Esther Freud: Liebe fällt

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Dieser Sommer verändert alles. Laura ist siebzehn, hat aber bisher kaum mehr als ein paar Stunden am Stück mit ihrem Vater, dem berühmten Historiker, verbracht. Und plötzlich sitzen sie nebeneinander im Zug: Von London geht es in die Toskana. Laura genießt die unbeschwerten Tage, und zwischen Weinbergen und Olivenhainen verliebt sie sich zum ersten Mal: in den dunkeläugigen Kip mit den langen Wimpern. Als Kips Vater jedoch eine vieldeutige Bemerkung fallen lässt, kommt Laura einem beunruhigenden Geheimnis auf die Spur. Es entspinnt sich ein psychologisch ergreifendes Familiendrama zwischen Vater und Tochter … Esther Freud, die Tochter des Künstlers Lucian Freud und Urenkelin von Sigmund Freud, wurde 1963 in London geboren. Ihr erster Roman Marrakesch wurde mit Kate Winslet verfilmt. Zuletzt erschien Das Haus am Meer (BvT 2006).


Es ther Freud

LIE BE FĂ„L LT Roman

Aus dem Englischen von Anke und Eberhard Kreutzer

Berliner Taschenbuch Verlag


Dezember 2010 BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin Die Originalausgabe erschien 2007 unter dem Titel Love Falls bei Bloomsbury Publishing Plc, London © 2007 Esther Freud Für die deutsche Ausgabe © 2008 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin Bloomsbury Berlin Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung einer Fotografie von © Corbis Druck und Bindung: Clays Ltd, St Ives Plc Printed in Great Britain ISBN 978-3-8333-0704-1 www.berlinverlage.de


Meiner Schwester Bella



»Hab ich eigentlich schon mal meine Freundin Caroline erwähnt?«, fragte Lambert, als eine schwere weiße Platte mit Kitscheri auf dem Leinentischtuch landete. »Ich hab heute Morgen einen Brief von ihr bekommen, und …« Er unterbrach sich, als seine Koteletts gebracht wurden. »Offenbar geht es ihr ziemlich schlecht.« »Oh, ich meine, nein, soviel ich weiß, nicht.« Lara starrte auf die Stückchen braunen Räucherfisch mit goldenem Eigelb und die Petersilie, die im Reisgericht steckte. Sie wollte anfangen, doch das schien unhöflich. »Ist sie sehr …?« Sie wusste nie, ob sie bei alten Menschen das Alter zur Sprache bringen sollte. »Ist sie … ist sie«, schlug sie einen unbeschwerten Ton an, »sehr alt?« »Na ja …« Ihr Vater nahm ein scharfes Messer und schnitt ins Fleisch. »Gar nicht mal. Sie hat ein paar Jährchen mehr als ich auf dem Buckel. Etwas über sechzig, schätze ich.« Er seufzte. »Noch ziemlich jung.« Lara nickte und schob sich den ersten Löffel in den Mund. Wann würde sie wohl, wenn überhaupt jemals, Leute, die über sechzig waren, als jung bezeichnen?, dachte sie, während ihr die weichen, nach Zimt und Nelken schmeckenden Reiskörner auf der Zunge zergingen und die Kümmelsamen zwischen den Zähnen knackten. »Das brachte mich auf den Gedanken«, fuhr ihr Vater fort, während der Kellner den Tee einschenkte, »dass ich sie vielleicht besuchen könnte. Sie hat sich für den Sommer ein Haus in Italien gemietet. Das macht sie jedes Jahr, ihr verstorbener Mann war Italiener, und jedes Jahr lädt sie mich ein, aber diesmal … diesmal, hab ich gedacht, fahr ich vielleicht tatsächlich hin.« Mit nachdenklicher Miene senkte er den Blick, und Lara ent7


ging nicht, was er bei dieser Ankündigung empfand, nachdem er schließlich London, soweit sie wusste, seit ihrer Geburt nicht mehr verlassen hatte, und zwar aus Prinzip. Wieso, hatte sie ihn einmal gefragt, verreist du eigentlich nie? Er hatte mit einem Achselzucken entgegnet, wozu verreisen, wenn man am besten Ort der Welt lebt? Eine Weile aßen sie schweigend weiter; er kaute noch, als er Lara plötzlich mit einem eindringlichen Blick fixierte. »Warst du schon mal da?« »Wo?« »In Italien.« Lara schüttelte den Kopf. Sie war mit ihrer Mutter in Indien gewesen. Mit dem Bus waren sie durch Belgien, Deutschland, Griechenland und die Türkei, dann über den Iran (den sie als Persien bezeichnet hatten, damit ihnen die Durchfahrt schneller verging) nach Afghanistan und schließlich über den Khyber-Pass gefahren. Außerdem kannte sie noch Schottland, dort hatte sie sieben Jahre gelebt, das zählte demnach wohl nicht, aber in Italien war sie nie gewesen. Er sah sie immer noch an. »Ich dachte nur, vielleicht kommst du mit.« »Mit dir?« Er nickte. »Im Ernst? Also, ja, sicher, sehr gerne.« Sie besiegelten ihren Pakt mit einem Lächeln, als ihr mit einem Schlag eine Mischung aus unbändiger Freude und diffuser Angst in heißen Wogen durch den Körper jagte. Ihr Appetit war verflogen, und es schien ihr weniger mühsam, einen ganzen Acker umzugraben, als ihr Frühstück aufzuessen. Laras Vater, Lambert Gold, wohnte in einer dunklen, üppig mit Textilien ausgestatteten Wohnung, die sich auf dem ersten Absatz einer breiten Treppe mit Teppich befand. Sie verfügte über eine kleine Küche, ein bescheidenes Wohnzim8


mer, ein großes Arbeitszimmer sowie ein Schlafzimmer, in das sie höchstens