 24 jedem Auftraggeber. begründet seine Haltung lerweise muss der Parkzunächst nachvollziehplatzbesitzer die Kosten bar gegenüber dem Beobachter, zieht fürs Abschleppen vorschiessen und dann aber sämtliche Aussagen zurück. danach beim Parksünder selber einStellung nimmt dagegen die Autotreiben. Die Autohilfe 24 übernimmt hilfe 24 – und bestreitet alle Vorwürfe. diesen Aufwand und lässt die FordeEs stimme nicht, dass man Leerfahrrung per Zession an sich abtreten. ten verrechne, die gar nicht stattfinIn der Zürcher Abschleppbranche ist den. «Es kommt aber leider häufig vor, das Usus. dass die Autohilfe 24 aufgeboten wird Eine äusserst teure Pizza in Oerlikon und der Falschparkierer während des Ein Angebot, das auch der Inhaber eiTelefonats wegfährt. Der Fahrer des nes Delikatessengeschäfts beim BahnAbschleppdienstes ist dann bereits hof Oerlikon für den Parkplatz vor seiunterwegs», sagt der Rechtsberater der nem Laden nutzt. Eine Video­kamera, Autohilfe 24, Alexandre Touihri von die dem Einbruchschutz dient, liefert der Studentconsulting AG. Auch dass auch Bilder von jedem Auto, das auf ohne Not abgeschleppt werde, lässt er den Parkplatz fährt, und meldet das nicht gelten. «Die Autohilfe 24 handelt dem Ladenbesitzer per SMS. Falschim Auftrag der Parkplatzinhaber. Es ist parkierer werden sofort abgeschleppt an ihnen, die Verhältnismässigkeit ab– selbst dann, wenn das Geschäft gezuschätzen, bevor sie den Abschlepp-

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dienst rufen. Sie werden sogar darauf aufmerksam gemacht.» Die Umtriebsentschädigung sei nicht als Ermunterung zu verstehen: «Die Autohilfe 24 bezahlt diese nur an Vertragskunden und auch nur dann, wenn der Falschparkierer die Rechnung anstandslos bezahlt. Sobald Mahnungen verschickt werden müssen, wird der Rechtsdienst aktiv, was Kosten verursacht. Folglich erhält der Auftraggeber keine Entschädigung.» Effektiv bezahlt werde sie nur in etwa sieben Prozent der Fälle. Auf ihrer Website wirbt die Autohilfe 24 allerdings mit der Umtriebsentschädigung ohne Hinweise darauf, dass es sich ­dabei um eine Art Rabatt für gute Kunden handelt. Sie verspricht 50 Franken für jedes abgeschleppte Auto. «Die Website wird noch angepasst», sagt dazu Rechtsberater Touihri. «Die Rechtslage ist schwammig» Was heisst all das nun für die Parksünder? Wer mit der Rechnung des Abschleppdienstes nicht einverstanden ist, sollte es darauf ankommen lassen und sie nicht begleichen, rät Beobachter-Experte Daniel Leiser. Dem Beobachter sind mehrere Fälle bekannt, in denen sich Betroffene betreiben lies­ sen, Rechtsvorschlag machten und vor dem Friedensrichter einen Vergleich erzielten. Sie mussten lediglich ihren Teil der Verfahrenskosten bezahlen, weil das Aufbieten des Abschleppdienstes unverhältnismässig war. Eine Garantie, dass man ungeschoren davonkommt, gibt es allerdings nicht. «Die Rechtslage ist schwammig», sagt Leiser. «Es gibt auch Juristen, die finden, ein Parkplatzbesitzer dürfe in jedem Fall und sofort abschleppen lassen.» Wer als Autofahrer seine Ruhe haben will, sollte deshalb vor allem eines beachten: nicht auf fremdem Privatgrund parkieren.

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36 Augenzeuge

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«Ich gehöre zu den Guten» Patrick Brielmayer dringt in Computersysteme ein und sucht Sicherheitslücken. Nun misst er sich in Luzern mit einigen der besten der «guten» Hacker Europas. Aufgezeichnet von Claudia Imfeld Foto: Basil Stücheli

Oft werde ich gefragt, ob es möglich ist, private Computer zu knacken. Nach einem solchen Gespräch geben mir manche ihre E-MailAdresse nicht mehr. Sie haben Angst, denken vermutlich an irgendwelche Hollywoodfilme. Doch da sind in der Regel Black Hats am Werk. So nennen wir die Hacker, die illegal in Systeme eindringen, um an Geld zu gelangen oder einfach Schaden anzurichten. Ich gehöre zu den White Hats, den guten Hackern. Unsere Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass die bösen Hacker keinen Schaden anrichten. Über uns liest man in den Medien nie etwas, denn unsere Arbeit ist dann erfolgreich, wenn eben nichts passiert. Ich habe mich schon als Teenager für Cyber-Sicherheit interessiert. Es begann, als jemand mein Ebay-Konto knackte. Die Masche der Hacker: Sie suchten sich Leute, die auf der Verkaufsplattform eine gute Bewertung hatten; so gaben sie sich ein vertrauenswürdiges Gesicht. Unter meinem Namen verkauften sie irgendwelche Produkte. Das einbezahlte Geld lan­ dete nicht auf meinem Konto, sondern im Ausland. Und die Käufer erhielten die bezahlten Produkte natürlich nie. So legt man eine grosse Firma lahm Nach diesem Vorfall wollte ich lernen, wie ich mich schützen kann. Ich sah mir im Netz Hackervideos an und las Bücher zum Thema. Während meines Studiums in Software Engineering erhielt ich einen tieferen Einblick in das, was hacktechnisch alles machbar ist. Wenn die Leute das alles wüssten, würden sie ihren Computer wohl nie mehr ans Netz anhängen. Inzwischen habe ich mein Hobby zum Beruf gemacht. Ich prüfe bei einer

Bank Systeme auf ihre Sicherheit. Als IT-Sicherheitsexperte kann man sich auf Websites spezialisieren, auf die Verschlüsselung von Daten oder etwa auf die Sicherheit mobiler Applikationen. Bei Apps geht es darum, dass das System kundenspezifische Daten nur herausrückt, wenn der App-Nutzer berechtigt ist, sie zu sehen. Ich bin immer wieder schockiert, wie einfach es ist, grosse Firmen lahmzulegen. Etwa der Angriff auf den Online-Bezahldienst Paypal vor einigen Jahren: Da animierte eine Hackergruppe Leute, beim Angriff mitzumachen. Jeder konnte sich ein Programm auf den Computer laden, das dann Tausende Anfragen pro Sekunde an den Paypal-Server versandte. Mit verheerenden Folgen: Die Firma konnte für einige Stunden keine Zahlungen verarbeiten und war über den Browser nicht mehr zu erreichen. Klar ist aber auch, dass sich Sicherheitslücken schnell einschleichen können: Es reicht, beim Programmieren einer Web-Anwendung einen Apostroph in einer Datenbankabfrage zu vergessen, und Millionen von Kundendaten können potenziell gestohlen werden. Manchmal verkaufen Hacker die Daten oder veröffentlichen sie – wie jüngst beim Seitensprung-Portal Ashley Madison. Daraufhin nahmen sich einige Nutzer das Leben. Um solche Angriffe zu verhindern, braucht es mehr White Hats – eben mehr von den guten. Vereine wie Swiss Cyber Storm betreiben Nachwuchsförderung, um mehr junge Leute für diesen Bereich zu begeistern. Mit einigen sehr guten jungen Hackern werde ich am Europa-Finale des dritten Cyber Security Challenge in Luzern teilnehmen, einem Hacking-Wettbewerb. Wir treten als Zehnerteam gegen Gruppen aus Deutschland, Grossbritannien, Österreich, Rumänien und Spanien

an. Einerseits müssen wir im Com­ putersystem Sicherheitslücken finden, anderseits auf unserem Server lückenhafte Applikationen gegen Angriffe verteidigen. Da muss man gut im Hacken sein und gut im Team arbeiten. Als Training treffen wir uns derzeit jeden Abend auf einer virtuellen Plattform und lösen Fälle, die einer der Organisatoren des Wettbewerbs bereitstellt. Hackern geht die Arbeit nicht aus Viele Leute wissen zu wenig über ITSicherheit. Sie verwenden leicht zu erratende Passwörter und oft dasselbe Passwort für alle Onlinedienste. Sie wählen sich in unverschlüsselte WLAN-Systeme ein oder antworten auf E-Mails, die sie nach ihrem Passwort fragen. Natürlich nutze auch ich Facebook und Whatsapp. Auf diesen Kanälen stört es mich nicht, wenn Externe mithören oder mitlesen können. Aber ich trage in den Profilen nie meine vollständigen Daten ein. All die neuen drahtlosen Verbindungen bieten neue Angriffspunkte für Hacker. Der Chaos Computer Club, ein Zusammenschluss von Hackern, testete, wie einfach es ist, Geld von einer Kreditkarte, mit der man kontaktlos bezahlen kann, abzubuchen. Dazu hielten sie auf der Strasse ein Gerät an Portemonnaies in den Hosentaschen der Passanten und waren in der Lage, die Karten zu kopieren. Von der iden­ tischen Kreditkarte liessen sich ohne PIN-Code bis zu 20 Franken abbuchen. Uns guten Hackern wird die Arbeit nicht ausgehen: Ein böser Hacker muss nur eine einzige Lücke finden, während wir dafür sorgen müssen, dass das ganze System dicht ist. Es ist halt einfacher, etwas kaputtzumachen, als etwas lückenlos aufzubauen. Internet: Wie schützen Sie Ihre Daten? Tipps und Tricks unter www.beobachter.ch/hacker


«Wenn die Leute wüssten, was technisch möglich ist, würden sie ihren Computer wohl nie mehr ans Netz hängen.» Patrick Brielmayer, 26, Experte für IT-Sicherheit


38 Nachlese

Beobachter 21/2015

Die Schnapstorte als Adresse Zug ist so stolz auf seine Kirschtorte, dass die Stadt ihr einen Platz widmen möchte. Das ist einfacher gesagt als getan. as Jahr begann gut für die Zuger Kirschtorte. Genau ein ­ Jahrhundert nachdem in Zug die «Conditorei u. Caffee H. Höhn» 1915 erstmals ein Inserat für das so­ eben erfundene Gebäck drucken liess, erhob das Bundesamt für Landwirt­ schaft die Torte diesen Frühling in den kulinarischen Adelsstand: Es nahm sie auf ins Register der Ursprungs­ bezeichnungen und geografischen Angaben. Seither ist die schnaps­ getränkte Torte geschützt, genau wie das Bündnerfleisch oder das Walliser Roggenbrot. Das passiert nicht allen Lebensmitteln, entsprechend freuts die lokalen Konditoren.

«Sprachlich gesehen ein Ungetüm» Manche von ihnen hätten es aller­ dings gern gesehen, wenn die Torte nicht nur geschützt, sondern auch im Stadtbild präsenter würde – indem nämlich die nördliche Ecke des Drei­ spitzplatzes offiziell den Namen

Kirschtortenplatz erhielte. Doch damit hapert es. Nach der Stadtregierung hat un­ längst zwar auch der Kanton die Bezeichnung durch­ gewinkt. Nun muss sich noch das Verwaltungs­ gericht damit befassen: Ein Anwalt, dessen Liegenschaft an den Platz grenzt, wehrt sich mit Händen und Füssen gegen den neuen Namen. Der Wurm war freilich schon frü­ her drin. Zu Beginn wollte die Stadt den Platz «Zuger-Kirschtorten-Platz» nennen, doch hier schritt die Nomen­ klaturkommission ein. Sie – deren Be­ zeichnung auch nicht ganz ohne Zun­ genbrecherqualität ist – bemängelte, die Bezeichnung sei «sprachlich gese­ hen ein Wort-Ungetüm mit sechs Sil­ ben» und damit eine «eigentliche Tot­ geburt». Zudem, merkte sie an, wach­ se auf dem Asphaltplatz weit und breit kein Kirschbaum. Die Stadt lenkte ein. Liess zwar keine Bäume setzen, ver­ schlankte das «Wort-Ungetüm» aber

zum «Kirschtortenplatz». Doch dann trat besagter An­ walt auf den Plan. Er erhob Einsprache, weil der Name für fremdsprachige Men­ schen nicht aussprechbar sei und sich die Stadt damit «zum Gespött» mache: «Der Stadtrat will einen Platz nach einem Produkt be­ nennen, das mit einem gebrannten hochprozentigen Wasser getränkt ist», höhnte er in seiner Eingabe. Für seine Kanzlei und eine Arztpraxis im selben Gebäude sei es indes «unzumutbar, an einer Adresse domiziliert zu sein, die auf ein Alkoholprodukt hinweist». Stadt und Kanton haben kein Ge­ hör für diese Einwände; wie das Ge­ richt urteilt, ist offen. Womöglich schaut es sich in Deutschland punkto Zumutbarkeit von Namen von Stras­ sen und Plätzen um. In Regensburg gibt es eine Fröhliche-Türken-Strasse. Und in Lüneburg trägt eine Strasse den Namen «Auf dem Meere» – sie mündet direkt in die «Neue Sülze».

«Neue Luzerner Zeitung», 15. September 2015

Künftig der «Kirschtortenplatz»? Ein Anwohner wehrt sich juristisch gegen den «unzumutbaren» Namen.

Fotos: Werner Schelbert/«Neue Zuger Zeitung», Ron Sumners/fotolia

D

Text: Markus Föhn


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Ist er der Grossvater? Luigi «Alois» Angeli und Helene Büchler in den zwanziger Jahren

Familiengeschichte

Der Päpu Wer war mein Grossvater? Eine Suche nach den Wurzeln in einer Familie, deren Geschichte bloss aus ein paar kurzen Episoden besteht.


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Beobachter 21/2015

Text: Thomas Angeli FOTOS: THOMAS ANGELI UND Manuel Zingg

A

ls meine Welt noch klein und überschaubar war, gab es einen Satz, der meine Herkunft ausreichend erklärte. «Der Jost Fritz ist mein Grossvater», pflegte ich zu sagen, wenn mich jemand fragte, «von wem» ich denn sei. Damit war alles klar, denn den Jost Fritz kannte man in Frutigen, Berner Oberland: Schlosser, Unternehmer, ehemaliger Gemeinderat, Pfeifenraucher, seit mehreren Generationen im Dorf ansässig. Meine Mutter war mit ihren vier Schwestern «ä Jost». Die Familie, zusammengehalten von Grossmutter Hedi, gehörte ins Dorf, und ich gehörte dazu. Und mein Vater, der Angeheiratete, gehörte ebenfalls dazu. Der Clan war Drehund Angelpunkt meines Seins. Hier hatte ich meine Wurzeln. Auf der anderen Seite meiner Familie, der väterlichen, war das Dazugehören nie ganz klar. Die Familien­ geschichte war ein Flickenteppich aus blumigen Episoden, einst Gehörtem und vagen Erinnerungen. Der italienische Name liess mehr Fragen offen, als Hinweis auf Wurzeln im Süden zu liefern. Ich war zu jung zum Fragen, und was ich mitbekam, reichte mir als Familien­ geschichte.

nem Franken und 70 Rappen. Der Va­ ter ist unbekannt, das Kind somit «il­ leg.», ungesetzlich, wie es in den Akten heisst. Über die Vaterschaft kommt es zum Prozess. Frieda Büchler, Servier­ tochter im Restaurant Stadtkeller am

Rolf, das ist mein Vater. Das Unwissen, wer sein leiblicher Vater ist, hat ihn jahrzehntelang wie ein unsichtbarer Schatten begleitet. Central, bezeichnet den Maurer E. als Vater und klagt ihn ein. Nicht weniger als 13 Zeuginnen und Zeugen werden vom Bezirksgericht Zürich angehört, bis die drei Richter schliesslich die Kla­ ge abweisen. Der «unzüchtige Lebens­ wandel» der Klägerin ist ein entschei­

Auf Spurensuche: Am 29. November Vater Rolf Angeli, 1936 um 12.10 Uhr Sohn Thomas Angeli bringt Frieda Büch­ ler, geschiedene Frey, deutsche Reichsangehörige, in der kantonalen Frauenklinik in Zürich einen Sohn zur Welt. Rolf ist alles andere als ein Wunschkind, und noch am Tag, an dem seine Mutter aus dem Spi­ tal entlassen wird, bekommt der Bub einen Amtsvormund und ein Bettchen im städtischen Jugend­ heim Florhofgasse, «wegen gänz­ licher Mittellosigkeit der Kdsm. und Obdachlosigkeit des Kindes». Die Amtsvormundschaft bewilligt War Luigi der die täglichen Pflegekosten von ei­ «Päpu»? Stamm -

baum der Familie Angeli-Büchler

dender Grund für die Abweisung, schliesslich kommen während des Ver­ fahrens noch andere Männer zum Vor­ schein: ein Bäcker, ein Musiker, ein Gymnasiallehrer, ein «Russe» und ein Unbekannter, der von einem Zeugen dabei beobachtet wird, wie er in Frieda Büchlers Mansarde ein Lavabo ab­ schraubt. Über den Buben schreibt der Amtsvormund in seinen Berichten kaum etwas. Rolf, das ist mein Vater. Das Unwissen, wer sein leiblicher Vater ist, hat ihn jahrzehntelang wie ein unsichtbarer Schatten begleitet. Eine Generation später, als ich älter wurde und mir ­eine Familienhälfte nicht mehr ausreichte, um mich mir selber zu erklären, holte mich dieser Schatten ebenfalls ein. Es war kein schwerer, dunkler Schatten, mehr eine kleine Wolke, die manchmal – selten – auftauchte und dann wieder verschwand. Ich liebte den Mann, den ich als «Grosspapa Alois» kannte. Aber ich ­hätte verdammt gern gewusst, wer mein wirklicher Grossvater väterlicherseits war. Ich bin nun 50 Jahre alt, mein Vater wird demnächst 79. Wenn die Lücken in seiner – unserer – Biografie überhaupt noch zu füllen sind, dann jetzt. Am 13. November 1937 kommt Rolf Büchler zu Tante Helene Angeli, geborene Büchler, ih­ rem Mann Alois und deren Tochter Yvonne nach Bern an die Chutzenstrasse 17. Ob ­ das Arrangement von Dauer ist, weiss nie­ mand, denn Frieda Büchler, die «deutsche Reichsange­ hörige», darf nur «auf Zusehen und Wohlverhalten hin» in der Schweiz bleiben. Würde sie aus­ gewiesen, müsste ihr Sohn mit ihr nach Deutschland. Dem Buben, der zum ersten Mal so etwas wie ein Zuhause hat, ist das egal. Rolf nennt seine Pflegeeltern schon bald «Mama» und «Papa». Seine leibliche Mutter lernt er als «ds Gotte Friedi» kennen.


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Wir treffen uns an einem Morgen Anfang September in Zollikofen, Reichenbachstrasse 14. Hier hat die Familie Alois und Helene AngeliBüchler nach ihrem Umzug von Bern fast vier Jahrzehnte gelebt. Für meinen Vater ist es «das Elternhaus», für mich bloss eine vage ­Erinnerung an unendliche Kindheitsnachmittage in einem dunklen Wohnzimmer, in dem «MaBÜRGLEN ma» und «Papa» einmal im Jahr Semmelknödel servierten. Die seien eine Spezialität von Nonna Marie gewesen, der Urgrosslebenden Angelis mutter Angeli, wurde uns Kindern aus der Generation meines Vaters, ­gesagt, ein Gericht aus Südtirol, denn mit denen ich in den Wochen zuvor dort sei die Familie hergekommen. gesprochen habe, kannten höchstens Nonno Angelo, der Urgrossvater, sei Bruchstücke, unscharfe Erinnerunals Ingenieur am Bau der Klausengen an etwas, das in der Familie niepassstrasse beteiligt gewesen, später manden zu interessieren schien. Seine habe er an der Wasserversorgung der Mutter sei vermutlich in Bürglen UR Stadt Bern mitgearbeitet. geboren, sagte einer, ein anderer verWir haben nur solch spärliche Inortete die Familie im Thurgau. formationen, als wir uns von der Reichenbachstrasse aufmachen, unsere Mama, das merkt der Bub bald, mag Wurzeln zu suchen. Die wenigen noch ihn nicht besonders. Papa hingegen

nimmt ihn oft in Schutz. Regel­ mässig muss sich der Bub bei der deutschen Botschaft mel­ den. Wenn er zu Hause nicht pariert, droht ihm Mama auch schon mal, ihn zu seiner leib­ lichen Mutter – Frieda – zurück­ zubringen. Kaum 20 geworden, lässt der junge Mann sich ein­ bürgern und erhält den Heimat­ ort Zollikofen. Ein paar Wochen danach, am 11. Januar 1957, ge­ nehmigt der Regierungsrat des Kantons Bern seinen Namens­ wechsel. Rolf Büchler heisst nun offiziell Rolf Angeli. Mein Vater ist als Rolf Angeli aufgewachsen, selbst wenn er offiziell anders hiess. Ich bin ein geborener Angeli, obschon mein Vater bei seiner Geburt einen anderen Namen trug. Wir kommen vom Namen Angeli nicht weg, er gehört zu uns. Also fahren wir los Richtung Innerschweiz, auf der ­Suche nach Puzzlesteinen einer Familiengeschichte, von der wir mehr ver-

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Beobachter 21/2015

muten als wissen, dass sie etwas mit uns zu tun hat. In Südtirol, stelle ich mir vor, werden wir fündig werden. In einem kleinen Ort in den Bergen werden wir uns durch enge Gassen durchfragen, bis wir vor dem Haus stehen, von dem aus einst die Angelis Richtung Schweiz aufgebrochen sind. Und wir werden merken, wenn wir vor dem richtigen Haus stehen. Wer nur wenig über seine Geschichte weiss, kann sich eine erfinden. Ich war mit meinen Fantasien weit weg von der Realität. Und näher dran, als ich dachte. Bürglen im Kanton Uri Im Taufbuch der katholischen Kirchgemeinde von Bürglen finden wir die ersten Spuren der Angelis: Drei Kinder von Angelo Angeli und Marie Angeli, geborene Reiss, sind hier um die vorletzte Jahrhundertwende zur Welt gekommen. Hinter ihren Namen steht «leg.», für «legitimus», sprich: von verheirateten Eltern

geboren. Das ist Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr so selbstverständlich im katholischen Bürglen. Es ist die Zeit der grossen Baustelle am Klausenpass und damit der zahlreichen Gastarbeiter, die allein den Baustellen hinterherziehen. Viele von ihnen kommen aus der Gegend von Trento, das damals noch ganz offiziell auch Trient heisst und im riesigen Reich Österreich-Ungarn zu Tirol gezählt wird.

Angelo Angeli zieht als einer der wenigen mit seiner gesamten Familie ins Dorf am Ausgang des Schächentals. Der italienische Familienname sticht hervor im Taufbuch. Am Ende des 19. Jahrhunderts heisst man in Bürglen Gisler, Planzer oder Arnold, aber nicht Angeli. Und man ist gebürtiger Bürgler oder zumindest Urner und stammt nicht aus Tirol. Die Einwanderer wohnen abseits des Dorfs, in der Brästenegg. Dort steht heute noch ein einziges Haus, das aus der Zeit meiner Urgross­ eltern stammen könnte. Die Schindelfassade hat schon bessere Zeiten gesehen, und das Dach könnte wieder einmal eine Reparatur vertragen. «Das könnte das Haus gewesen sein», sagt mein Vater nach einer Weile. Eine Familiengeschichte besteht nicht bloss aus Fakten. Manchmal muss es reichen, dass etwas so gewesen sein könnte, wie man es sich gern vorstellen möchte.

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Beobachter 21/2015

Auf dem Klausenpass Wir fahren den Klausen hoch, eine ­enge, urtümliche Passstrasse, die sich in engen Kehren von Bürglen aus hoch über das Schächtental windet. Die Leitplanken sind an manchen Stellen so dünn, dass man sich lieber nicht vorstellt, was bei einem Unfall geschehen würde. Hier irgendwo, so ­erfahren wir später im Landesarchiv in Glarus, muss Urgrossvater Angelo Angeli gearbeitet haben. In der «Fremdenkontrolle 1878–1898» sind bei Angelo als Arbeitgeber die «Gebrüder Trotter» vermerkt, und diese hatten auf beiden Seiten des Passes Baulose ergattert. Die Arbeitsbedingungen sind hart für die Hundertschaften Arbeiter aus Tirol. Die Unternehmer haben ob der grossen Konkurrenz zu knapp kalkuliert und sind wahnwitzige Angebote eingegangen. Zu leiCAVALESE den haben die Angestellten. Deren Löhne wurden von manchen Firmen nicht vollständig in bar ausbezahlt, sondern mussten in Naturalien aus «Lebensmittelmagazinen mit sehr hohen Preisen» bezogen werden, wie es in einer Schrift aus dem Jahr 1900 heisst. Die Unternehmer hätten so versucht, «einen Teil des Abgebots herauszuschlagen». Ob die Familie von Angelo und Marie Angeli auch darunter geCAVALESE litten hat? Klar ist: Angelo war nicht der wichtige Ingenieur, der in der Familienlegende herumNoch eine Überraschung: geistert. Als Beruf steht im FremdenHiess der Mann, den kontrollregister schlicht «Schreiber». Familienforschung kann gelegentlich ich als Grosspapa Alois auch einmal einen kleinen Mythos kannte, eigentlich Luigi? zerstören. Urnerboden In der Kirche auf dem Urnerboden zündet mein Vater eine Kerze an. «Für ä Päpu», sagt er auf meinen verwunderten Blick: «Obschon der gesagt hätte, das sei schade ums Geld.» Päpu – der Mann, den ich als Grosspapa Alois kannte – ist nicht weit von hier zur Welt gekommen. Wir finden ihn im Taufregister von Linthal, wenn auch nicht unter diesem Namen. Statt Alois steht unter seinem Geburtsdatum in schönster Sütterlinschrift der Name Luigi. Familiengeschichten, so scheint es, können Überraschungen bergen.

«Dr Päpu» – Luigi «Alois» Angeli – ist es, der sich für das Verbleiben seiner Schwägerin Frieda und ihres Sohns in der Schweiz einsetzt. «Mit Eingabe vom 5. und 22. Oktober 1937 stellen Frau Frey [Büchler] und ihr Schwager das Gesuch um Wiedererwägung der Aus­ weisung und Suspendierung auf Zuse­ hen hin, indem sie auf die langjährige Landesanwesenheit der Ausgewiesenen hinweisen», heisst es in einer Verfügung der «Direktion der Polizei des Kantons Zürich» vom 29. Januar 1938. Alois ­Angeli, gelernter Schlosser, als Sanitär­ installateur tätig und kein Mann des

geschriebenen Worts, verfasst also in seinem 42. Lebensjahr plötzlich Briefe zugunsten seiner Schwägerin. Jahrzehnte nachdem der Satz in der Verfügung auftauchte, stellt eine Freundin von Pflegesohn Rolf die Frage in den Raum: Wäre es denn möglich, dass «dr Päpu» auch der leibliche Vater meines Vaters ist? Bludenz in Vorarlberg «Ihr müsst nach Bludenz, ich glaube, dort waren sie mal.» Es ist bloss ein Satz, eine weitere Vermutung, die meine Cousine ein paar Tage vor unserer Abreise geäussert hat. Also fahren wir weiter Richtung Vorarlberg. Dass es die Familie hierher verschlagen hat, ist kein Zufall. In Bludenz leben noch heute zahlreiche Nachkommen von Einwanderern aus dem Trentino. Die Provinz südlich von Südtirol war im 19. Jahrhundert bitterarm, und jenseits der Alpen gab es Arbeit: Der Bau der Eisenbahn in Vorarlberg lockte Tausende von Arbeitern in die Gegend, und auch Spinnereien in der Umgebung von Bludenz boten ein Auskommen für verarmte Trentiner Familien. Heute würde man sie als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen. Ururgrossvater Agostino Angeli, Angelos Vater, war in den 1860er Jahren Gerichtsdiener im Vielvölkerstaat


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Österreich-Ungarn, und er sprach auch Italienisch. Ums Jahr 1885 herum wurden seine Dienste offenbar im deutschsprachigen Vorarlberg gebraucht, und so zog er mit Frau und Söhnen, darunter meinem Urgross­ vater Angelo, nach Bludenz. Am zweiten Tag unserer Reise stehen wir plötzlich vor einem Haus in Bludenz. Im Stadtarchiv haben wir zuvor ein ganzes Bündel mit Meldekarten von Angelis gefunden: Ururgrossmutter Maria, «Gerichtsdieners Frau», und Söhne: August, Luigi, Emil – allesamt Urgrossonkel von mir, alle wohnhaft an der Mokrystrasse 13 gleich hinter dem Bahnhof, samt Familien und scharenweise Kindern. Und alle diese Urgrossonkel sind am selben Ort geboren: in Cavalese, in der heute italienischen Provinz Trentino. Cavalese in der Provinz Trentino «Angeli? Non sono di qua.» Mit der Auskunft, mit der uns die nette Signora Bonelli in der katholischen Kirch­ gemeinde Santa Maria Assunta in Cavalese empfängt, haben wir nicht gerechnet. Die Angelis sollen gar nicht aus Cavalese stammen? Wir insistieren, und Signora Bonelli greift zum Taufregister. Mit zwei Griffen hat sie den richtigen Band gefunden, mit dreimal Umblättern ist sie bei Angelo Angeli angelangt. Geboren am 4. 12. 1866 in Cavalese, Sohn des Agostino Angeli und der Maria, geborene Clauser. Ecco. Wir bekommen eine handgeschriebene Bestätigung samt Unterschrift und Stempel. Aber eben: «Trasferito di Malè», steht da neben dem Namen von Ur­ urgrossvater Agostino: «Versetzt aus Malè». Die Familie stammt nicht aus Cavalese, wir sind noch nicht am Ziel. Alle Laste über der Stadt Trento Am späten Abend des Vortags habe ich im Hotel eine Mail erhalten von einem Familienforscher aus Vorarlberg: «Ehe des Angeli Angelo in Bludenz am 10. 05. 1894 mit Maria Reiss, geb. 21. 03. 1864 in Alle Laste […] Die Eltern der Maria Reiss sind nicht bekannt, sie war ein uneheliches Kind.» Alle Laste liegt ein paar enge Kurven hoch über der Stadt Trento. Eine Bushaltestelle vor der Kirche, ein Anbau mit grosser verschlossener Tür. Auf mein Klingeln öffnet ein freund­

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licher Herr, der uns erklärt, dass sich hier nun ein Karmeliterkloster be­ finde. Stimmt, im 19. Jahrhundert sei hier einmal ein Kinderheim gewesen. Und es kämen immer wieder Leute, die nach den «bambini abbandonati» fragten, den ausgesetzten Kindern von damals. Es ist, als schlösse sich ein Kreis. Wie hiess es doch in der Akte meines Vaters: «wegen gänzlicher Mittel­ losigkeit der Kdsm. und Obdachlosig­ keit des Kindes». Und zwei Genera­ tionen und 62 Jahre zuvor soll seine Grossmutter – «Nonna» – Marie Reiss das gleiche Schicksal erfahren ha­ ben? Geboren als uneheliches Kind zu einer Zeit und in einer Gegend, wo die Not so gross war, dass Fami­ lien ihre Kinder oftmals ins Waisen­ haus gaben, weil es für eins mehr am Tisch einfach nicht reichte. Wir schlucken leer.

Rolf Angeli, geb. Büchler, am Grab seiner Mutter Frieda in Zorten GR

Alois, der leibliche Vater? Jahre nach dem Tod von «Papa» berichtet Rolf Angeli seiner acht Jahre älteren Pflegeschwester davon, dem ehelichen Kind von Alois und Helene Angeli. Sie stockt – und nimmt ihn dann in die Arme. Sie erinnert sich plötzlich an Begebenheiten, Details und Stimmungen, die diese Vermutung stützen. Dass FRIEDHOF MALÈ «dr Päpu» in ihrer Kindheit gelegentlich mal «uf Züri use» musste. Dass er den kleinen Rolf immer Warum hat sie zeitlebens wieder verteidigte. Dass er sich wehrte, behauptet, sie habe bis die Wände zitterten, als Frieda, mittlerweile wieder verheiratet, den keine Kinder – trotz Buben zu sich holen wollte.

ihrem leiblichen Sohn?

Malè, Provinz Trentino Noch ein kleines italienisches Städt­ chen: Malè im Val di Sole, Provinz Trentino. Auf dem Friedhof finden wir eine Dorothea Angeli, geboren 1843. Es regnet. «Vielleicht war das eine Schwester meines Urgrossvaters», sagt mein Vater. «Schreib das doch so, vielleicht stimmt es ja.» Familien­ geschichte ist immer auch das, was man sich einzubilden bereit ist. Zorten bei Lenzerheide GR «Frieda Albrecht-Büchler 1906–1999» steht auf dem Grabstein in Zorten, hoch über dem Domleschg, der letz­ ten Station unserer Reise. Sie war mei­ ne Grossmutter, und trotzdem stehe ich 16 Jahre nach ihrem Tod zum ers­

ten Mal an ihrem Grab. Ich war nicht an ihrer Beerdigung, und ich weiss nicht einmal mehr, warum ich fern­ blieb. Sie war für mich «ds Friedi», und die wenigen Male, die sie in mei­ ner Kindheit bei uns zu Besuch war, lag eine unangenehme Spannung in der Luft. Heute wüsste ich gern so viel von ihr: wie das war, mit einem Säug­ ling und einem drohenden Landes­ verweis, ohne Geld. Wie es weiterging, wie sie die behördlich geforderte Norm des «Wohlverhaltens» erreichte. Weshalb sie trotz einem leiblichen Sohn zeitlebens behauptete, keine Kinder zu haben. Und, ja, ich würde sie fragen, wer mein leiblicher Gross­ vater war. Denn darüber hat sie bis zu

ihrem Tod geschwiegen, stur und eisern. Doch eigentlich kenne ich ihn. Manchmal, wenn mein Vater schläft, sehe ich Grosspapa Alois vor mir, wie er in meiner Kind­ heit bei uns zu Hause auf dem ­Sofa lag. Dann weiss ich genau, dass er mein leiblicher Grossvater war. Und dass eine Familien­ geschichte nicht nur aus Einträ­ gen in alten Registern besteht, sondern auch aus Legenden, mit de­ nen man in Frieden leben kann. Bieno, Provinz Trentino Wochen nach dem Besuch in Alle Las­ te erhalte ich Post aus dem Provinz­ archiv Trento. Es ist der Geburtsregis­ terauszug meiner Urgrossmutter Ma­ rie Reiss. Geboren am 21. März 1864, Eltern unbekannt. Nur den Namen hat die Mutter dem Säugling mitgegeben. «Desiderato delle madre» – von der Mutter so gewünscht –, heisst es in der entsprechenden Spalte. Im Alter von vier Tagen wird die kleine Marie bei der Witwe Domenica Melchiori in Bieno, Provinz Trentino, zur Pflege gegeben. Ich suche im Inter­ net Bilder vom Ort. Er liegt in den Ber­ gen, und er hat enge Strässchen. Wir müssten uns bloss noch durchfragen zum Haus, wo einst die Witwe Mel­ chiori mit ihrer Pflegetochter wohnte, und meiner Vorstellung von den Wur­ zeln in Tirol wäre Genüge getan.


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Beobachter 21/2015

Der Fall

Die Geburt in der Tiefgarage Ein Kind soll in der Privatklinik Hirslanden zur Welt kommen. Das tut es auch, allerdings in der Tiefgarage. Die Sache lässt die Eltern auch zwei Jahre später nicht los.

Text: Stephan Hille Illustrationen: Andreas Gefe

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n der Tiefgarage der Zürcher Klinik Hirslanden hängt ein Plakat mit folgendem Text: «IM NOTFALL FÜR SIE DA. 24 Stunden – 365 Tage.» Federico Baici packt noch heute die Wut, wenn er sich daran erinnert. Denn in jener Tiefgarage brachte seine Frau Silke ihr zweites Kind auf die Welt. Im Auto. Allein, während ihr Mann verzweifelt in der Klinik nach Hilfe suchte (Beobachter TV hat über den Fall berichtet). Sohn Siro kommt offenbar unbeschadet zur Welt, doch die Nacht in der Tiefgarage hat die Eltern traumatisiert, vor allem Federico Baici: «Ich war wochenlang arbeitsunfähig und hatte Panikattacken. Die Geburt belastet mich bis heute», erzählt der 37-jährige Geograf, der bei einer Versicherung arbeitet. Silke Baici, 36, ist Sekundarlehrerin. Bei der Geburt ihres ersten Kindes, einem Mädchen, hatte es bereits Komplikationen gegeben. Die Nabelschnur hatte sich um den Hals des Babys gewickelt, und Silke Baici verlor viel Blut. Direkt die Notaufnahme angesteuert Zur Sicherheit wählen sie im Sommer 2013 für die Geburt ihres Sohnes die Zürcher Privatklinik Hirslanden. Am Abend des 11. November 2013 werden die Wehen immer stärker. Silke Baici ruft kurz vor 20 Uhr in der Klinik an. Die Hebamme beruhigt sie und empfiehlt, noch zu Abend zu essen. Knapp zwei Stunden

Die Wehen werden immer stärker. Das Drama nimmt seinen Lauf.

später – die Wehen setzen in immer kürzeren Abständen ein – wählt Silke Baici erneut die Nummer des Gebärsaals und kündigt an, sie mache sich auf den Weg. Unterwegs werden die Wehen immer stärker. Federico Baici steuert direkt die Notaufnahme an, seine Frau wartet im Auto. Laut Navigationsgerät ist es nun 22.19 Uhr. Da die zuständige Krankenschwester, wie sie später zu Protokoll gibt, keinen Notfall erkennen kann, schickt sie ­Federico Baici zum Empfang beim nahegelegenen Haupteingang. Der Empfang ist mit einem Sicherheitsmann und einem Rezeptionisten besetzt. Federico Baici schildert die Situation und will sich einen bereitstehenden Rollstuhl für seine Frau greifen, die noch immer im Auto wartet. Doch der Sicherheitsbeamte rät ihm, mit dem Auto in die Tiefgarage zu fahren. Von deren Besucherebene sei das mit dem Lift der schnellere Weg in die Geburtsstation. Die Einfahrt liegt rund 500 Meter vom Haupteingang entfernt. Baici fügt sich. Später gibt das Personal zu Protokoll, man habe keine besondere Dringlichkeit erkannt. «Vielleicht hätte ich lautstärker auf die dramatische Lage hinweisen müssen», sagt Baici heute. «Aber im Geburtsvorbereitungskurs lernt man als werdender Vater, ruhig zu bleiben und nicht in Panik zu geraten.» Unter grossem Protest seiner Frau steuert er die Tiefgarage an. «Es kann nicht sein, dass nicht medizinisch geschultes Personal Patienten spätabends wieder in die Dunkelheit und vom



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Hilfe für Sie!

Vom Auto angefahren, plötzlich arbeitsunfähig, mit dem Familienunternehmen in Schieflage oder eine böse Überraschung im geerbten Haus – Jürg Keim und das Beratungsteam des Beobachters helfen Menschen, die vor grossen Herausforderungen stehen. Die neue Staffel von Beobachter TV, Experten im Einsatz: jeden Sonntag um 18.15 Uhr auf SRF 1. www.beobachtertv.ch Teilnehmen an der Sendung: anmeldung@beobachtertv.ch

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Klinikgelände schickt», sagt Barbara Züst, Geschäftsführerin der Schweizerischen Stiftung SPO Patientenschutz. Sie sieht in diesem Verhalten ein klares Versäumnis: «Das Personal am Empfang kann nicht abschätzen, ob eine Geburt dringend ist oder nicht. Es hätte sofort Kontakt mit den Hebammen herstellen müssen.» Die Wehen werden immer stärker. Das Drama nimmt nun seinen Lauf. In der Tiefgarage angekommen, fährt Federico Baici in Not und Eile nicht wie vom Sicherheitsmann empfohlen auf die Besucherebene im dritten Untergeschoss, sondern sucht den nächsten Klinikeingang. So landen Baicis vor dem Mitarbeitereingang im zweiten Untergeschoss. Silke Baici schreit vor Schmerzen. Sie spürt: Das Kind kommt bald. Sie fleht ihren Mann an, sie jetzt nicht allein zu lassen, doch Federico Baici will unbedingt Hilfe holen. Er fährt mit dem Lift hinauf ins Erdgeschoss zur Geburtsstation, doch als sich die Tür öffnet, liegt der Gang im Halbdunkel. Baici wähnt sich am falschen Ort. In Hektik kehrt er zu seiner Frau zurück. Der Vater gerät in Panik Silke Baici liegt inzwischen quer auf dem Beifahrersitz und ist bereits am Gebären. Sie bittet ihren Mann, in ihrer Hose nachzuschauen. Als Federico Baici den Kopf des Kindes ertastet, ­gerät er in Panik. Wieder rennt er los. Wieder bittet seine Frau ihn, sie jetzt nicht allein zu lassen. «Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: Ich muss Hilfe holen», erinnert er sich. Nach Baicis Rekonstruktion ist es nun 22.28 Uhr. Wieder fährt er hoch ins Erdgeschoss, findet nun die Geburtsstation und klingelt Sturm vor der verschlossenen Tür. Der Hebamme schildert er, dass die Geburt in vollem Gange sei, und fordert Hilfe und einen Rollstuhl. Da die Hebamme erst einen Rollstuhl organisieren muss, wie sie später zu Protokoll gibt, schickt sie Baici zurück zu seiner Frau und verspricht, dann nachzukommen. Wieder geht wertvolle Zeit verloren. Auch hier sieht Patientenschützerin Barbara Züst ein schweres Versäumnis: «Die Hebamme hätte sich sofort ein Bild der Lage verschaffen müssen und den Vater nicht wieder allein losschicken dürfen. Wenn sie ­sofort mitgegangen wäre, hätte sie un-

Die Schwester kann keinen Notfall erkennen. Sie schickt den Vater zum Haupteingang. ter Umständen noch bei der Geburt helfen können.» Als Federico Baici gegen 22.32 Uhr wieder bei seiner Frau ankommt, ist das Kind bereits geboren. Zur gleichen Zeit stösst eine Kardiotechnikerin hinzu. Sie hat Dienstschluss und bemerkt die um Hilfe rufende Silke Baici. Die Kardiotechnikerin birgt das Neugeborene aus der Schwangerschaftshose. Weil aber die Nabelschnur unter dem rechten Oberschenkel der Mutter eingeklemmt ist, kann sie ihr das Baby nicht auf die Brust legen. Es gelingt ihr, das Kind in ein Tuch zu wickeln. Die Kardiotechnikerin hält das Kind fest, bis Hilfe eintrifft. Doch das dauert weitere lange Minuten, da die Hebamme die Baicis auf der Besucherebene sucht, sie dort nicht findet und deshalb

in den Gebärsaal zurückkehrt. Erst jetzt erfährt die Hebamme, dass sich Baicis im zweiten Untergeschoss befinden – und trifft dort gegen 22.42 Uhr ein, mehr als zehn Minuten nach der Geburt – und ohne Gebärkoffer. Eine zweite Hebamme bringt schliesslich die Schere zum Abnabeln. Die Eltern machen der Klinik Vorwürfe Federico Baici ist ausser sich vor Wut. Gemäss ihrer Erinnerung wird Silke Baici schliesslich gegen 23 Uhr in den Gebärsaal gebracht, ihr Sohn wird untersucht und für gesund befunden. Er scheint die dramatische Geburt gut überstanden zu haben. Nicht aber die Eltern. «Für mich war es das Schlimmste, dass sich mein Mann nicht über die Geburt unseres


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Der einzige Gedanke des Vaters nach der Nacht in der Garage: Er will die Aufzeichnungen der Überwachungskameras sicherstellen lassen. Sohnes freuen konnte», erzählt Silke Baici unter Tränen. Dieser ergänzt: «Ich war fix und fertig. Ich hatte riesige Schuldgefühle, weil ich meine Frau al­ lein gelassen habe.» Silke und Federico Baici fühlen sich wie vor den Kopf gestossen. Denn in den Tagen danach gehen weder das Pflegepersonal noch die Klinikleitung auf sie zu, um sich für den Vorfall zu entschuldigen. Und offenbar ist nicht einmal das Pflegepersonal auf der Wo­ chenstation, wo Silke Baici fünf Tage bleibt, über die dramatische Geburt informiert. «Die Kinderärztin fiel aus allen Wolken, als ich ihr die ganze Ge­ schichte erzählte», erinnert sich Silke Baici. Federico Baicis einziger Gedanke nach der Nacht in der Garage: Er will die Aufzeichnungen der Überwa­ chungskameras sicherstellen lassen, um Beweise zu sammeln. Beweise da­ für, dass der Klinik Fehler unterlaufen sind. Am Abend nach der Geburt er­ stattet er Anzeige bei der Polizei. Be­ reits drei Wochen später, am 2. De­ zember 2013, will der Staatsanwalt den Fall zu den Akten legen, da «weder ein Sachverhalt von strafrechtlicher Rele­ vanz noch ein strafrechtlich bedeut­ sames Verhalten ersichtlich ist». Doch Baicis Anwältin Vera Delnon hält an der Anzeige fest und beantragt, dass ein Strafverfahren eröffnet wird. Der Anwalt der Klinik widerspricht Die Klinik notierte als Geburtszeit­ punkt 22.40 Uhr. Die Anwältin ist überzeugt, dass das falsch ist. «Es war ja kein Klinikpersonal dabei.» Nach der Rekonstruktion der Baicis muss Sohn Siro rund zehn Minuten früher zur Welt gekommen sein. «Und da die Kardiotechnikerin zu Hilfe kam, als das Kind bereits geboren war, ist nicht sicher, ob das Baby in den ersten zwei Minuten genügend Sauerstoff bekam», sagt die Anwältin. Sie will prüfen las­ sen, ob eine strafbare Gefährdung der Gesundheit vorliegen könnte. Zudem sei der Schock, den beide Eltern erlit­ ten haben, eine Körperverletzung. Der Anwalt der Hirslanden-Klinik widerspricht. Er schreibt, «dass die Er­

mittlungen kein strafrechtlich rele­ vantes Verhalten zutage fördern wer­ den». Darüber hinaus müsse er sich «ausdrücklich eine Anzeige wegen fal­ scher Anschuldigungen vorbehalten». Baicis sind empört. «Wir möchten, dass dieser Fall sauber untersucht und aufgearbeitet wird. Einerseits für uns, aber auch, damit sich so etwas nicht wiederholen kann», sagt Silke Baici. Und sie erwarten eine Entschuldi­ gung, «denn schliesslich sind Fehler passiert». Dass der damalige Klinikdirektor erst sechs Wochen nach der Geburt, am 24. Dezember 2013, Verständnis zeigt und sich nur für die «kommuni­ kativen Missverständnisse und die entstandenen Unannehmlichkeiten» entschuldigt, reicht Baicis nicht. «Wenn sich die Klinik sofort und um­ fassend entschuldigt hätte, wäre der Fall für uns vermutlich erledigt gewe­ sen», sagt Federico Baici. Inzwischen würden sie sich eine Genugtuung und die Erstattung ihrer Anwaltskosten wünschen. Auf das An­ gebot zu einem klärenden Gespräch wollen Baicis nur eingehen, wenn ih­ nen die Klinik Einsicht in die internen Befragungsprotokolle aller involvier­

ten Mitarbeiter gewährt. Die Klinik selbst will sich auf Anfrage des Beob­ achters wegen des laufenden Verfah­ rens nicht zu dem Vorfall äussern. Keiner befragte bisher die Mutter Inzwischen läuft die Strafuntersu­ chung seit bald zwei Jahren. «Die Er­ mittlungen wurden bisher nur einsei­ tig geführt», bemängelt Franz Riklin. Der emeritierte Strafrechtsprofessor der Uni Freiburg berät Anwältin Del­ non. «Bislang wurden nur die invol­ vierten Klinikangestellten von der Po­ lizei einvernommen, nicht aber die Mutter des Kindes.» Zudem sei nicht abgeklärt worden, ob jemand für die offensichtlichen Organisationsmängel in der Klinik verantwortlich sei. Zur grossen Überraschung der Bai­ cis will der Staatsanwalt beide Eltern jetzt doch noch einvernehmen lassen. «Wir sind natürlich sehr froh, dass wir endlich auch unsere Sicht der Dinge zu Protokoll geben können», sagt Silke Baici. Die Eltern hoffen, bald einen Schlussstrich unter die traumatische Nacht ziehen zu können. Offen bleibt vorläufig, welche Konsequenzen die Klinik Hirslanden aus der dramati­ n schen Geburt gezogen hat.

Die neue Sendereihe zeigt in acht Folgen Menschen, die vor einer grossen Herausforderung stehen. Fachleute des Beobachters unterstützen sie dabei. Die Sendung vom 18. Oktober wird wegen der Nationalratswahlen verschoben. SRF 1: Sonntag, 25. Oktober, 18.15 Uhr Dem Kleinunternehmer Behzad Afshar steht das Wasser bis zum Hals. Sein Café und seine Elektronikfirma sind fast pleite, und die Schulden wachsen. Die selbständige Putz­ frau Muriel Stillhart muss die Hüfte operieren lassen, kann aber nicht wochenlang aus­ fallen. Zwei harte Fälle für Beobachter TV. Mehr zu den Themen dieser Sendung auf www.beobachtertv.ch

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Glaube und Liebe

«Viele in der Kirche leben homosexuell. Aber halt heimlich» Wie reagieren katholische Seelsorger, wenn eine lesbische Gläubige um Rat fragt? Ein Selbstversuch zeigt: Sie scheuen sich nicht, Bischof Huonder zu kritisieren. Text: Jessica King


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s hätte ein gewöhnlicher Fach­ vortrag zum Thema Familie und Sexualität werden sollen. Doch die Aussagen des Churer Bischofs V itus Huonder im deutschen Fulda ­ sorgten im Sommer für Schlagzeilen: Er zitierte eine Stelle aus dem Alten Testament, in der die Todesstrafe für Homosexualität gefordert wird. Nicht nur aus der Bevölkerung schlug ihm eine Welle der Empörung entgegen, auch aus den eigenen Reihen erntete er scharfe Kritik. Der St. Galler Bischof Markus Büchel reagierte mit einem ­offenen Brief, worin er sich liberal ge­ genüber der Homosexualität zeigte. Es sei weniger die Neigung als vielmehr der verantwortungsvolle Umgang mit

der Sexualität für das Wohl der Men­ schen entscheidend, schrieb Büchel. Die Diskussionen um die Homo­ sexualität sind nicht vorbei. Noch bis zum 25. Oktober beraten sich an der zweiten Familiensynode der katho­ lischen Kirche Bischöfe aus aller Welt zu den Themen Ehe, Familie und Sexualität. Und auch wenn Papst Franziskus bereits versöhnliche Töne angeschlagen hat: Eine Anerkennung von Homosexualität als gleichwertige Lebensform ist kaum zu erwarten. Doch wie gehen Priester und Seel­ sorger im Alltag mit der Auslegung des Katechismus um? Wie reagieren sie auf Kirchgänger, die Gefühle gegen­ über Menschen desselben Geschlechts

haben? Um authentische Ant­ worten auf diese Fragen zu er­ halten, wurden drei zufällig aus­ gewählte Geistliche und zwei Seelsorgerinnen mit einer jungen Frau in einem schweren Gewissens­ konflikt konfrontiert. Ihre Geschich­ te: Sie sei in eine Frau verliebt und wisse nicht, wie sie diese Gefühle mit ihrem Glauben vereinbaren könne. Der Versuch zeigt, dass die Ange­ stellten der Kirche die Lehre flexibel anwenden – und mit der Auslegung von Bischof Huonder alles andere als einverstanden sind. Um die Geistlichen und die Seelsorgerinnen vor negativen Reaktionen zu schützen, werden die Namen und die Ortschaften nicht genannt.

Erster Besuch: Die Fortschrittliche

Fotos: Bjanka Kadic/Millennium Images, 123rf

Bistum Basel, ländliche Kirche. Auf dem Gesicht der Seelsorgerin breitet sich schnell ein offenes, herzliches Lächeln aus, als sie meinen Erzählungen lauscht. Das ist doch wunderschön, wenn Sie verliebt sind! Und ich weiss, dass es Sie Mut gekostet haben muss, Ihre Geschichte hier zu erzäh­ len. Es war ja nicht klar, wie ich reagiere.

sende Jahre alt sind, und sagt, das sei heute noch so. Das ist fahrlässiger Miss­ brauch der Bibel.

Sie sind da überaus progressiv. Aber es gibt ja immer auch die anderen Stimmen, die teilweise sehr laut sind.

Wie interpretieren Sie denn die Bibel in Sachen Homosexualität?

Nein, das wusste ich nicht.

Ich kann mir nicht vorstel­ len, dass Gott Menschen mit unterschiedlichen Nei­ gungen erschafft, wovon nur die einen gut sein sollen und die anderen nicht. Das Evangelium ist eine frohe Botschaft, nicht eine, die einengt. Die Kirche hat mit dieser Einengung aber schon sehr viel kaputt ­gemacht und viele Schuld­ gefühle geweckt. Klar müs­ sen wir unsere Entscheide verantwortungsvoll und be­ wusst treffen. Aber das grösste Gebot ist die Liebe. Und wenn die Liebe zu einem Menschen, egal ob ­ Mann oder Frau, beiden guttut, dann ist das meiner Meinung nach gottgewollt.

Ich treffe auf sehr viele offe­ ne Leute. Es gibt einen ­Haufen Gegenströmungen in der Kirche, aber die sind bis jetzt leider nicht bis zum Papst vorgedrungen. Den hochrangigen Leuten in der Kirche geht es oft um Macht – sie wollen ihren Job und ihre Stellung nicht verlie­ ren. Aber man kann die Welt nicht ignorieren. Sie verändert sich immer wei­ ter, und da muss die Kirche sich anpassen. Und die Bi­ bel auch neu interpretieren.

In der Kirche offiziell vor­ ­ gesehen ist das Modell Familie oder Ehelosigkeit für Priester. Aber man müsste viel offener sein: Heutzutage hat sich so viel verändert, es gibt etliche Formen des Zusammen­ lebens. Viele in der Kirche leben homosexuell. Aber halt heimlich. Und das ist eigentlich falsch, weil man eine Doppelmoral vorspielt. Haben Sie die Aus­sagen von Bischof Huonder gelesen? Ja, habe ich. Sie haben mich ziemlich verunsichert.

Das, was er gesagt hat, finde ich eine Frechheit. Dass er Bibelstellen zitiert, die Tau­

­ omosexuelle Kinder adop­ H tieren dürften. Denn die Kinder von zwei Frauen oder zwei Männern können genau gleich in Liebe auf­ wachsen wie Kinder aus he­ terosexuellen Beziehungen. Was würden Sie mir raten in meiner jetzigen Situation?

Stehen Sie zu Ihren Gefüh­ len. Das Schlimme ist, wenn jemand mit solchen Neigungen Sanktionen aus der Kirche zu spüren be­ kommt und dann riesige Gewissenskonflikte entste­ hen. Es gab auch schon vie­ le Suizide deswegen. Hören Sie deshalb nicht auf ande­ re, sondern gehen Sie ruhi­ gen Gewissens Ihren Weg.

Wie meinen Sie das?

Ich frage mich: Was würde Jesus heute sagen, wenn er jetzt auf der Welt wäre? Ich bin überzeugt: Er hätte absolut kein Problem mit Homosexualität. Ich finde zum Beispiel auch, dass

Zum Abschluss sagt die Seelsorgerin, sie sei jederzeit da, wenn es Probleme gebe. Und sie wünscht mir viel Glück – ich solle die noch junge Liebe möglichst geniessen.


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Zweiter Besuch: Der Verständnisvolle Bistum Chur, urbane Kirche. Draussen regnet es, der Priester bittet, den nassen Schirm vor dem Beichtstuhl liegen zu lassen. Nach den ersten Erzählungen lächelt er: Mein Gott, Sie machen sich viel zu viele Sorgen! Man liebt, wie man liebt. Eine solche Neigung haben Sie doch nicht gewählt, das wurde Ihnen in die Wiege gelegt. Aber eigentlich ist die katholische Kirche anders eingestellt, oder nicht?

Das weiss ich. Aber ich bin damit nicht einverstanden. Die Liebe, in welcher Form auch immer, ist per se etwas Schönes. Wenn etwas in Liebe passiert, wenn man einander nichts Böses will, dann kann das doch nicht falsch sein. Und auch wenn

die offizielle Lehrmeinung so ist, dass man eine homo­ sexuelle Partnerschaft nicht leben dürfe, sind viele Seelsorger oder Priester ­ a nderer Meinung. Ganz ­ v iele würden auch gleich­ ­ geschlechtliche Beziehun­ gen segnen, wenn sie nur könnten. Ich sage: Wir leben mittlerweile in einer ande­ ren Zeit. Die Aussagen von Bischof Huonder haben mich aber verunsichert. Für ihn ist die Homosexualität ganz klar nicht in Ordnung.

Vitus Huonder würde nicht sagen, dass Sie wegen Ihrer

Gefühle ein schlechter Mensch seien. Er würde sagen: Man achtet Sie ­ gleich, aber mit dem einen Teil von Ihnen sind wir nicht einverstanden. Aber vielleicht müssen Sie das für sich selber einordnen: Suchen Sie im Glauben ­Sicherheit, dass Ihnen eine Kirche genau sagt, was rich­ tig oder falsch ist? Oder ist für Sie Ihr Glaube eher etwas, das Sie auf einen ­ Weg zu sich selber führt?

wenn Sie diese unterdrü­ cken würden. Sie müssen jetzt, Schritt für Schritt, Ih­ ren Weg ausfindig machen und gehen. Vergessen Sie nicht: Die Liebe ist etwas Schönes. Geniessen Sie es! Beim Abschied hält der Priester meine Hand lange fest. Falls ich Probleme mit anderen Kirchgängern hätte, könne ich jederzeit zu ihm kommen, sagt er.

Was würden Sie mir für die Zukunft raten?

Stehen Sie zu Ihren Gefüh­ len. Es wäre ganz schlecht,

Dritter Besuch: Der Energische Bistum Chur, urbane Kirche. Die erste Reaktion des Priesters in der Beichtstube ist unerwartet: Er lacht. Er entschuldigt sich, weil er lacht. Aber dann prustet er erneut los.

Foto: 123rf

Wissen Sie, ich lache, weil Gott jetzt da oben sitzt und auch lacht. Über I hre Dummheit. Ich sage ­ Dummheit, weil Sie über­ haupt nichts tun, was schlecht wäre. Schlecht ist die gleichgeschlechtliche Liebe dann, wenn es nur ums Ausprobieren geht, wenn man einfach einem Trend folgen will. Aber wenn das Herz sagt, da ist jetzt der Mensch, mit dem ich meine Zukunft, mein Le­ ben gestalten will: Dann ist das doch nichts Verkehrtes. Und sicher nicht sündhaft.

Gegenteil: Es ist nicht in Ordnung, dass die Kirche gelebte Sexualität nur in­ nerhalb der Ehe vorsieht. Dass Sie mir jetzt als Häuf­ lein Elend gegenübersitzen, ist das Ergebnis unserer Predigten über Jahrhunder­ te hinweg. Dass wir als Kir­ che meinten, wir müssten unsere Finger überall drin­ haben, auch in der Sexuali­ tät der Menschen. Dabei ist die Sexualität die Kraft, die Gott uns geschenkt hat. Das kann doch gar nichts Schlechtes sein.

Ich habe aber Angst, dass ich meinen Glauben betrüge.

Im alten Testament der Bibel wird die Homosexualität aber kritisiert.

Was hat denn das mit Glau­ ben zu tun? Gar nichts. Im

In der Zeit, als die Bibel ­geschrieben wurde, war die

Sexualität dazu da, um menschliches Kriegsmate­ rial zu schaffen. Deshalb ist die Möglichkeit der gleich­ geschlechtlichen Liebe aus­ geschaltet worden. Und ­damit man es wirklich aus­ merzen konnte, hat man den Stempel der Sünde draufgedrückt. Kann aber Liebe Sünde sein, wie auch immer sie gelagert ist? Nein. Wie soll ich mit dieser Neigung denn umgehen …?

Machen Sie sich erst mal keine Gedanken darum. Und schämen Sie sich nicht. Die Liebe ist etwas Wunder­ schönes. Jesus hat gesagt: Ich bin nicht gekommen, damit ihr Knechte und Sklaven seid. Ich bin

g­ekommen, um euch die Freiheit zu bringen. Und eine Liebe wie die Ihre ­ ­gehört auch in diese Frei­ heit. Wieso kommen Sie überhaupt beichten? Ich weiss nicht, wovon ich Sie lossprechen sollte. Gibt es nichts zu verzeihen?

Doch. Dass Sie sich nicht annehmen, genau so wie Sie sind. Nach der Lossprechung lächelt der Priester. Und sagt dann, ich solle nie wieder mit einer solchen Geschichte zu ihm in die Beichte kommen.


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Vierter Besuch: Die Vorsichtige Bistum Chur, ländliche Kirche. Die Seelsorgerin ist eine ältere Frau, sie steht bei der Begrüssung nicht auf. Ihre Knie schmerzen, sagt sie. Sie nimmt meine Hand, als ich fertig erzählt habe, und bedankt sich für das Vertrauen. Und sie stellt gleich klar: Gefühle, welcher Art auch immer, sind keine Sünde. Aber dass Sie Gefühle für eine andere Frau empfin­ den, bedeutet auch nicht, dass Sie sicher homosexuell sind. Wie meinen Sie das?

Manchmal ist es so, dass es sich bei einer solchen Geschichte um eine sehr ­ emotionale Bindung han­ delt, die mehr als Freund­ schaft sein kann. Aber ­vielleicht gibt Ihnen diese Frau auch etwas, was Sie von Männern nicht erhal­ ten? Mehr Gefühl, mehr Austausch, mehr Wärme?

Ich glaube nicht, dass meine Gefühle ein Ersatz sind.

Das wäre jedoch auch keine Katastrophe. Aber solche Gefühle sind manchmal schwierig zu durchschauen, die Verliebtheit kann einen richtig durcheinanderbrin­ gen. Vielleicht können Sie eine Zeit lang Abstand bewahren und schauen, ­ ob sich das Gefühlschaos etwas setzt. Wenn die A nziehung dann immer ­ noch andauert, ist es mög­ lich, dass Sie lesbisch sind. Dann wäre das einfach so. Und was würden Sie mir dann raten?

Das Lehramt ist hier eigent­ lich eindeutig: Es verurteilt homosexuelle Menschen nicht, aber es wendet sich gegen homosexuelle Hand­ lungen. Laut Lehramt ist nur die Verbindung von Mann und Frau gottgewollt. Andererseits gibt es auch die Barmherzigkeit Gottes, gerade gegenüber Men­ schen, die sich in den G esetzen verfehlen. Ich ­ würde Ihnen anraten: Las­ sen Sie es langsam angehen. Schauen Sie, was für Sie gut ist. Am Schluss müssen Sie selber eine Entscheidung treffen, die für Sie stimmt und die Sie auch vor Gott

verantworten können. Und wenn die Liebe zu dieser Frau genug stark ist, dann gehen Sie ruhig eine Be­ ziehung ein. Und geniessen Sie es! Nach dem Gespräch sagt die Seelsorgerin, dass sie für mich beten werde. Sie wünscht mir Klarheit und Mut für meinen weiteren Weg und schenkt mir zum Abschied ein kleines Buch mit Gebeten drin. Vielleicht könne mir eins davon weiterhelfen.

Fünfter Besuch: Der Private Bistum Chur, ländliche Kirche. Der alte Priester, der zur Beichte empfängt, bittet mich näher heran. Er hört nur noch schlecht. Langsam faltet er seine Hände zusammen und senkt den Kopf zum Zuhören. Die erste Reaktion kommt ohne Zögern: Aber wo denken Sie denn hin! Die Homosexualität ist doch keine Sünde.

Foto: 123rf

Einige Leute in der Kirche sehen das aber anders.

Auf dieser Linie bin ich nicht. Ich finde es nicht in Ordnung, wie die Kirche immer gegen diese Leute hetzt. Solche Gefühle gibt es halt manchmal, des­ wegen kommt niemand in die Hölle, deswegen ist nie­ mand ein schlechter Katho­ lik. Wissen Sie, früher hat man nicht gewusst, dass die Homosexualität biologisch bestimmt ist. Das waren einfach pädagogische Fälle, die umerzogen werden mussten. Wie Linkshänder,

die man gezwungen hat, Rechtshänder zu sein. Da­ bei schreiben beide gleich schön. Mittlerweile weiss man, dass eine solche Um­ polung eine Vergewaltigung der Seele ist. Aber wie kann ich auf Leute reagieren, die Homosexualität als Sünde sehen?

Sie müssen den anderen nichts sagen, und schon gar nicht denen, die dafür kein Verständnis haben. Das ist jetzt Ihr Weg, den Sie für sich gehen, ohne sich um die anderen zu kümmern. Das ist Ihre Privatsphäre. Meiner Meinung nach ­w ürde es auch niemanden etwas angehen, wenn ich

zum Beispiel eine Freundin hätte. Das ist aber schwierig, wenn man aus kirchlichen Kreisen immer wieder Kritik an der Lebensweise hört.

Sie müssen sich befreien von der Kontrolle Ihrer M itmenschen. Sie müssen ­ an Ihre Gefühle glauben. Wie alt sind Sie? 29.

Sie sind noch so jung. Es muss sich ja auch erst noch zeigen, ob Ihre Partner­ schaft eine Zukunft hat oder nicht. Vielleicht verlei­ det es Ihnen ja auch. Jede Liebe kann sterben, die gewöhnliche Liebe auch. ­

Deshalb gibt es heutzutage so viele Scheidungen. War­ ten Sie ab. Und in der ­Zwischenzeit praktizieren Sie normal katholisch ­weiter. Sie müssen deshalb auch nicht der Kommunion fernbleiben. Zum Abschluss hält der Priester meine beiden Hände fest und spricht die Lossagung. Aber nicht, um von der Sünde der Homosexualität reinzu­waschen. Sondern einfach allgemein – falls es andere Sünden gibt, die ich wirklich begangen habe.


Suchen oder klopfen? Die Kunst besteht darin, einen passenden Brocken zu finden. Behauen wird nur, wenn nรถtig.


Auslegeordnung: Die Steine werden wie für ein Puzzle bereitgelegt.

Trockenmauern

Das Handwerk des Lebens Aus rohen Steinen einen Wall zu bauen, trägt eine Magie in sich. Freiwillige reisen von weit her an, um beim Trockenmauern Gelassenheit und Zuversicht zu lernen. Text: Balz Ruchti; FOTOs: SAMUEL TRÜMPy

Augenmass allein genügt nicht: Ein Gerüst hilft.

Begrenzung, Stütze, Windschutz und Wärmespeicher: Trockenmauern haben viele Funktionen.


Hauruck: Die Plackerei ist nicht immer gut für die Bandscheiben, aber für den Teamgeist.

Trockenmauern zeigen auch den Charakter des Erbauers.

A

ls Rotorenlärm durch das Tal wabert, suchen Zoltan Horvaths Augen kurz den Himmel ab. «Die Fliegerei ist ein u nglaublich flüchtiges Geschäft. Im ­ besten Fall sind nach ein paar Tagen alle Passagiere wieder dort, wo du sie aufgeladen hast», sagt der 46-Jährige. Horvath ist selbst Pilot; er hat Lizenzen für alles, was fliegen kann. Er wiegt den Stein in seiner Hand. «Das hier ist das völlige Gegenteil.» «Das hier» ist Trockenmauern. Horvath ist ins bündnerische Calancatal gekommen, um sich eine Woche lang dem alten Handwerk zu widmen, zusammen mit 13 anderen Kursteilnehmern. Mit dem hier erworbenen Wissen will Horvath die zerfallenden Umgrenzungsmauern einer kürzlich erstandenen Alp wieder herrichten – «als Hommage an die unbekannten Baumeister». Zudem verhelfe diese Beschäftigung mit Stein und Boden zu einem «tieferen Verständnis der Gegend». Fürwahr. Aber in Trockenmauern offenbaren sich nicht nur die Eigenschaften des

örtlichen Gesteins. «Sie zeigen auch den Charakter des Erbauers», sinniert Markus Maccaferri, ein bä­ ren­ hafter Mann mit weissem Schimmer in Bart und Locken. Für Maccaferri ist der Kurs auch eine berufliche Weiter­ bildung. Der 51-Jährige leitet Beschäftigungsprogramme für Asylsuchende, in denen oft Wanderwege ausgebessert werden. «Eritreer könnten diesen Stein zu acht hochheben – irgendwie bekommen die immer genug Hände dran», sagt Maccaferri, während die anderen mit Flaschenzug und Rohr­ gestell einen zentnerschweren Mocken über die Mauer hieven, den sie zuvor mit einer Seilwinde aus dem Wald gezogen und dann mit dem Auto zur Baustelle geschleift haben. Mauern ist wie Meditieren Die Kursteilnehmer – zwei Frauen und zwölf Männer, vom Endzwanziger bis zum Pensionär – sind so unterschiedlich wie ihre Beweggründe: «Alles, was dich dazu bringt, nicht an das zu denken, woran du normalerweise denkst, ist gut», sagt der Patentanwalt, der aus Deutschland mit seiner Partnerin für

den Kurs angereist ist. Sie wiederum ist Ingenieurin und will bei ihrem Haus im Grünen eine kleine Stützmauer errichten. Manche sind wie Maccaferri bereits zum zweiten oder dritten Mal ­dabei – Res Bronner, ein Landschaftsgärtner aus Bern, kommt seit 14 Jahren immer wieder, «einfach weil es hier hinten so schön ist». Zwei Matratzen für einen Mann Der Weiler Bodio liegt auf einem Schuttkegel zwischen steilen Birkenund Lärchenwäldern und einer mächtigen Felswand. Die Kursteilnehmer nächtigen im Massenschlag einer ehemaligen Pfadiunterkunft, deren zierliche Matratzen an die ursprünglichen Gäste erinnern. Maccaferri braucht zwei davon, um bequem zu liegen. Küche und Toiletten sind sauber und modern, und in der niederen Essstube wärmt ein uralter Specksteinofen tapfer gegen die herbstliche Kühle an. Das Gruppenhaus gehört zum Kurszentrum der Pfadfinderinnen­ stiftung Calancatal, die sich dem ­Erhalt der örtlichen Natur und Kultur


63 Der ideale Stein ist gefunden: Jetzt muss der Flaschenzug ran.

Sie schützen Weiden vor Sturzbächen Stoll merkte rasch, dass er allein nicht weit kommen würde, und rekrutierte Helfer. Indem er die gewonnenen Kenntnisse ständig weitergab, wurde der studierte Architekt schliesslich Trockenmaurer und Kursleiter. Über die Jahre hat er mit Kurs­teilnehmern sämtliche eingestürzten Mauern der Stiftung wieder aufgebaut. Der aktuelle Kurs befasst sich nun mit der Einfriedung eines benachbarten Ferienhauses, die auf einer Seite zu

Pröbeln und abwägen: Jedem Stein seinen Platz Je nach Form und Grösse eignen sich Steine für bestimmte Funktionen und Positionen in einer Trockenmauer. 1 Fundamentsteine sind in der Regel gross und plattig. Sie müssen das Mauergewicht tragen können. 2 Mauersteine bilden die Sichtfläche der Mauer: Quer zu den 3 Läufern liegen die Binder, die der Mauer zu mehr seitlicher Stabilität verhelfen. Ein Stein, der die ganze Mauer durchstösst, bezeichnet man als 4 Durchbinder. 5 Hintermauerungssteine sind Bruchstücke von unterschiedlicher Form und Grösse, die sich nicht als Mauersteine eignen. Die 6 Decksteine bilden die Mauerkrone. 6 Sie sollten so schwer sein, dass sie nicht leicht zu verschieben sind.

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ILLUSTRATION: Dani Pelagatti/Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz/Creative Commons CC-BY-SA-4.0

verschrieben hat. Sie organisiert jährlich einen Trockenmauerkurs. Denn zur Stiftung gehören mehrere Gruppenhäuser, ein Zeltplatz und schätzungsweise 300 Meter Trockenmauern, die das Anwesen umschliessen. Diese Bauwerke faszinieren Kursleiter Gerhard Stoll, seit er vor 20 Jahren der Liebe wegen ins Tal kam. Seine Partnerin führte damals das Kurszentrum der Stiftung. Trotz vollen Herzens fand Stoll hier seine zweite Leidenschaft: «Ich sah die zerfallenen Mauern und beschloss, sie wieder aufzubauen», sagt der 53-Jährige.


Passt: ein schöner Moment

Beobachter online 100 Kilo, vier Leute und eine halbe Stunde Plackerei – der Weg eines Steins in die Mauer. Das Video sehen Sie auf: www.beobachter.ch/trockenmauer

einem dicken Damm anwächst. Der Wall bewahrte früher die Weiden vor den Sturzbächen, die bei schweren ­Regenfällen die Dorfstrassen hinun­ terrauschten. Als vor einigen Jahr­ zehnten oberhalb des Weilers Verbau­ ungen errichtet wurden, verlor der Damm seine Bedeutung – wie fast alle Trockenmauern in der Gegend. Man übt an eingebrochenen Stellen Die Zeiten sind lange vorbei, als die Bauern dem Tal ein Auskommen ab­ trotzten, indem sie an steilen Hängen Terrassen aufwarfen oder Obstbäume und Getreidefelder in Sonnenwärme speichernde Steinmauern fassten. Wie sich der Wald die Weiden zurückholt, verfallen auch die einst sorgsam ­errichteten Bauwerke. Der Damm und seine anschlies­ senden Mauern, die dem Kurs als Stu­ dien- und Übungsobjekt dienen, hat bereits an fünf oder sechs Orten «ge­ kalbt»: Vor jeder der eingebrochenen Stellen liegt ein kleiner Schuttkegel. Drei dieser Haufen haben die Kurs­ teilnehmer am ersten Tag abgetragen und die Steine in der Wiese ausgelegt.

­ ortiert nach Form und Grösse, harren S sie ihrer künftigen Bestimmung. «Mehr als die drei Stellen schaffen wir in diesem Kurs nicht», sagt Stoll. Ein geübter Trockenmaurer schafft an einem Tag rund einen Quadratmeter Mauerfläche – «aber eine Mauer hat ja zwei Seiten». Und Anfänger bräuchten viermal länger. Das hat verschiedene Gründe. Einerseits bringen die Kurs­ teilnehmer unterschiedliche Erfah­ rungen und Fähigkeiten mit; hand­ werklich wie körperlich. Andererseits gibt es an Gemein­ schaftsbaustellen stets «drei Leute, drei Meinungen» – und das oft bei ­jedem einzelnen Stein. Manche wer­ den so lange hin- und hergeschoben, dass sie einen Namen bekommen. «Das Brot» zum Beispiel. «Seht euch den Herzstein an!» Aber die Suche nach dem richtigen Platz für den richtigen Stein lohnt sich, sagt Horvath. «Ihr müsst euch den Herzstein ansehen.» Er geht zur Aus­ senseite des Damms, wo ein grober, aber tatsächlich herzförmiger Stein in der Mauer ruht. Seine Flanken schlies­

Nachschub aus dem Fluss: Die nahe Calanca liefert endlos Steine.

sen satt an die Seiten zweier darunter­ liegender Brocken. «Wie gross ist die Wahrscheinlichkeit, dass du den Stein findest, der genau diese Lücke füllt und dir oben eine Fläche zum Weiter­ arbeiten gibt?» Eine rhetorische Frage. «Deswegen musst du beim Trocken­ mauern Optimist sein – sonst verzwei­ felst du.» In der Suche nach dem passenden Stein liegt nicht nur die Magie des Ganzen; sie ist mitentscheidend für die Qualität. Denn jeder gesetzte Stein gibt den nächsten vor, der dazugelegt wird. Und je besser der Stein, desto schöner und dauerhafter die Trocken­ mauer. Darum lässt Leiter Stoll aus dem nahen Bachbett viele zusätzliche Stei­ ne heranschaffen, obwohl die Mauern nur wiederhergestellt werden. «Man muss immer eine Auswahl haben.»

Buchtipp «Trockenmauern – Grundlagen, Bauanleitung, Bedeutung»; Stiftung Umwelt-Einsatz Schweiz (Hrsg.), Steffisburg, 2014, 470 Seiten, Fr. 110.00


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66 Rätsel

Beobachter 21/2015

kreuzworträtsel achtenswert Strassenpass (VD)

Reinigungsmittel

d. Meinung ändern Kreuzinschrift

jmdm. zugehörig zierlich, zart

frz: jung Abk. f. CHGewerk- Buch der Zch. f. schaftsBibel Radon bund

eifrig, fleissig

wenn, zu der Zeit

Ort im Kt. JU

dt. TVBlödler Zch. f. Silber

8 vorschriftsmässig

Kämpfer für das Gute Mz.

2 männl. Nachkommen Mz.

11 dt. Landschaft

10 heiter, lustig

Bergmassiv im Kt. GL

9 Spielzeug ital: Jahre

Wirklichkeit

Prophet Hirschart österr. Fluss Zentralstern

Zch. f. Erbium zu keiner Zeit

5

Zch. f. Nickel kleine Brücke

Zu gewinnen ist ein Kofferset im Wert von 548 Franken. «I was a bottle» heisst die neue Serie von Rossis Travel, die aus 100% recyceltem PET hergestellt ist. www.rossis.com

6 Geradflügler

Wortteil f. «Wärme»

Fürwort

Nagetiere

boshaft, hinterhältig

Ausbildung

4

1 9 8 6

Fussbekleidung lat: und Abk. f. Rettungswagen

Gestaltung

Fussglied einig machen unterteilen

14 Kolloid

Flugnavigator CH-Reformator †

US-Geheimdienst Hirschart

Personalpronomen im Dativ

12

nicht dafür

7

karib. Inselstaat riesig, erstaunlich

1

Zch. f. Helium

M B E Z E R L Y S P R F E S A D O N I N O E L O C Y E

Radteil Feuerkröte Abk. f. e. dt. Partei lat: Geht!

engl: Spass

3

weibl. Vorname

Ablauf, Chronologie Eilbote

1

13

achtbarer Mensch (veralt.)

ägypt. Gottheit

2

3

4

5

6

7

8

9

10

bibl. Prophet

gehörnter Paarhufer

Fluss im Kt. ZH

Höhle in Oberdorf (SO) engl: wenn

luftförmige Stoffe

frz: Reis

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K A R I N A I S L A E N D I S C H

A O MM F S A T E N L H R I N D O E R B S E R I D T A S P E C D S C H O I O L A M A A L E A L P N A C H

C S E N H E U L N O F A R

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14

So können Sie an der Verlosung teilnehmen: Nennen Sie das Lösungswort und geben Sie Ihre vollständige Adresse an. Einsendeschluss: 26. Oktober (Anrufe bis 18 Uhr). Per Telefon: 0901 908 196 (1 Franken/Anruf ab Festnetz). Mit Postkarte: Beobachter, Rätsel, Postfach, 8099 Zürich. Via E-Mail: kreuzwort@beobachter.ch Die Auflösung folgt in der nächsten Nummer. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Axel Springer Schweiz AG sowie ihre Angehörigen sind nicht teilnahmeberechtigt. Die Gewinner werden ausgelost und schriftlich benachrichtigt und sind ab 30. Oktober unter www.beobachter.ch/gewinner ersichtlich. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.


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68 Rätsel

Beobachter 21/2015

Kunstfehler

Sudoku

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9 4 4

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3

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8

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Conceptis Puzzles

Finden Sie die vorgegebene Anzahl Schiffe. Es gilt: n Die Zahl am Ende jeder Zeile oder Spalte sagt Ihnen, wie viele Felder durch Schiffe besetzt sind. n Schiffe dürfen sich nicht berühren, weder horizontal noch vertikal noch diagonal. Das heisst, jedes Schiff ist vollständig von Wasser umgeben. n Tipp: Markieren Sie 0-Zeilen und 0-Spalten als Wasser. Zeichnen Sie um die Schiffe herum das Wasser ein. Streichen Sie gefundene Schiffe ab.

Finden Sie die 8 Unterschiede: Albert Anker (1831 bis 1910), Sohn eines Tierarztes aus Ins im Berner Seeland, liess sich in Paris zum Maler ausbilden. Die Themen wie «Der Schulspaziergang» (1872, Original oben) blieben bäuerlich und dem Malstil der Zeit entsprechend realistisch. Auflösung aus Heft Nr. 20

Conceptis Puzzles

08010002862

22 11 33

Binoxxo

22

Vervollständigen Sie das Rätselgitter mit 5 und . Es gilt:

n

n

33

s dürfen nicht E mehr als zwei aufeinanderfolgende 5 oder in einer Reihe oder Spalte vorkommen.

33 33 33 4 4

ro Zeile und P Spalte hat es gleich viele 5 und . lle Zeilen und A Spalten sind einzigartig.

2 06010012960

Bimaru

n

7

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5 5

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Auflösungen aus Heft Nr. 20

Conceptis Puzzles

31010000807

4 9 1 2 5 3 8 7 6

7 2 3 6 8 9 5 4 1

8 5 6 4 7 1 9 2 3

3 4 5 7 1 6 2 9 8

6 8 7 9 2 5 1 3 4

2 1 9 8 3 4 7 6 5

1 7 4 3 9 8 6 5 2

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55 11 22 33 08010002861

5 6 2 1 4 7 3 8 9 06010012959

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Beobachter 21/2015

Tabuthema Psychische Leiden sind weit verbreitet – aber mit Scham behaftet. Gerade am Arbeitsplatz werden Betroffene mit Vorurteilen konfrontiert. Psychiater Thomas Ihde entkräftet sie.

Jeder Zweite wird psychisch krank Vorurteil 1: Psychisch krank werden, das kann mir doch nicht passieren – schliesslich habe ich mein Leben im Griff. Thomas Ihde: Viele verwechseln psy­ chische Erkrankungen mit Willens­ schwäche oder Fehlern in der Lebens­ führung. Sie überschätzen die Beein­ flussbarkeit der Psyche. Ausserdem überschätzen sich viele Betroffene: Wer merkt, dass er plötzlich müde ist, sich nicht mehr konzentrieren kann, immer morgens um vier Uhr aufwacht und bereits gestresst ist, der versucht in der Regel verzweifelt, die Fassade aufrechtzuerhalten – damit bloss nie­ mand merkt, wie schlecht es ihm geht. Über das ganze Leben betrachtet, er­ krankt in der Schweiz jede zweite Per­ son irgendwann mal psychisch, aber nur bei jeder vierten Person wird auch die Arbeitsfähigkeit tangiert. Vorurteil 2: Bei psychischen Krankheiten gilt: einmal krank, immer krank. Zum Glück ist das nicht so. 90 Prozent aller Depressionen heilen ab – das ist

eine ähnliche Rate wie bei vielen or­ ganischen Erkrankungen. Doch nie­ mand sagt: einmal Lungenentzün­ dung, immer Lungenentzündung. Den Leuten ist klar, dass man Antibiotika nehmen und ein paar Tage im Spital liegen muss, aber dass man irgend­ wann wieder gesund ist und arbeiten kann. Bei psychischen Erkrankungen ist es oft ganz ähnlich, bloss nimmt das die Gesellschaft zu wenig wahr. Dazu kommt die Tabuisierung: Wer nach einer psychischen Erkrankung wieder gesund ist, erzählt das den Bürokollegen eher nicht. Die Kollegen nehmen es zwar wahr, wenn ein seit anderthalb Jahren krankgeschriebe­ ner Mitarbeiter definitiv nicht mehr Thomas Ihde-Scholl, 46, ist Leiter der Psychiatrischen Dienste der Spitäler FMI in Interlaken. Der Facharzt für Psychiatrie und Neurologie ist Autor des BeobachterRatgebers «Ganz normal anders» sowie des soeben erschienenen Buchs «Wenn die Psyche streikt – psychische Gesundheit in der Arbeitswelt». Beide Bücher entstanden in Kooperation mit Pro Mente Sana, wo Thomas Ihde-Scholl als Stiftungsratspräsident tätig ist.

zur Arbeit zurückkehrt. Aber dass ein Vorgesetzter oder die Reinigungskraft oder der Verwaltungsrat vor zwei Jah­ ren eine psychische Belastung hatte und jetzt wieder ganz normal arbeitet – diese Geschichten hört man fast nie.

Vorurteil 3: Früher gab es viel weniger psychisch Kranke. Die Leute sind heute einfach verweichlicht. Das ist ein Mythos. Bei ursprünglich lebenden Völkern, etwa im Amazo­ nasgebiet oder in Nordalaska, gibt es sogar mehr psychische Erkrankungen – weil dort der Überlebensstress be­ deutend grösser ist. Die Raten der schweren psychischen Erkrankungen sind weltweit relativ ähnlich. Bei leich­ ten bis mittleren, vorwiegend stress­ bedingten Leiden gibt es bei uns wahrscheinlich eine leichte Zunahme, allerdings nur, was die Arbeitsfähig­ keit betrifft. Das liegt daran, dass un­ ser Berufsleben viel mentaler gewor­ den ist. Die meisten Leute arbeiten heute vor allem mit einem Organ: dem Hirn. Auch ein Bauer muss heute Managementfähigkeiten haben, ExcelTabellen erstellen können. Eine Mus­ kelzerrung war für einen Bauern vor

Fotos: Dennis Manarchy/Gallerystock, privat

Interview: Martin Müller


Wer psychisch erkrankt, versucht in der Regel verzweifelt, die Fassade aufrechtzuerhalten.


72 Ratgeber

DAS NEUE URTEIL

Ausbildung: Zu lange Pause, kein Geld Eine Angestellte erhielt für ihren Sohn Ausbildungszulagen, bis er die Matura erlangt und ein Praktikum absolviert hatte. Von März bis Juli 2014 besuchte er die Rekrutenschule, das Studium begann Mitte September. Zwischen Ende des Praktikums und Beginn des Studiums zahlte die Familienausgleichskasse nichts. Das gab Streit bis vor Bundesgericht. Früher reichte es aus, die Ausbildung nach Matura oder Militär zum nächstmöglichen Termin weiterzuführen. Heute jedoch gelten Zeitlimiten, die die Vorinstanz übersah: für übliche unterrichtsfreie Zeit und Schulferien vier Monate, mit Militärdienst fünf, bei Schwangerschaft oder Krankheit 12 Monate.

«Nicht willkürlich» Der junge Mann unterbrach die Ausbildung für sechseinhalb Monate. Laut Bundesgericht können die Zeiten verschiedener Unterbrechungsgründe nicht addiert werden. Denn Sinn der neuen Bestimmung sei, «bezahlte» Ausbildungsunterbrüche auf objektiv notwendige einzugrenzen. Das führe weder zu rechtsungleicher noch zu willkürlicher Behandlung. Daher gaben die Bundesrichter der Familienausgleichskasse recht: Sie musste während der fraglichen Zeit nicht zahlen. Gitta Limacher Bundesgericht, Urteil vom 6. Juli 2015 (8C_611/2014)

30 Jahren viel einschneidender als eine psychische Erkrankung. Heute ­ ist es umgekehrt.

Kollegen, was denkt die Chefin? Das verzögert eine Rückkehr, obwohl es dadurch ja nur schlimmer wird.

Vorurteil 4: Wer psychisch krank ist, kehrt nicht mehr an seinen Arbeitsplatz zurück. Leider ist das immer noch viel zu oft Realität. Die Schwelle, ab der man sich Hilfe holt, ist immer noch unglaublich hoch. Viele Betroffene machen diesen Schritt sehr spät. Sie versuchen ihre Arbeitsleistung so lange wie möglich aufrechtzuerhalten und vernachlässigen eher Privatleben und Freizeit. Im fortgeschrittenen Krankheitsstadium dauert aber der Heilungsprozess länger. Wer eine Lungenentzündung drei Monate unbehandelt lässt, muss auch mit Komplikationen und einer längeren Heilungsphase rechnen. Dazu kommt: Viele Arbeitgeber sind überfordert damit, die richtigen Hilfestellungen für eine Rückkehr zur Arbeit zu geben. Wer immer Rückenschmerzen hat und dann wegen Hexenschuss ausfällt, für den besorgt man nachher ein Stehpult oder konsultiert zumindest die Suva. Im psychischen Bereich sind wir vielerorts noch nicht so weit. Dabei ­gäbe es verschiedene Möglichkeiten, zum Beispiel mit einer teilweisen Krankschreibung. Die durchschnittliche Dauer einer Krankschreibung bei psychischen Leiden ist in der Schweiz erschreckend lang, jedenfalls länger, als es im Durchschnitt dauert, die Leiden zu behandeln. Bei vielen sitzt die Angst tief im Nacken: Was denken die

Vorurteil 5: Wer zur Arbeit zurückkehrt, ist nicht mehr gleich belastbar wie vorher und bekommt einen Job mit weniger Verantwortung. Wer nach einer Lungenentzündung zurück an den Arbeitsplatz kommt, von dem erwartet der Chef auch nicht am ersten Tag 120-prozentigen Einsatz. Bei psychischen Belastungen ist es ähnlich, allerdings läuft der Ge­ nesungsprozess tatsächlich oft lang­ samer als bei vielen körperlichen E rkrankungen. Depressionen oder ­ Angstzustände haben sich über Monate aufgebaut und sind nicht innert kurzer Zeit einfach wieder weg. Arbeitgeber tun deshalb gut daran, zu Beginn des Wiedereinstiegs die Erwartungen zu dämpfen. Oft setzen sich aber die Betroffenen selbst enorm unter Druck: Man fängt zwar mit einem Halbtagespensum wieder an, erwartet von sich selbst aber schon wieder vollen Einsatz und will das auch allen anderen beweisen. Das kann nicht gut gehen. Vorurteil 6: In der psychiatrischen Klinik wird man erst recht krank, weil man nur um Leute ist, denen es noch schlechter geht. Dieser Mythos erschwert es vielen, rechtzeitig Hilfe zu suchen. Erzählen Sie mal im Bekanntenkreis, dass Sie Antidepressiva nehmen – Sie werden viele vorgefasste Meinungen zu hören bekommen von Leuten, die selber

«Wenn die Psyche streikt» Welche Arbeitsbedingungen lösen eine psychische Erkrankung aus oder fördern sie? Dieser mit Pro Mente Sana herausgegebene Ratgeber zeigt, wie Betroffene, Teamkollegen und Vorgesetzte die Symptome frühzeitig erkennen können, und er weist auf konkrete Hilfsangebote sowie die vielfältigen Behandlungsmöglichkeiten in der Schweiz hin. Thomas Ihde-Scholl: «Wenn die Psyche streikt»; 280 Seiten, Fr. 39.90 (für Beobachter-Mitglieder Fr. 31.50)

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Beobachter 21/2015

noch nie betroffen waren. Noch immer Depressionen klingen in der Regel meinen viele fälschlicherweise, dass wieder ab. Falls es überhaupt eine Antidepressiva die Persönlichkeit ver­ Rente braucht, dann nur auf Zeit, um­ ändern, dass sie süchtig machen. so mehr, als die Mehrheit der Betrof­ Auch zu psychiatrischen Kliniken fenen ohnehin wieder arbeiten will. gibt es viele vorgefasste Meinungen, Zudem hat die IV in den letzten Jahren obwohl sich in den letzten 50 Jahren ihren Fokus verändert und fördert enorm viel verändert wenn immer möglich hat. Früher waren es die Wiedereingliede­ Die wenigsten Anstalten, die vorwie­ rung in den Beruf. wissen, wie sich gend dem Wegsperren Allerdings ist die IV dienten. Heute gibt es eine Depression fast ebenso stigmati­ eine ganze Bandbreite wie die psychische wirklich anfühlt. siert von sehr unterschied­ Erkrankung. Wenn ein lichen Behandlungs­ Psychiater erwähnt, methoden, je nach individueller Er­ dass eventuell eine vorübergehende krankung. Für die grosse Mehrheit der Rente oder eine von der IV bezahlte Betroffenen ist sowieso keine statio­ Massnahme eine Lösung sein könnte, näre Behandlung nötig, und im ambu­ löst das bei vielen Betroffenen eine lanten Bereich haben wir im weltwei­ heftige Reaktion aus: Ich bin doch kein ten Vergleich ein sehr grosses und Fall für die IV! Dabei sind die Arbeit­ vielfältiges Angebot. geber vielfach froh um diese Unter­ stützung, etwa durch einen von der IV Vorurteil 7: Nur weil jemand bezahlten Coach, der direkt am Ar­ schwermütig ist, braucht er doch beitsplatz prüft, welche Entlastung nicht gleich eine IV-Rente. sinnvoll wäre.

Vorurteil 8: Nichts lässt sich so gut vorspielen wie psychische Probleme. Das lädt zum Missbrauch geradezu ein. Studien zeigen das Gegenteil: Die meisten Leute, die Krankheiten vor­ täuschen, simulieren körperliche Lei­ den. Selbst Simulanten wollen nicht die Stigmatisierung durch eine psy­ chische Erkrankung erleben. Es ist ­wesentlich seltener, dass jemand eine Depression oder gar eine Schizophre­ nie vorspielt als ein körperliches Lei­ den. Es ist auch nicht einfacher: Wir alle hatten schon mal Rückenweh, aber wie sich eine Depression wirklich anfühlt, wissen nur die wenigsten. Hingegen kommt es vor, dass Betroffe­ ne die vorhandenen Symptome über­ betonen – meist aus Angst, dass ihnen sonst die Hilfe versagt bleibt. Nach dem Motto: Wenn ich zugebe, dass es mir schon etwas besser geht, schreibt mich der Arzt sicher gleich wieder ge­ sund, und dann muss ich morgen zur n Arbeit. Das löst Panik aus.

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74 Ratgeber

In Zahlen

6534

Juristendeutsch

Schneeball­ system Bei einem Schneeball­ system wird Teilnehmern eine Prämie versprochen, wenn sie Leute anwerben, die bereit sind, etwas zu kaufen. Doch das Produkt ist oft kaum marktfähig – wer mitmacht, verdient primär am Anwerben neuer Personen. Da alle Teilnehmenden ein Mehr­ faches an Neukunden gewinnen müssen, fällt das System rasch in sich zusammen. Schneeball­ systeme verstossen gegen das Bundesgesetz gegen den unlauteren Wett­ bewerb und sind verboten. Norina Meyer

Honorarforderung

Darf der Tierarzt die Katze zurückbehalten? Unsere Katze war zur Behandlung und Überwachung beim Tierarzt. Als wir sie abholen wollten, verlangte er sein Honorar bar auf die Hand. Sonst würde er die Katze zurückbehalten. Darf er das? Nein. Der Tierarzt darf zwar sein Geld sofort bar verlangen, wenn nicht Bezahlung gegen Rechnung abgemacht ist. Doch er darf die Katze Doris Huber nicht zurückbehalten. Fachbereich Er hat kein sogenanntes Konsum Retensionsrecht. Als Retensionsrecht bezeichnet man das Recht eines Gläubigers, eine Sache, die er schon bei sich hat, zurückzubehalten, bis der Schuldner seine Forderung bezahlt hat. Damit kann sich der Gläubiger absichern und auch Druck machen. Geregelt ist dieses Recht in den Artikeln 895 bis 898 des Zivilgesetzbuchs (ZGB). Damit der Gläubiger dieses Recht geltend machen kann, muss die Forderung fällig sein. Und die Sache, die er zurückbehalten will, muss mit der Forderung zusammenhängen. Garagisten zum Beispiel können dieses Retensionsrecht ausüben: Sie dürfen ein Auto zurückbehalten, bis der Eigentümer die Reparatur bezahlt hat. Doch das Retensionsrecht darf nur ausgeübt werden an Sachen, die verwertbar, sprich pfändbar sind. Genau das trifft

auf Tiere, die man zu Hause hält, nicht zu – beispielsweise Katzen oder Hunde, aber auch Nagetiere, Ziervögel oder Fische im Aquarium. Sie sind keine Sachen und gelten als sogenannte unpfändbare Kompetenzstücke. Deshalb darf der Tierarzt die Katze nicht zurückbehalten, sondern er muss sie Ihnen wieder übergeben, selbst wenn Sie seine Rechnung im Moment nicht bar zahlen können. Ein Zuchtpferd kann als Pfand dienen Gleiches gilt für eine Tierpension. Wenn zum Beispiel eine Halterin den Familienhund während der Ferien in einem Tierheim unterbringt, darf das Heim ihn nicht zurückbehalten, bis die Eigentümerin die Kosten für die Unterkunft, Versorgung und Pflege bezahlt hat. Anders sieht es jedoch bei Tieren aus, die man nicht im häuslichen Bereich, sondern vor allem zu Vermögenszwecken oder gewerbsmässig hält, also zum Beispiel Zuchtkatzen und -hunde, oft auch Pferde. Solche Tiere können gepfändet werden. Deshalb darf der behandelnde Tierarzt sie als Pfand zurückbehalten, bis seine Honorarrechnung bezahlt ist.

Fotos: Peter Cederling/Folioimages/Plainpicture, Gettyimages

Personen wandten sich 2014 an die Ombudscom, die Schlichtungsstelle Telekommunikation. Das sind 10 Prozent mehr als 2013. An die Ombudscom können Konsumenten gelangen, wenn sie mit ihrem Telekomanbieter im Streit sind. Sie müssen allerdings zeigen können, dass sie sich zuerst selber um eine Einigung bemüht haben. In 1178 Fällen hat die Ombudscom einen Anbieter zur Stellungnah­ me aufgefordert. Wenn sie dann einen Schlich­ tungsvorschlag ausarbei­ tet, kommt es in rund 80 Prozent der Fälle zu einer Einigung. Doris Huber


Ratgeber 75

Beobachter 21/2015

Darlehen

Krankenkasse

Sollen wir den Vertrag beglaubigen lassen?

Wegen Migräne keine Zusatzversicherung?

Beobachter  helponline

Ich gewähre meinem Lebenspartner ein Darlehen, das er mir in monatlichen Raten zurückzahlen muss. Reicht dafür ein normaler Darlehensvertrag oder sollen wir ihn notariell beglaubigen lassen?

Helfen Sie sich selbst!

Ich möchte bei meiner Krankenkasse eine Zusatzversicherung abschliessen. Doch die Kasse lehnt mich ab, weil ich früher an Migräne litt. Das hat sich aber inzwischen sehr gebessert. Dürfen die mich ablehnen?

Ein von beiden Parteien unterzeichneter Darlehensvertrag reicht völlig. Eine notarielle Beglaubigung bringt in diesem Fall keinen Vorteil. Das Marcel Weigele Notariat könnte bloss Fachbereich die Echtheit der UnterFinanzen und Steuern schriften beglaubigen oder allenfalls eine beglaubigte Kopie des Originalvertrags erstellen. Dadurch wird der Vertrag nicht besser und das Darlehen nicht sicherer. Sie sind frei dabei, was Sie miteinander vereinbaren. Zum Beispiel, ob Sie Zinsen verlangen. Den Rückzahlungsmodus können Sie ebenfalls nach Gutdünken festlegen. Es ist möglich, ein unbefristetes Darlehen zu gewähren, eine feste Laufzeit für den ganzen Betrag oder regelmässige Ratenzahlungen abzumachen. Wichtig ist, dass Sie das Vereinbarte schriftlich im Vertrag festhalten. Am besten laden Sie im Internet einen Beobachter-Mustervertrag herunter und ändern ihn auf Ihre Bedürfnisse ab: www.helponline.ch → Finanzen und Steuern → Darlehen unter Privaten → Darlehensvertrag

Clever beraten heisst für uns, dass Sie schnell und einfach an verlässliche und prak­ tische Informationen kommen, und zwar rund um die Uhr. Dafür ist unsere Internetplattform Helponline.ch da. Haben Sie Fragen zum Kündigungsschutz, zum richtigen Vor­ gehen bei Mietstreitig­ keiten, zur optimalen Regelung von Konku­ binatsverträgen? Auf www.helponline.ch finden Sie die Antwor­ ten zu den wichtigsten Rechtsfragen aus dem Alltag – inklusive Gesetzesartikeln, Checklisten, Links und Musterbriefen. Wir empfehlen Ihnen darum, immer zuerst Help-Online zu konsultieren.

Ja, die Krankenkasse darf Sie völlig legal abweisen, da es sich nicht um eine obligatorische Versicherung handelt. Die Kasse hat kein Inte­ Nathalie Garny resse, Sie zu versichern, Fachbereich da eine Wahrscheinlich­ Sozialversiche­ rungen keit besteht, dass Sie wegen Ihres früheren Leidens die Versicherung in Anspruch nehmen. Sie sind als Vertragspartnerin schlicht nicht attraktiv für die Kasse. Trotzdem sollten Sie nicht aufgeben. Stellen Sie Aufnahmegesuche auch an andere Kassen. Nicht alle haben die gleichen Prüfungskriterien. Versuchen Sie es auch nochmals bei der Leitung des Kundendienstes der Kasse, die Sie abgelehnt hat. Ihr Hausarzt könnte schriftlich bestätigen, wie lange Sie bereits migränefrei sind. Sie könnten auch das Gesuch stellen, dass man Sie mit einem Gesundheitsvorbehalt aufnimmt. Das heisst: Sie sind dann zwar versichert, die Krankenkasse übernimmt aber keine Kosten, die im Zusammenhang mit Migräne anfallen.

Scheidung

Darf die Exfrau meinen Namen tragen? Ich ärgere mich darüber, dass meine Exfrau noch immer heisst wie ich. Kann ich rechtlich durchsetzen, dass sie meinen Nachnamen ablegen muss?

Nein. Nur die Exfrau selbst kann darüber entscheiden, ob sie wieder ihren Ledignamen annehmen will oder nicht. Sie ist seit 2013 dafür auch nicht mehr an eine Frist nach der Scheidung gebunden. Es reicht, wenn sie ihren Wunsch beim Zivilstandsamt meldet. Sie ist also rechtlich nicht verpflichtet, ihren durch Heirat «erworbenen» Namen abzulegen, Alexandra auch wenn Sie das verlangen. Gavriilidis Allerdings kann die Exfrau den Namen nicht «weitergeben»: Wenn sie Fachbereich Familie wieder heiratet, kann sie «Ihren» Namen zwar behalten. Als Familienname kommt er für die neue Ehe aber nicht in Frage. Falls die Exfrau ein Kind bekommt, erhält dieses bei elterlicher Sorge beider Eltern entweder den Ledignamen der Mutter (auch wenn diese noch den Namen des Exmannes trägt) oder den Ledignamen des Vaters.


76 Ratgeber

Erziehung Sterben und Tod gehören auch für Kinder zum Leben. Mit Hilfe der Erwachsenen verarbeiten sie solche Erlebnisse gut. Fragen und Antworten zur Trauerbegleitung.

Mit Kindern trauern

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Text: Gabriele Herfort

ie fünfjährige Lea und der zehnjährige Marc sind er­ staunt: Alle Tanten und Onkel sind zu Besuch, sogar der Bruder vom Grosi ist da. Dabei steht doch gar kein Geburtstag an. Und überhaupt: Die Erwachsenen verhalten sich eigen­ artig. Aus ihren Gesprächen erfahren die Kinder nach und nach, dass das Grosi gestorben ist. Sie wollen alles genau wissen, aber niemand hat jetzt die Geduld, ihnen zu erklären, was vorgefallen ist. Eine typische Situation: Beschäf­ tigt mit ihrer eigenen Trauer, nehmen die Erwachsenen die Kinder oft gar nicht als aktiv Trauernde wahr. Viel­ leicht wollen sie die Kinder auch schützen, sie so gut wie möglich ab­ schotten, um sie nicht zu belasten. Dabei ist es notwendig zu trauern. Es liegt an den Erwachsenen, die Kinder durch diesen Prozess zu begleiten und ihre Fragen zu beantworten. Denn die Trauererfahrungen in der Kindheit legen den Grundstein dafür, auch in Zukunft angemessen mit Ver­ lusten umzugehen.

Wie trauern Kinder? Kinder durchlaufen in ihrer Trauer­ reaktion wie auch die Erwachsenen mehrere Phasen. Dabei gibt es kein festes Schema; der Prozess hängt stark vom Alter und von der Persön­ lichkeit des Kindes ab. Generell zei­ gen und leben Kinder Trauer eher «tropfenweise», also weniger konti­ nuierlich als Erwachsene. Sie können von einem Moment zum andern hem­ mungslos weinen und dann lachen und intensiv spielen.

Was heisst das fürs Überbringen einer Todesnachricht? Kinder haben ein Recht zu erfahren, was geschehen ist. Doch eine unver­ mittelte Todesnachricht kann einen Schock auslösen. Entsprechend wich­ tig ist es, sie den Kindern in einer ru­ higen Situation nahezubringen. Wenn

Eine wichtige Erfahrung: als Kind lernen, mit Verlusten umzugehen


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Beobachter 21/2015

Wie stellen sich Kinder den Tod vor? Säuglinge bis zehn Monate

sie innerlich erstarren und den Todesfall leugnen, ist das kein Trotz. Vielmehr dient ein solches Verhalten zur Entlastung und zum Selbstschutz. Auch Schlafstörungen und Alpträume können auftreten. Ebenso ist ein Rückfall in bereits abgelegte Verhaltensweisen wie Daumenlutschen nicht auszuschliessen. Wenn die Angst überhandnimmt, es könnte noch ein geliebter Mensch sterben, sind die Eltern besonders gefordert.

Sollen Eltern ihre Trauer verbergen? Nein. Kinder orientieren sich an den Eltern. Gemeinsam zu weinen und die Gefühle des Kindes in Worte zu fassen kann hilfreich sein. Ein Beispiel: «Es macht dich sehr traurig, dass das Grosi gestorben ist, und deswegen musst du weinen. Ich bin auch sehr traurig und muss weinen.» Kinder lernen so, dass es angemessen ist, Gefühle zu zeigen.

Sollen Kinder die verstorbene Person noch einmal anschauen? Das müssen Eltern und Kinder gemeinsam entscheiden. Wenn die Kinder gut vorbereitet werden und man ihnen etwa erklärt, dass die Toten im Sarg liegen und ihre Haut wie Wachs aussieht, kann der Abschied leichter sein. Den Kindern wird klar, dass das Grosi nicht mehr zurückkommt, sondern unter der Erde bleibt.

Foto: L. Ancheles/Johner/Plainpicture

Sollen Kinder an der Beerdigung teilnehmen? Das hängt von den Umständen ab – und vom Alter des Kindes. Fachleute sind sich einig: Je mehr die Kinder in den gesamten Trauerprozess eingebunden werden, umso besser können sie auch Abschied nehmen und ihre Trauer durch Handlungen und Rituale verarbeiten. Wenn das Kind an der Beerdigung teilnehmen möchte und von einer Vertrauensperson begleitet wird, gibt es keinen Hinderungsgrund. Wichtig ist allerdings: Kein Kind sollte gegen seinen Willen zum Begräbnis gehen müssen.

Kann ein früh erlebter Tod beim Kind ein Trauma auslösen? Wenn der Tod nicht beim Namen genannt wird, fantasieren Kinder darüber, was geschehen sein könnte. Falls Erwachsene den Tod ausblenden, kann sich das aufs Kind auswirken. Es spürt dann, dass etwas ganz Schlimmes vorgegangen sein muss, und bekommt Angst. Wenn ein Kind begleitet Abschied nehmen kann, ist das Risiko einer Traumatisierung, etwa durch Schuldgefühle, erheblich kleiner.

Was hilft trauernden Kindern? Nähe, Zeit und Raum für Spiele zum Thema Begräbnis und Tod sind elementar. Situations- und kindgerechte Rituale unterstützen den Trauerprozess ebenso. Sie bieten den Kindern eine Möglichkeit, ihre Trauer individuell auszudrücken. Beispiele: Blumen auf das Grab legen, ein Grosi-­ Erinnerungsessen organisieren mit Bildern und Erzählungen, mit dem Wanderstock des Grossvaters dessen Lieblingsspazierweg abschreiten und dabei intensiv an ihn denken.

Was tun, wenn Kinder aus der Trauer nicht mehr herausfinden? Es ist durchaus möglich, dass vor allem ältere Kinder ihre Einsamkeit und Wut in sich hineinfressen und sprachlos sind. Diese Reaktion kann für eine gewisse Zeit angemessen sein. Sollte sie allerdings anhalten, kann es sich um eine Depression handeln, die professionelle Hilfe notwendig macht.

Sollen Eltern anders reagieren, wenn nicht ein Mensch stirbt, sondern das geliebte Haustier? In erster Linie haben die Eltern die Emotionen der Kinder ernst zu nehmen und den Tod nicht mit den Worten abzutun: «Es war ja nur ein Tier.» Auch hier helfen Rituale wie eine feierliche Begräbniszeremonie. Im gemein­ samen Gespräch lassen sich Ideen entwickeln, wie man das geliebte Büsi in guter Erinnerung behalten kann.

Schon sie spüren die Veränderungen im Umfeld bei einem Todesfall. Helfen können ihnen stabile Bezugs­ personen und viel Nähe.

Kleinkinder zwischen zehn Monaten und zwei Jahren Sie können den Tod schon benennen, aber noch nicht begreifen. Sie sind noch sehr auf Bezugspersonen fixiert und haben Angst, verlassen zu werden. Einfache Worte wie «Grossmama ist nicht mehr da» wirken tröstlich. Viel Zuwendung und Nähe sind wichtig.

Kinder zwischen zwei und sechs Das Wort «Tod» ist geläufig, doch sie gehen von der Rückkehr des Verstor­ benen aus. Deshalb sagen sie im Streit auch: «Du sollst tot sein», meinen aber, man solle verschwinden. Sie beziehen alles auf sich und fühlen sich eventuell schuldig am Todesfall. Auf ständige Fragen («Warum ist das Grosi tot?») sollten Eltern stets geduldig antworten. Wenn sie wiederholt erklären, Grosis Körper habe aufgehört zu funktionie­ ren, können Kinder besser begreifen, dass es nicht wiederkommt.

Kinder zwischen sechs und zwölf Die Bedeutung des Todes ist klar. Die Kinder haben ein sachlich nüchternes Verständnis: Sie möchten wissen, wie sich der Körper der Toten verändert, verstehen es aber nicht ganz. Verlustund Trennungsängste können aufkom­ men, auch weil ihnen bewusst wird, dass jeder sterblich ist. Eltern sollten genau auf diese Gefühle achten und viel über solche Ängste sprechen.

Jugendliche Sie haben dieselben Vorstellungen vom Tod wie Erwachsene. Sie beschäftigen sich vor allem mit den Beschwerden des Sterbens und was mit ihnen nach dem Tod geschieht. Sie sind verletzlich und möchten nicht mit diesen Gefühlen konfrontiert werden. Aufkommende Aggressionen sollte man zulassen, ihnen auf den Grund gehen und die Teenager in alles einbeziehen. Kinderbücher zum Thema www.kinderbuch-couch.de → Kindliche Gefühlswelt → Tod und Trauer


78 Ratgeber

Beobachter 21/2015

Wohlbefinden Unsere Augen sind nicht gemacht für stundenlange Bildschirmarbeit. Diese simplen Übungen helfen bei Beschwerden.

Der Draht zur Katze «Meine Katze Zora ist vor vier Tagen verschwunden», erzählt eine Abonnentin aus Chur an der Telefon­ hotline des Beobachters. «Oje! Das tut mir aber leid», erwidere ich. «Ich habe auch eine Katze, die manchmal abhaut. Haben Sie das Tier denn schon gesucht?» – «Ja, natürlich. Aber als ich sie gestern immer noch nicht gefunden hatte, ging ich zu einer Tierkommunika­ torin.» – «Was ist denn das?», frage ich verwun­ dert. «Die kann mit Tieren sprechen», sagt die Frau.

Und wo war Zora? «Funktioniert das auch mit Katzen, die wegge­ laufen sind?» – «Ja, sicher. Sie kommuniziert mit Telepathie, wenn Sie ver­ stehen, was ich meine.» – «Äh, ja, so ungefähr», antworte ich. «Hat das bei der Suche nach der Katze geholfen?» – «Ja, die Tier­ kommunikatorin nahm mit Zora Kontakt auf. Dann konnte sie mir sagen, wo Zora ist. Das hat mich 200 Franken gekostet.» – «Ein stolzer Preis. Haben Sie die Katze wenigstens gefunden?» – «Ja», sagt die Anruferin. «Das ist ja super. Dann ist ja alles gut.» – «Nicht ganz. Zora war tot.» – «Oh, das tut mir aber leid», sage ich und frage etwas irritiert: «Und warum rufen Sie denn jetzt bei uns an?» – «Kann ich die 200 Franken von der Tierkommunika­ torin zurückverlangen?» Michael Krampf

Gegen eckige Augen

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Text: Rebecca Wyss

eit Martine Heller* mehr Stress im Job hat, schmerzen ihre Augen schon am Nachmittag. Sie brennen höllisch, und manchmal sieht die PR-Beraterin alles nur noch verschwommen. Auch Andreas Zehntner hat Beschwerden, seine Augen sind oft zu trocken. In der Freizeit reichen ein paar Augentropfen. Bei der Arbeit hilft dagegen gar nichts mehr. Nach wenigen Stunden fühlt es sich an, als hätte ihm jemand Sand in die Augen gestreut. Der Schmerz ist bisweilen so stark, dass sich der Softwareentwickler nicht konzentrieren kann. Die beiden sind nicht allein. Rund die Hälfte aller Bildschirmarbeiter haben nach eigenen Angaben Probleme wie trockene Augen, Kopfschmerzen, Leseschwierigkeiten oder Flimmern, besagt eine Studie des Schweizer Optikerverbands. Augenärztin Melanie Eberle kennt solche Fälle aus der Praxis. Ihr Fazit: «Unsere Augen sind nicht für stundenlange Naharbeit gemacht.» Die künstliche Kurzsichtigkeit Der ständige Blick auf 40 Zentimeter Distanz und der Lichtstress strengen die Augen an. Laut Optikerverband kann es sogar zur sogenannten künst­ lichen Kurzsichtigkeit kommen. Dabei verkrampfen sich die Augenmuskeln im Zustand des Nahsehens. Die Sicht in die Ferne ist dann für eine gewisse Zeit unscharf und wird erst nach Entspannung wieder normal. Und: «Wer am Computer arbeitet, blinzelt deutlich weniger als sonst», sagt Augenärztin Eberle. Gemäss Studien schlägt man rund 20-mal pro Minute *Name geändert

Übung 1: Stärken

Um die Augenmuskula­ tur zu stärken, hält man einen Zeigefinger in etwa 20 Zentimeter Ent­ fernung vor die Augen.

Den Blick auf die Finger­ spitze richten und mit dieser langsam Zahlen oder Figuren in die Luft malen. Immer schneller ausführen, so dass man mit den Augen gerade noch folgen kann.

Übung 2: Lockern

Mit dem sogenannten Akkommodieren lockert man die Augenmusku­ latur. Dafür deckt man das linke Auge mit der linken Hand zu und hält die rechte Hand mit ausgestrecktem Arm vor das rechte Auge.

Nun bewegt man die rechte Hand langsam auf das Auge zu. Dabei stellt man dieses mög­ lichst scharf auf die Handfläche ein, indem man einen Punkt darauf fixiert. Zum Schluss die Hand wieder in Aus­ gangsposition bringen, das Auge folgt ihr dabei.

Einfach, aber bewährt: blinzeln – so schnell und locker wie möglich. Eine Minute sollte reichen. So kann sich wieder ein Tränenfilm über das Auge ziehen. Ganz wichtig auch: alle 30 Minuten die Augen weit öffnen und in die Ferne schauen.

Illustrationen: Beobachter/Anne Seeger

Am Telefon


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Übung 3: Entspannen Zur Entspannung eignet sich das sogenannte Palmieren. Dafür reibt man die Hand­ innenflächen gegeneinander. Dann legt man die warmen Hände nebeneinander und leicht gewölbt über die ge­ schlossenen Augen, ohne die Lider zu berühren. Dabei die Augen locker geschlossen halten. Zwei Minuten ent­ spannen, an nichts denken.

Beim Lichtbaden richtet man das Gesicht mit geschlosse­ nen Augen zur Sonne. Bei schlechtem Wetter reicht auch eine Lampe. Dann den Kopf leicht hin und her drehen, damit das Licht auf verschiedene Stellen der geschlossenen Augen trifft. Je nach Lichtempfindlichkeit drei bis fünf Minuten. Mit der Palmieren-Übung beenden.

Immer entspannend ist ein Augenbad, bevor man zu Bett geht. Einfach mit den Händen mehrere Male kaltes Wasser auf die geschlosse­ nen Augen geben. Mit wär­ merem Wasser wiederholen.

Eine anspruchsvollere Übung ist die Akupressur. Bei dieser arbeitet man an beiden Augen zugleich. Dabei bleiben die Augäpfel ausgespart.

Bei den Augenbrauen fängt man an: Die ausgestreckten Zeigefinger auf die Brauen legen und mit leichtem Druck einige Male die Haut über dem Knochen von oben nach unten und von unten nach oben schieben – so arbeitet man sich entlang der Brauen voran.

Weitere Akupressurpunkte befinden sich links und rechts der Nase auf Höhe der inneren Augenwinkel. Darauf drückt man mit Daumen und Zeigefinger.

Dann, näher an den geschlos­ senen Augen: leicht mit den Mittelfingern in die Vertie­ fung zwischen dem oberen Rand der Augäpfel und dem Knochen der Augenhöhle klopfen – von innen nach aussen. Am unteren Augen­ rand wiederholen, ebenfalls von innen nach aussen.

Freundschaft ist nicht ersetzbar! Ein Original-Medikament oftmals schon.

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Die mit dem Regenbogen

die Lider auf und zu, am Bild­ schirm sind es noch fünfmal pro Minute. Dadurch reduziert sich auch der Tränenfilm auf der Hornhautoberfläche. Diese wird dann nicht mehr konstant mit Sauerstoff versorgt, und Wimpern, Staub und anderes werden nicht mehr ausgewa­ schen. Ähnliches beobachteten Forscher bei Kindern, die in­ tensiv Computerspiele spielen. PC macht Augen nicht kaputt Bei Bürolisten spricht man vom «Office Eye Syndrome». Die Augen tränen und fühlen sich müde und trocken an. «Das lässt sich beheben», sagt Exper­ tin Eberle. Sie wehrt sich gegen die weit verbreitete Vorstellung, dass Bildschirmarbeit die Seh­ leistung konstant verschlech­ tert: «Das ist wissenschaftlich nicht belegt.» Dennoch solle man die Be­ schwerden ernst nehmen und gegebenenfalls Hilfe suchen. Für leichte Fälle von Trocken­ heit rät sie, sich ein Tränen­ ersatzmittel aus der Apotheke zu besorgen. Lüften sei auch wichtig, genauso wie die rich­ tige Haltung am Computer. Wie andere Experten empfiehlt sie Entspannungsübungen (siehe Zusammenstellung auf dieser Doppelseite).


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Schaufenster

Mitteilungen unserer Anzeigenkunden

Snow & Safety – sicher unterwegs im Schnee mit Transa Winter ist nicht nur die Zeit für abwechslungs­ reiche Touren in der verschneiten Gebirgs­ landschaft, sondern auch Lawinenzeit. Transa Backpacking AG setzt auch dieses Jahr den Themenschwerpunkt im Winter auf Sicherheit und Prävention im Wintersport. In Zusammen­ arbeit mit der Partnerbergschule Höhenfieber werden Infoabende und Kurse zum Thema Lawinensicherheit angeboten. In den Filialen

bietet Transa ein erweitertes Wintersportsortiment und kompetente Beratung. Ausserdem besteht die Möglichkeit, Schneeschuhe und Lawinen-Sicherheitsprodukte zu mieten und zu testen. Weitere Informationen unter www.transa.ch/snowsafety

Leichter einschlafen– besser durchschlafen

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ProfiLine Smart Command – intuitive Bedienung für Profi Steam und Backöfen Der Profi Steam und die Backöfen aus der neuen Premium-Gerätelinie ProfiLine von Electrolux können neu via Smart Command, ähnlich wie ein Smartphone, bedient werden. Mit Touch, Slide und Scrolldown-Menü können die verschiedensten Funk­ tionen des Geräts einfach angewählt und intuitiv bedient werden. Einstellungen für bis zu 220 Gerichte und rund 60 vorprogrammierte Menüs sind gespeichert. Das Multicolor-Display zeigt animierte Fotos. Die Schriftgrösse auf dem Display kann individuell angepasst und das Startdisplay mit selber programmierten Schnellzugriffen ergänzt werden. Einmal ausgeschaltet, ist auf dem Gerät nur die Zeit sowie der Ein-/Ausschaltknopf sichtbar, was für ein klassisch-minimalistisches Design sorgt. Weitere Informationen finden Sie unter www.electrolux.ch


Ratgeber Psychologie 81

Beobachter 21/2015

Liliane F.: Für meinen Lebenspartner ist Sex das Wichtigste in einer Beziehung. Er redet auch täglich darüber. Mich belastet das zunehmend. Was kann ich tun?

«Kann sexuelle Lust krankhaft sein?»

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ie Sexualität kann tatsächlich zu einer Verhaltenssucht werden, die nicht nur Lust, sondern auch Leiden verursacht – beim Sexsüchtigen selbst, aber auch beim Partner und in der Familie. Ihr Partner ist wohl kein schwerer Fall eines Sexsüchtigen. Sie schreiben, dass er sehr engagiert und erfolgreich in seinem Beruf arbeitet, und Sie berichten nichts von Bordellbesuchen oder Pornokonsum im Internet. Trotzdem kann es ein Zeichen für seine übermässige Fixierung auf das Sexuelle sein, wenn Sie das Gefühl haben, nur noch als Sexobjekt ge- oder sogar missbraucht zu werden, und spüren, dass andere Aspekte der Beziehung zu kurz kommen. Eine Liebes­ beziehung besteht ja nicht nur aus sexuellen Begegnungen, sondern es gehören schöne Momente ohne Sex dazu. Sie sollten Ihre Gefühle also ernst nehmen (ohne dem Partner Sexsucht vorzuwerfen). Versuchen Sie, genauer und konkret zu benennen, was Ihnen in der Beziehung fehlt, und sagen Sie ihm das offen. Wenn die Grundstimmung in der Beziehung danach Ihren Bedürfnissen stärker entspricht, besteht eine grosse Chance, dass Ihre Freude an der sexuellen Begegnung wieder zurückkommt. Wenn Sie allein nicht weiterkommen, sollten Sie die Unterstützung einer Paar- oder Sexualtherapeutin in Anspruch nehmen. Wie oft machens die andern? Der US-Psychologe Patrick Carnes forscht seit Jahrzehnten auf dem Gebiet der Sexsucht. Dass gesunde Menschen ein immer sich erneuerndes Bedürfnis nach sexueller Begegnung haben, ist normal und selbst dann keine Sucht, wenn es überdurchschnittlich häufig der Fall ist. Die Schweizer sollen laut Umfrage durchschnittlich dreimal pro Woche Sex haben. Die Häufigkeit sexueller Aktivität bewegt sich aber je nach Individuum und Umständen in einem breiten Band zwischen «nie» und «täglich». Sexualität sollte als natürliche Lebens­ äusserung Freude machen. Wenn die Freiheit verloren geht und der Sexualtrieb zum Zwang wird, beginnt aber das Leiden an der Sexua­ lität. Erst dann spricht man von Sexsucht. Die Betroffenen werden zu Sklaven ihrer Sex-

«Sexsüchtige fühlen sich nach ihren Exzessen oft schlecht und werden immer einsamer.» Koni Rohner, Psychotherapeut FSP

besessenheit. Und wie bei allen Süchten muss die Dosis immer wieder gesteigert werden, um etwas zu empfinden. Ein Anzeichen für Sexsucht ist es bereits, wenn der Liebespartner nur noch dem Lustgewinn dient und die übrigen Aspekte einer Beziehung in den Hintergrund geraten. Exzessive Selbstbefriedigung, unersättlicher Pornokonsum und häufige Besuche bei Prostituierten sind Zeichen einer Suchtentwicklung. Bei sexsüchtigen Frauen steht häufiger Partnerwechsel, oft mit Unbekannten, im Vordergrund. Besonders leicht verlieren sich Sexsüchtige in der Internetsexualität. Sexsucht macht keinen Spass. Betroffene fühlen sich nach ihren Exzessen oft schlecht, werden innerlich immer einsamer, müssen ihre Sucht verbergen, vernachlässigen häufig Familie, Beruf und Freunde. Männer geraten nicht selten auch in finanzielle Engpässe, denn die Sexindustrie kostet. Wer seine Sexsucht erkennt, sollte seine Scham überwinden und therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Fünf Dinge, die auf Sexsucht hindeuten n Sexualität und Erotik sind für Betroffene das Wichtigste im Leben. n Sie haben schon versucht, eine sexuelle Aktivität zu stoppen, und sind gescheitert. n Betroffene beobachten, dass sie bei Sex oder Erotik immer neue Kicks brauchen und die Dosis steigern müssen. n Sie fühlen sich nach sexuellen Aktivitäten niedergeschlagen. n Betroffene haben schon wichtige Teile ihres Lebens wegen Sex vernachlässigt (Job, Partnerschaft, Familie, Freunde, Hobbys). Buchtipp Kornelius Roth: «Sexsucht. Ein Ratgeber für Betroffene und Angehörige»; Verlag Christoph Links, 2012, 216 Seiten, Fr. 21.90 Internet Den Test «Bin ich sexsüchtig?» finden Sie unter www.bit.ly/1gr7bt4 Den ausführlichen Test in Englisch gibt es unter www.bit.ly/1u6Vcaf

Haben Sie psychische oder soziale Probleme? Schreiben Sie an: Koni Rohner, Beobachter, Postfach, 8021 Zürich; koni.rohner@beobachter.ch


82 Ratgeber

Mietwohnungen werden vermehrt zum Kauf angeboten. Doch was nach Schnäppchen aussieht, kann teuer werden. oris Meier* verliebte sich auf den ersten Blick in die Wohnung. «Verwirklichen Sie Ihren Wohntraum in der Bel-Etage eines Jugendstilhauses. Letztmals 2010 umfassend saniert», hiess es im Hochglanzprospekt. Über Jahrzehnte lebten hier Mieter, nun kamen die hübschen Altbauwohnungen in Form von Stockwerkeigentum auf den Markt. Fredy Meier* liess sich von der Euphorie seiner Frau sofort anstecken. «Wir investieren noch 50 000 Franken für Küche und Bad, dann wird es richtig schick», prophezeite er. Heute, zwei Jahre später, sind die Renovationsarbeiten weiterhin im Gang. «Nach jedem baulichen Pro­ blem, das wir lösen liessen, tauchten zwei neue auf», sagt Doris Meier. Es waren Mängel der gröberen Sorte, ­etwa schwarzer Schimmel unter dem Parkett. Auch bei den Wasserleitungen und den gemeinschaftlichen Anlagen wie Heizung und Fassade ist dringender Handlungsbedarf ausgewiesen. Das ist keine Überraschung für den Zürcher Bauherrenberater Thomas Wipfler: «Bei älteren Liegenschaften kommt es öfter vor, dass der Gebäudeunterhalt über Jahre vernachlässigt wurde», sagt der Präsident der Kammer unabhängiger Bauherrenberater. Häufig lässt der Zustand neuralgischer Bauteile zu wünschen übrig. Dazu zählen Dach, Fenster und Fassade, Leitungsstränge für Wasser und Abwasser oder Gebäudetechnik.

Die Mängel werden ausgeschlossen Laien sind vielfach nicht in der Lage, das wahre Ausmass des aufgestauten Unterhalts und der damit verbundenen Folgekosten richtig einzuschätzen. Vergebliche Liebesmüh wäre es, den Verkäufer für irgendetwas haftbar machen zu wollen. Denn bei Eigentumswohnungen in älteren Liegenschaften sind die Garantie- und Rügefristen meist längst abgelaufen, und es gilt *Name geändert

Schicker Altbau, böses Erwachen

das gleiche Prinzip wie bei der Auto­ occasion: «Gekauft wie gesehen.» In der Schweiz ist es üblich, dass bei älteren Häusern oder Wohnungen die Gewährleistung für Mängel im Kaufvertrag ausgeschlossen wird. Das Einzige, was sich nicht ausdrücklich wegbedingen lässt, ist die Haftung bei Arglist: wenn also der Verkäufer Mängel «arglistig verschwiegen» hat, wie es in Artikel 199 des Obligationenrechts heisst. Ein solcher Tatbestand wäre etwa erfüllt, wenn dem Verkäufer bewusst ist, dass von den Küchenapparaten kaum noch einer richtig funktioniert, und er dieses Wissen unterschlägt. Doch solche Arglist lässt sich nur schwer beweisen.

Viele gutgläubige Käufer meinen, dass sie bei Altbauten gewisse Normen und Standards einfordern können. Sie irren sich. Zum Zeitpunkt des Bauens sind zwar grundsätzlich die anerkannten Regeln der Baukunde einzuhalten. In der Praxis bleibt es aber um-

Beobachter buch Mathias Birrer: «Stockwerkeigentum. Kauf, Finanzierung, Regelungen der Eigentümergemeinschaft»; 6., aktualisierte Auflage, 2013, 256 Seiten, 38 Franken (für Beobachter-Mitglieder Fr. 29.90). Beobachter-Edition, Tel. 043 444 53 07, www.beobachter.ch/buchshop

foto: Désirée Good/Sodapix

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Text: Jürg Zulliger


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Beobachter

tipp

Kauf einer Altbauwohnung: Die Checkliste Selbst klingende Versprechen wie «im Jahr 2010 umfassend saniert» sind höchst vage. Im Fall des Ehepaars Meier stand das lediglich im Prospekt, nicht im Vertrag. Zudem lassen solche Aussagen viel Inter­ pretationsspielraum offen. Vielleicht meinte der Verkäufer mit «umfassend» lediglich neue Wandanstriche, aber nicht Ersatz der alten Heizung oder Sanierung der fast hundertjäh­ rigen Fassade.

stritten, welche Regeln oder Normen darunterfallen. Beispiel Schallschutz: Es gibt zwar eine Norm des Schweizerischen Ingenieur- und Architektenvereins (SIA), die seit 2006 zwischen den Mindestanforderungen und dem erhöhten Standard für Stockwerk­ eigentum unterscheidet. «In der Regel muss man aber froh sein, wenn die höheren Standards – wenn überhaupt – in Neubauten erfüllt sind», sagt Thomas Oberle, Jurist beim Hauseigen­ tümerverband Schweiz (HEV). Ein Ausweg bleibt: dass sich die Käufer gewisse Eigenschaften der Wohnung schriftlich zusichern lassen. Denn als Käufer kann man sich nur auf das berufen, was schriftlich im Vertrag zugesichert wurde.

Ein Auge auf die Nebenkosten werfen HEV-Jurist Oberle rät, neben dem baulichen Zustand auch die rechtlichen Grundlagen und die Dokumente zum Stockwerkeigentum sorgfältig zu prüfen (siehe «Kauf einer Altbauwohnung»). «Vielen Käufern ist nicht bewusst, dass die Kostenaufteilung für Unterhalt und Reparaturen, teils auch für Nebenkosten und Hauswartung, nach der Wertquote erfolgt.» Wer sich eine teurere Wohnung leistet, wird entsprechend mehr zur Kasse gebeten. Über diese Aspekte sollte man sich beim Kauf Rechenschaft ablegen, statt später den Ärger zu haben. Zudem ist oft der Erneuerungsfonds der Stockwerkeigentümer­ gemeinschaft zu schwach dotiert. Bei erst kürzlich umgewandelten Mietwohnungen startet dieser Fonds bei null, und es braucht Jahre, bis überhaupt gewisse Reserven da sind. Auch deshalb lohnt es sich zu klären, warum das Haus oder die Wohnung überhaupt verkauft wurde. «Vielleicht scheute sich der frühere Eigentümer einfach, grössere Sanierungen an die Hand zu nehmen», warnt Dominik Romang, Präsident des Schweizer Stockwerkeigentümerverbands. Wohnungsbesitzerin Doris Meier kommt rückblickend zu einem klaren Schluss: «Der Kaufpreis war alles andere als ein Schnäppchen. Gemessen an den Folgekosten sind wir schlicht und einfach über den Tisch gezogen worden.»

Dokumentation: Mit der Übergabe der Liegenschaft dürfen keine wichtigen Informationen verloren gehen. Die neuen Eigentümer sollten einen voll­ ständigen Satz an Bauplänen, Angaben zu den verwendeten Bauteilen und den beteiligten Baufirmen verlangen. Gebäudeanalyse: Der bauliche Zustand eines Altbaus muss vor dem Kauf besonders gründlich geprüft werden, am besten durch einen Archi­ tekten oder einen unabhängigen Fach­ mann. Neuralgische Teile sind: Dach, Fassade, Wärmeisolation, Haustechnik. Rechtsgrundlagen: Die Begründungs­ urkunde zum Stockwerkeigentum sowie das Reglement und den Kauf­ vertrag für die Stockwerkeinheiten sollte man juristisch prüfen lassen. Eigenverantwortung: Für Unterhalt und Werterhaltung sind letztlich die Eigentümer selbst verantwortlich. Sie müssen die Finanzen planen und Ent­ scheide fällen, wer die Erneuerungs­ planung übernimmt und wie sich das nötige Know-how bereitstellen lässt. Das heisst: Wahl einer qualifizierten Verwaltung, wenn nötig Anpassung des Reglements, Ernennung von Aus­ schüssen oder Kommissionen et cetera. Reserven bilden: Ein Erneuerungs­ fonds ist gesetzlich nicht vorgeschrie­ ben, aber sehr zu empfehlen. Für die Dotierung gelten als Faustregel 0,5 bis 1 Prozent des Gebäudeversiche­ rungswerts – und zwar jährlich. Falls besonders kostspielige Massnahmen fällig werden, muss die Höhe der Einlagen entsprechend höher fest­ gesetzt werden. Nützliches Hilfsmittel Die Hochschule Luzern hat in Kooperation mit Fachleuten eine nützliche Toolbox entwickelt, um Erneuerungsstrategien für Stockwerkeigentum richtig zu planen und umzusetzen. Kostenloser Download: www.hslu.ch/cctp-stwe


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Bitte lesen Sie auch die Bedingungen unter www.beobachter.ch/nutzungs­ bedingungen.

Für den telefonischen Kontakt bitten wir Sie, Folgendes zu beachten: n Halten Sie Ihre Kundennummer und allfällige Unterlagen bereit. n Unsere Telefonlinien sind zu Beginn oft sehr stark ausgelastet. Ab 10 Uhr werden Sie rascher mit einer Beraterin oder einem Berater verbunden. n Senden Sie uns keine schriftlichen Anfragen oder Unterlagen. n Detaillierte Informationen zu den Beratungsangeboten finden Sie unter www.beobachter.ch/beratung.

Arbeit 043 444 54 01 Arbeitslosenversicherung, Lehrverträge, privatrechtliche Arbeitsverhältnisse, Kinder- und Familienzulagen Wohnen 043 444 54 02 Miete, Stockwerkeigentum, Grundeigentum und Nachbarrecht Konsum 043 444 54 03 Konsumverträge, Reisen, Betreibung, Sachversicherungen, Weiterbildung und Werbung Familie 043 444 54 04 Ehe, Trennung, Scheidung, Erben, Kindesrecht und Konkubinat Sozialversicherungen 043 444 54 05 Kranken- und Unfallversicherung, AHV, IV und EL, berufliche Vorsorge und Patientenrecht Staat 043 444 54 06 Behörden, Strassenverkehr, Strafrecht und Ausländerrecht Finanzen und Steuern 043 444 54 07 Geldanlagen, private Vorsorge, Steuern, Lebensversicherungen, Hypotheken und Bankenprobleme Sozialberatung 043 444 54 08 Beistandschaft, Vorsorgeauftrag,

IMPRESSUM

Produktionschef: Mario Güdel Art Director: Christof Auer

DER SCHWEIZERISCHE BEOBACHTER 89. Jahrgang

Redaktion: Thomas Angeli, Daniel Benz, Markus Föhn, Andrea Haefely, Birthe Homann, Otto Hostettler, Nicole Krättli, Susanne Loacker, Peter Johannes Meier, Martin Müller, Balz Ruchti, Gian Signorell, Martin Vetterli, Jenny Keller (Beobachter TV) Beratung: Markus Will (Leitung), Doris Huber (Stv.), Marcel Altherr, Irmtraud Bräunlich, Jeannine Burri, Cornelia Döbeli, Nicole Fernandez, Nora Frei, Nathalie Garny, Alexandra Gavriilidis, Gabriele Herfort, Nathalie Hirsiger, Anita Hubert, Regina Jäggi, Alexandra Kaiser, Jürg Keim, Michael Krampf, Robin Landolt, Tinka Lazarevic, Daniel Leiser, Gitta Limacher, Dana Martelli, Norina Meyer, Nicole Müller, Rosmarie Naef, Walter Noser, Helena Ott, Rita Périsset, Pascal Roth, Lucia Schmutz, Anne Sciavilla, Esther Seydoux, Katharina Siegrist, Davor Smokvina, Hanneke Spinatsch, Patrick Strub, Karin von Flüe, Marcel Weigele, Ursina Winkler

Telefonberatung für Abonnentinnen und Abonnenten Falls Sie die gewünschten Informationen auf HelpOnline nicht gefunden haben oder Ihr Anliegen am Telefon besprechen möchten: Unsere Beratungs-Hotline ist Montag bis Freitag von 9 bis 13 Uhr für Sie geöffnet.

Herausgeberin: Axel Springer Schweiz AG, Förrlibuckstrasse 70, Postfach, 8021 Zürich Verbreitete Auflage: 281 703 Exemplare Verkaufte Auflage: 269 447 Exemplare (WEMF-beglaubigt 2014); 851 000 Leserinnen und Leser (MACH Basic 2015-2) Kundenservice: Telefon 043 444 53 33, Fax 043 444 50 91 Internet: www.beobachter.ch/kundenservice Geschäftsbereichsleitung: Roland Wahrenberger (Vorsitz), Andres Büchi (Chefredaktor), Pia Engels (Digital), Markus Will (Beratung) Redaktion: Telefon 043 444 52 52, Fax 043 444 53 53 E-Mail: redaktion@beobachter.ch Internet: www.beobachter.ch Verlag: Telefon 043 444 53 01, Fax 043 444 53 53 E-Mail: verlag@beobachter.ch Beobachter-Edition: Telefon 043 444 53 07, Fax 043 444 53 09 E-Mail: edition@beobachter.ch Internet: www.beobachter.ch/buchshop SOS Beobachter: Spenden für notleidende Menschen an: Stiftung SOS Beobachter, PC 80-70-2, Telefon 043 444 52 52 Internet: www.sosbeobachter.ch Chefredaktion: Andres Büchi (Chefredaktor), Matthias Pflume (Stv.), Helmut Stalder (Extras, Beobachter TV); Assistenz: Barbara Lienhard; Sekretariat: Dubravka Ana Jocham

Ständige Mitarbeiter: Vera Bueller, Yaël Debelle, Christine Harzheim, Claudia Imfeld, Tanja Polli, Bernhard Raos, Koni Rohner, Conny Schmid Produktion und Grafik: Textproduktion: René Ammann; Layout: Michel Dörrer; Infografik: Andrea Klaiber, Anne Seeger; Bildredaktion: Mena Ferrari, Hanna Jaray; Lektorat: Rolf Prévôt (Leitung), Klaus Beger, Olivia Raths Digital: Pia Engels (Leitung), Iwon Blum, Elio Bucher, Elke Koch, Christian Palatinus, Christoph Rombach, Reto Stauffacher, Nathaly Tschanz SOS Beobachter: Walter Noser (Leitung), Nicolas Buff, Claudia Keller, David Kunz

Patientenverfügung, psychiatrische Klinik, Sozialhilfe, Schule, Erziehungsberatung und Lebenshilfe KMU-Beratung 043 444 54 09 Für diese Hotline benötigen Sie ein KMU-Abonnement: www.beobachter.ch/ abomitglieder/jahresabofuerkmu Rechtliche Fragen im Geschäftsleben (etwa Arbeitsrecht, Geschäfts­miete, Gesellschafts-, Sozial­versicherungsrecht)

Für Whistleblower: www.sichermelden.ch Haben Sie bei einer Behörde oder in einem Betrieb gravierende Missstände beobachtet oder selber erlebt? Sind Sie mit Meldungen darüber bei den zuständigen Stellen abgewiesen worden? Melden Sie uns den Fall, indem Sie uns Infos und Dokumente dazu vertraulich per Internet zukommen lassen: Einfach: In wenigen Schritten melden und Dokumente hochladen. Sicher: Die Seite ist nach modernstem technischem Standard gesichert. Bei anonymen Meldungen weiss nicht einmal der Beobachter, wer etwas gemeldet hat.

Verlag: Roland Wahrenberger (Verlags­ geschäftsführer); Assistenz: Brigitte Born; Nicole Platel (Digital Business Developer) Werbemarkt: Roberto Lombardi (Leitung), Natascha Gass, Pino Luppino, René Renggli, Christoph Salathé; Corinne Geisseler (Online); Verkaufsservice: Carmen Bosshard, Michael Germann, Noemi Steinkeller; Media-Support: Maike Juchler (Leitung), Andreas Isenschmid Marketing: Philipp Glauser, Carmen Demund (PM Beratungszentrum) Beobachter-Edition: Urs Gysling (Leitung), Janine Blattner, Barbara Haab, Yannick Waeny Lithos/Abschlussproduktion: Axel Springer Schweiz AG Druck: Swissprinters AG, Zofingen Herausgeberin: Axel Springer Schweiz AG, Zürich. Bekanntgabe von namhaften Beteiligungen im Sinne von Art. 322 StGB: Amiado Group AG Titelschutz: «prüf mit» Abonnementspreise: Jahresabonnement (26 Ausgaben) Inland: Fr. 108.80; Inland mit Assistance: Fr. 166.80; Inland mit Rechtsschutz: Fr. 368.80; D/F/NL: Fr. 155.60; übriges Europa Priority: Fr. 192.–; USA/Kanada/übrige Länder Priority: Fr. 198.50 Wiedergabe von Artikeln und Bildern, auch auszugsweise oder in Ausschnitten, nur mit ausdrücklicher Genehmigung gestattet. Für unverlangte Zusendungen wird jede Haftung abgelehnt. ISSN 1661-7444


Verlag 85

Beobachter 21/2015

Der 24-Stunden-Arzt für zu Hause Ein Muss für jeden Haushalt: der Ratgeber, der von A wie Abszess bis Z wie Zeckenbiss erklärt, wie man sich selber behandeln kann. Wem ist das nicht schon passiert – die Kaffeetasse kippt, man will sie auffangen – und stattdessen läuft einem die kochend heisse Brühe über die Hand. Kleine Verbrennungen treten im Alltag relativ häufig auf. Der neuste Beobachter-Ratgeber «Der kleine Schweizer Hausarzt» gibt kurze, klare und verlässliche Anleitungen, wie man bei den 100 häufigsten Krankheiten, Unpässlichkeiten, Verletzungen und Unfällen richtig reagiert. Verbrennungen – das können Sie selber tun: Leichte Verbrennungen, bei denen sich die Haut nur rötet, kann man selbst versorgen. Die Kühlung steht im Vordergrund. Kühlen Sie die Haut mit fliessendem Leitungswasser (zirka 20 Grad Celsius). Wesentlich kältere Temperaturen oder Eis sind ungünstig, da sie zusätzlich einen Kälteschaden verursachen können. Kühlen Sie etwa 20 Minuten lang. Wenn die Haut nicht verletzt ist, können Sie nach dem Kühlen eine Brandsalbe auftragen. Hausmittel wie Mehl, Zahnpasta, Öl, Kartoffelscheiben oder Desinfektionsmittel haben auf Brandwunden nichts zu

suchen! Wenn die Haut verletzt ist, sollten Sie die Wunde nur schützen und sauber halten. Grosse Brand­ blasen selber zu öffnen ist gefährlich; zu schnell dringen Keime ein. Der Ratgeber bietet eine hilfreiche Schnelldiagnose von Kopf bis Fuss und viele Abbildungen und ErsteHilfe-Anweisungen für Notfälle wie Herzinfarkt und Vergiftung. Helfen Sie in Notsituationen ohne Scheu. Der Nutzen ist in jedem Fall grösser als der Schaden, den Sie anrichten können.

Dirk Nonhoff, Robert G. Koch: «Der kleine Schweizer Hausarzt»; 176 Seiten, Fr. 28.90 (zzgl. Versandkosten), ISBN 978-3-85569-910-0

So schützen Sie Kinder vor Verbrennungen – 11 Regeln 1

Feuerzeug und Streichhölzer kinder­ sicher aufbewahren.

8 Rühren Sie Speisen und Flüssigkeiten, die Sie mit einer Mikrowelle warm gemacht haben, um. Sonst besteht die Gefahr, dass manche Stellen nur lauwarm und andere kochend heiss sind.

2 Schieben Sie Tassen und Töpfe mit heissem Inhalt in die Tischmitte. Die Reichweite von Kinderarmen wird oft unterschätzt – probieren Sie es mit einem kalten Getränk einmal aus.

3 Achten Sie darauf, dass Stromkabel von Bügeleisen, Wasserkocher et cetera für Kinder nicht erreichbar sind.

9 Bevor Sie Ihr Kind füttern, sollten Sie immer die Temperatur von Milchflasche und Brei überprüfen.

10 Essen und trinken Sie nichts Heisses, solange Ihr Kind auf Ihrem Schoss sitzt.

4 Verzichten Sie auf Tischdecken. 5 Drehen Sie die Griffe von Töpfen und

11 Lassen Sie Kinder nie unbeaufsichtigt

Pfannen beim Kochen nach hinten.

Hilfe, Infos und Links zum Thema gibt es beim Zentrum für brandverletzte Kinder am Kinderspital Zürich, www.kispi.uzh.ch (→ Patienten und Angehörige → Fachbereiche A–Z → Zentrum für brandverletzte Kinder), oder bei www.paulinchen.de

6 Sichern Sie den Herd mit einem Gitter. 7 Verwenden Sie für Badewasser eine Mischbatterie. Nie zuerst heisses Wasser einlassen. Kontrollieren Sie die Wassertemperatur vor dem Bad.

in der Nähe von Feuer und Kerzen.

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88 Leserforum

«Sieht fast so aus, als ob wir tote Nahrung zu uns nehmen – die nicht mehr nährt, sondern nur sättigt!» Susanne Matzig «Bestätigt mir, was mein Gaumen, mein Bauch, mein ganzer Körper schon lange wissen …» Regina Hämmerli «Und was macht man, wenn Bio im Familienbudget nicht immer drinliegt?» Iris-Imelda Kortekaas

Realitätsfremd

Verpeilte Kunden

Kinder und Karriere: Das Märchen von der Vereinbarkeit (Nr. 20)

Selfscanning: Umstritten, aber beliebt (Nr. 20)

Karriere und Familie unter einem Hut? Diesen Satz höre ich nicht so gern – weil mir realitätsfremde Plädoyers von Karrierefrauen in den Sinn kommen, die mir in diversen Medien begegnen. So nun auch im Beobachter. Nach meiner Ansicht sind immer mehrere Hüte nötig, damit ein Familienleben mit dem Berufsalltag kompatibel ist. Ich bin Mutter von drei Kindern, und mein Beruf ist mir sehr wichtig. Trotzdem habe ich mich vor der Geburt des ersten Kindes entschieden, ­eine berufliche Pause einzulegen. Ich finde es immens wichtig, dass sich eine Mutter, zumindest in den ersten Lebensjahren eines Kindes, vollumfänglich und selber um den Nachwuchs kümmert.

Es wundert mich leider nicht, dass diese Selfscanning-Kassen immer öfter benutzt werden. Denn was nützen zehn «normale» Kassen, wenn nur zwei geöffnet sind und sich dort Schlangen bis in die Regale bilden? Da ist man dank Selfscanning, vor allem bei kleineren Einkäufen, viel rascher durch und muss sich nicht unnötig ärgern über verpeilte Kunden, die Früchte und Gemüse vorgängig nicht ­abwägen und fürs Bezahlen eine halbe Ewigkeit brauchen …

Annette Hürlimann, Bremgarten

Gratis-Service: Daniel Rössler (links), Marc Lattmann von Möbel Schubiger

Dank für den Schrank 1997 habe ich mit meiner Frau bei Möbel Schubiger in Zürich einen wunderschönen Kleiderschrank aus Kirschbaum-Laminat gekauft. 18 Jahre später ist die erste Reparatur fällig geworden, ein Scharnier war herausgebrochen. Die zehnjährige Garantie war längst verfallen. Umso mehr staunte ich, als ich den Schaden meldete: Zwei Angestellte kamen vorbei und flickten den Schrank. Wir erwarteten natürlich eine Rechnung – stattdessen erreichte uns ein netter Brief: «Obwohl die Garantiezeit abgelaufen ist, haben wir uns entschieden, Ihnen unsere Leistungen in Kulanz zu erledigen.» Was für ein Aufsteller! In einer Zeit, wo viele Firmen schon die Fahrspesen draufschlagen, ist so etwas doch sehr wohltuend. Rudolf Urech, Langnau am Albis ZH

Ist es denn zwingend notwendig, als Frau Karriere zu machen? Da definiere man mal erst modern, und ob es notwendig ist, dass man oder frau das ist. Hauptsache ist doch, dass man mit seinem Leben zufrieden ist. Frauen können sich eine Karriere heute nur leisten, wenn sie finanziell auf Rosen ­gebettet sind und sich das notwendige Hauspersonal inklusive Kinderbetreuung leisten können, um die notwendige Zeit in einer Firma zu verbringen. Sie verpassen aber so eine schöne, wichtige Zeit mit den Kindern. Ob es das wert ist, wage ich zu bezweifeln.

Andrea Mordasini, Bern

Sparen beim Fussvolk Blamage: Didier Burkhalter (Nr. 20)

Statt eines Linienflugs nach Brasilien (First Class knapp 20 000 Franken) wählt der Bundesrat ein Mietflugzeug für 200 000 Franken. Der Bundesrat spart eindeutig lieber beim Fussvolk als bei sich selber! Armin Arnold, Köniz

Nicht die 200 000 Franken schaden der Bundeskasse, sondern
das Vorbild des Bundesrates! Stellen Sie sich

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Suzanne Allmendinger, Würenlos

Ob Kinderbetreuung und Erziehung oder Betreuung und Pflege von Angehörigen: Beide Arbeiten sind anspruchsvoll und anstrengend und werden meist von Frauen ehrenamtlich ausgeführt. Abhelfen könnte da das bedingungslose Grundeinkommen. Jeder Mensch, ob jung, alt, gesund, behindert, pflegebedürftig, hätte einfach das Recht zu leben, ohne eine Leistung erbringen zu müssen. Durch dieses Grundeinkommen wäre Familienarbeit möglich, ohne sich finanzielle Sorgen machen zu müssen. Madlen Zwahlen, Pratteln

Die moderne Frau

Warum es in der Schweiz fast unmöglich ist, als Mutter Karriere zu machen Seite 24

Kinder und Karriere:

«Frauen können sich eine Karriere nur leisten, wenn sie finanziell auf Rosen gebettet sind.» Suzanne Allmendinger, Würenlos

Foto: privat

Ernährung: Bio unter der Lupe (www. facebook.com/beobachtermagazin) «Das finde ich schon bemerkenswert. NichtBio scheint verstümmelt.» Jeanette Rudin


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Beobachter 21/2015

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Beobachter 20/2015

Gegenstand von Zahlenspielereien: Flüchtlinge im kroatischen Tovarnik

Asylpolitik

Der Preis für eine bessere Welt

Lange Leitung beim Telefonanbieter

Mehr Flüchtlinge heisst mehr Ausgaben für die Länder, die sie aufnehmen. Doch darf man angesichts humanitärer Katastrophen überhaupt eine Kostenrechnung machen?

etzt, wo sich viele nach Europa aufgemacht haben, wird klar: Es sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. 59,5 Millionen schätzt das Uno-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. Allein letztes Jahr wurden 13,9 Millionen Menschen zur Flucht getrieben, viermal mehr als 2010. Im Schnitt flüchten 42 500 Menschen pro Tag. Und es wären noch viel mehr, wenn das UNHCR jene mitzählen würde, die aus Hunger, wegen Naturkatastrophen oder vor einer wirtschaftlichen Misere fliehen. Von Januar bis September haben in den EU-Staaten 700 000 Menschen einen Asylantrag gestellt. Und es werden jeden Tag mehr. Allein Deutschland rechnet mit bis zu einer Million Flüchtlinge bis Ende Jahr. In der Schweiz präsentiert sich die Situation anders. Der Sturm ist – bisher – am Land vorbeigegangen. Die Zahl der Asylanträge ist erstaunlich stabil. Im Notfall wird die Armee aufgeboten Offiziell rechnet das Staatssekretariat für Migration (Sem) für das laufende Jahr weiterhin mit 29 000 Asylgesuchen. Aber das Sem «verfolgt die Entwicklung sehr genau», sagt Sprecherin Gaby Szöllösy. Eine wichtige Rolle spielen werden das Wetter und der Zeitpunkt des Wintereinbruchs. Vorsorglich hat der Bund die Anzahl Betten zur Unterbringung von 2400 auf

Unter den sechs Ländern mit den meisten Flüchtlingen ist kein europäisches Land. 3100 aufgestockt. Eine weitere Erhöhung ist geplant. «Wir sind gut vorbereitet und können auch einen vorübergehenden Anstieg der Asylgesuche in den regulären Strukturen bewältigen», sagt Szöllösy. Mit 50 000 Flüchtlingen werde man zurechtkommen, sagt Peter Gomm, Präsident der kantonalen Sozialdirektoren. Das habe man auch auf dem Höhepunkt der Balkankrise bewältigt. Wenn es mehr werden, komme das Notfallkonzept für Krisenfälle zum Tragen. Dann würde der Bundesrat den Sonderstab Asyl einberufen. Um schnell weitere Unterkünfte bereitzustellen, würden in erster Linie bundeseigene Bauten umgenutzt. Im Notfall könnte der Bundesrat kurzfristig auch 2000 Armeeangehörige aufbieten. Ein Ansturm von Flüchtlingen würde auch die Kosten für das Asylwesen in die Höhe treiben. Wie stark, weiss niemand. Zumal man nicht einmal genau weiss, wie viel Bund, Kantone und Gemeinden schon heute für das Asylwesen ausgeben. Eine Vollkostenrechnung sei «nicht ohne Weiteres möglich», antwortete der Bundesrat 2013 auf eine Anfrage von

SVP-Nationalrat Hans Fehr. In der Asylbetreuung seien zu viele Akteure involviert; neben dem Bund auch Kantone, Gemeinden, Polizeibehörden, Schulen, medizinische Dienstleister sowie das Bundesverwaltungsgericht. Im Zusammenhang mit der aktuellen Asylreform nannte das Staatssekretariat für Migration trotzdem eine Zahl: 1,6 Milliarden Franken, dies bei 24 000 Asylgesuchen. Ausgaben von 1505 Franken im Monat Wie viel ein einzelner Flüchtling den Bund kosten darf, hat der Bundesrat bereits am 7. Dezember 2012 erlassen: 1429 Franken und 98 Rappen pro Monat – so viel erhalten die Kantone als Pauschale für Flüchtlinge und Staatenlose. Die effektiven Kosten aber liegen bei 1505 Franken, wie das Bundesamt für Statistik errechnete. Die drei grössten Ausgabenpunkte sind: 614 Franken für Sozialleistungen, 272 Franken an Betreuungskosten und 214 Franken für die Miete. Zum Vergleich: Deutschland rechnet pro Flüchtling mit Ausgaben von umgerechnet 1135 Franken pro Monat. Laut der Sozialhilfestatistik EAsyl zahlen die Kantone pro Flüchtling im Schnitt 1094 Franken an Sozialhilfe, in der auch Wohnkosten mitgerechnet sind. Die Leistungen sind fast 20 Prozent tiefer als bei Schweizer Sozialhilfeempfängern. Zwischen den Kantonen gibt es beträchtliche Unter-

Asylpolitik:

Beo_20_016_IH_D_Flüchtlinge 16

schiede. Am wenigsten Sozialhilfe zahlt der Kanton Bern mit 919 Franken, am meisten Basel-Stadt mit 1410 Franken. Der Hauptgrund sind die Wohnkosten. Der Kanton Glarus gibt für das Logis nur 143 Franken aus, das Tessin 604 Franken. Glarus kommt so günstig weg, weil alle Asylbewerber in einem Durchgangszentrum leben. FOTO: ANTONIO BRONIC/REUTERS

TEXT: MARTIN VETTERLI

FOTO: ANTONIO BRONIC/REUTERS

J

Streit um die «wahren» Zahlen Im Tessin dagegen sind die bestehenden Einrichtungen überlaufen, deshalb muss der Kanton Flüchtlinge in Privatwohnungen und zum Teil gar in Hotels unterbringen. Beim Grundbedarf für den Lebensunterhalt ist Nidwalden mit 309 Franken am günstigsten, Basel-Stadt mit 537 Franken

28.09.15 16:11 Beo_20_017_IH_D_Flüchtlinge 17

am teuersten. Der Grund hier: Basel – wie auch Zürich – wendet bei vorläufig Aufgenommenen gemäss kantonalem Gesetz die Skos-Richtlinien an. Die SVP hält diese Zahlen für irreführend. Die wahren Kosten des Asylwesens seien massiv höher. In einem Positionspapier vom vergangenen Mai zählt sie gemäss ihrer eigenen Rechnung zu den vom Bund angeblich ausgewiesenen 1,002 Milliarden Franken «knapp 2 Milliarden Franken Kosten für Kantone und Gemeinden» hinzu. Und packt gleich noch die Ausgaben für Entwicklungshilfe ins Asylbudget. Dank jenen 3,24 Milliarden kommt sie auf 6 Milliarden. Es handle sich um eine Schätzung, die aber auf «extrem komplexen» Berech-

nungen basiere, erklärt die stellvertretende Generalsekretärin Silvia Bär auf Anfrage. Manche beziehen jahrelang Sozialhilfe Für die zwei Milliarden der Kantone und Gemeinden gebe es Gründe: Anerkannte und vorläufig aufgenommene Flüchtlinge bezögen länger als fünf respektive sieben Jahre Sozialhilfe; kriminell gewordene Asylbewerber belasteten Justiz und Gefängnisse; der Drogenhandel verursache Folgekosten; der Bund berechne nicht die ganzen Kosten für den Schulbesuch von Kindern; Nachhilfeunterricht und Sprachkurse würden fällig; die Verfahrenskosten seien höher; es gebe Mehrkosten für das Grenzwachtkorps;

28.09.15 16:11

«Auch Flüchtlinge sollen arbeiten müssen für ihren Lebensunterhalt.» Martin Fischer, Worb

vor, es würden Hunderttausende Bürgerinnen und Bürger ihre mühsam ausgefüllte Steuererklärung vor dem Einsenden aus der Schublade nehmen, um sie in diesem selbstherrlichen Sinne zu revidieren. Josef Burach, Luzern

Immer nur lächeln, kuschen und das Geld mit beiden Händen aus dem Fenster werfen. Die Classe politique lebt auf einem anderen Stern als das Steuern zahlende Fussvolk. Wie sagt man so schön? Der Fisch stinkt vom Kopf her! Karl Waldner, Arisdorf

Ein technisches Fossil Abgas-Skandal: Kriegen die Hersteller die Kurve? (Nr. 20)

Über das Tabu reden Der Preis für eine bessere Welt (Nr. 20)

Das Thema Kosten der Flüchtlinge ist ein Tabu, über das gesprochen werden muss. Sie brauchen Hilfe, zugleich kann ich die Angst vor Überfremdung verstehen. Eine parallele Möglichkeit, ihnen Schutz zu bieten, ist die vermehrte Unterstützung der Flüchtlingslager im Ausland. Wahrscheinlich wären die Kosten dort viel tiefer. Regula Hess, Effretikon

Ob mehr Humanität oder weniger, auch Flüchtlinge sollen arbeiten müssen für ihren Lebensunterhalt. Martin Fischer, Worb

Sie schreiben, dass die Fugen an der Karosserie abgeklebt werden dürfen. Was soll das bringen? Auf dem Rollenprüfstand steht das Auto ja. Da gibts keinen Luftwiderstand.

Ich bin froh, dass wir hier in der Schweiz die organisatorische Angelegenheit eines eventuellen verstärkten Zustroms an Flüchtlingen sehr pragmatisch und mit kühlem Kopf angehen, auch wenn gewisse Kreise von Asylchaos reden wollen. Jetzt sind wir alle als Städte, Gemeinden und Kantone gefordert, mit Ämtern und Verwaltungen das organisatorische Skelett zu bilden, damit die Zivilbevölkerung das Fleisch am Knochen bilden kann, um das Wesen einer lebendigen Kultur der Hilfsbereitschaft und des Miteinanders zu bilden unter einer dezidierten christlichen Leitkultur. Alles andere ist Barbarei.

Bernhard Muff, Steffisburg

Christoph Knecht, Winterthur

Der ganz grosse Skandal ist doch, dass immer noch ein technisches Fossil wie der Verbrennungsmotor gebaut wird. Und das nur, weil die Ölmultis den Finger draufhalten und damit ihre Milliardengeschäfte machen. Auf die Computertechnologie adaptiert wäre das etwa so: wunderbares Gehäuse, innen eine mechanische Schreibmaschine. Heinz Gadient, Luzern

Unser Betrieb war bei der Swisscom mit diversen Anschlüssen registriert. Im Rahmen einer Umstrukturierung wollten wir Ende 2014 diverse Geschäftsnummern auf Privatpersonen umschreiben. Im Swisscom-Shop in St. Gallen leiteten wir alles in die Wege. Doch die Rechnungen wurden weiterhin an die Firma verschickt. Schliesslich brauchte es drei weitere Besuche im Laden, bis die Sache sechs Monate später funktionierte. Der Mitar­ beiter im Shop war sehr hilfsbereit, sein Kollege von der Hotline aber überhaupt nicht. Er machte gar den dreisten Vor­ schlag, die Rechnungen doch untereinan­ der richtig zu verteilen. Wir sind alle seit Jahrzehnten bei der Swisscom und waren erstaunt über deren Umgang mit treuen Kunden. Letztlich entschuldigte sich die Swisscom und begründete den Vorfall mit einer «internen Verzögerung». Wolfgang Mayer, Engelburg SG

Königlich war bloss der Name Im August entschieden wir uns, einen Parkplatzdienst am Flughafen Zürich in Anspruch zu nehmen. Wir buchten bei Royal Parking Zürich und bezahlten im Voraus. Am Abflugtag riefen wir die angegebene Nummer an, kamen aber nie weiter als bis zur Mailbox. Vergeblich warteten wir im Parkhaus auf einen Mit­ arbeiter. Als die Zeit knapp wurde, stell­ ten wir unser Auto dort ab. Auf dem Weg zum Terminal trafen wir doch noch auf einen Mitarbeiter von Royal Parking. Sei­ ne Auskunft: Er habe jetzt andere Proble­ me, wir sollten selber für einen Parkplatz schauen. Unsere E-Mail mit Rückzahlungs­ forderung blieb unbeantwortet. Ich nahm dann telefonisch Kontakt auf, worauf sich der Geschäftsführer entschuldigte und versprach, den Betrag zu überweisen. Doch bis heute ist nichts passiert. Maria Gasche, Wilen TG

Gefreut? Geärgert? Zuschriften bitte an: Beobachter, Bravo/So nicht, Postfach, 8021 Zürich; E-Mail: barbara.lienhard@beobachter.ch


90 Schlusspunkt

Beobachter 21/2015

Ortsnamen

ewisse Ortsnamen lassen ja geradezu die Alarmglocken schrillen: Wer würde seine Ferien in Mies* verbringen? Was ist wohl das typische Wetter in Regensdorf? Und will jemand ernsthaft ris­ kieren, nach Kleinbösingen zu ziehen? Oder gar nach Müllheim? Auch Slogans wie «Kommen Sie zum Angeln nach Trübbach» oder «Romantikferien zu zweit in Faulensee» verfangen eher nicht – und für ein Jobangebot in Kalthäusern können sich nur Heizungsmonteure erwärmen. Auch Klöntal hat etwas recht Abschreckendes: Will man da hin, wo alle nur muolen und schelten? Der Verdacht liegt nahe, dass es sich bei solchen Ortsnamen um Warnungen handelt. Unsere Vorfah­ ren haben mit den besagten Orten schlechte Erfahrungen gemacht und sie entsprechend getauft, um der Nachwelt Nachteile zu ersparen. Bittere Erlebnisse sprechen auch aus überlieferten Merksprüchen –

wertvoll, selbst wenn sie leicht holprig daherkommen: «Hüte dich vor jenen Hütten, wo die Finsterhennen brütten. Das Verderbnis, hier lauerz, wo die Bister lungern. Wer ihnen begegnet, es ist ein Graus, kommt ziemlich sicher flaach heraus.» Da geh ich doch lieber nach Lachen oder nach Scherz, müssen sich clevere Zeitgenossen sagen. Oder fürs leib­ liche Wohl nach Birr, Rosé und Féchy. Auch Filet und La Sagne klingen viel­ versprechend. Am vergnüglichsten scheint das Leben aber in Prosito. Das ist doch wirklich würenlos! Doch auch veritable Lebensweisheiten geben uns unsere Ahnen durch. Zum Beispiel über den Wert der Genügsamkeit: «Lieber Niederlenz als gar keinen Frühling.» Eher lapidar wirkt der Rat zur Empfängnisverhütung: «Wer Känerkinden hat, ist abends weniger matt.» Sängerinnen und Sänger werden mit praktischen Tipps bedacht: «Damit

Quarten und Quinten rheinklingen, sollte man sich oensingen.» Aber auch zur Tierhaltung gibt es Nützliches: «Wer keinen nassen Hundwil, hält sich fern vom Kaltenbach.» Das versteht sich natürlich fast von selbst, wie auch «Manch einer sieht vor Lauterbrunnen das Wasser nicht» oder «Wer im Steinhaus sitzt, soll nicht mit Gläsern werfen.» Doch unsere Ahnen erahnten gar die Zukunft: «Wer alle Mels behalten will, braucht einen grossen Speicher.» Die ganz grosse Philosophie ist ebenfalls vertreten: «Wenn wir von Ehrendingen reden – nimm dir dies zum Motto: Das Weesen des Menschen ist erhaben und gross, wer kriechenwil, ist würenlos.» Zeitlose Weisheit überdauert halt die Jahrhunderte. Wie heissts so schön: «Wie einst die Alten pfungen, so gunzgen heut die Jungen.» Mario Güdel *Alle kursiv gesetzten Wörter sind Namen von Schweizer Ortschaften mit eigener Postleitzahl.

illustration: Georg Wagenhuber

G

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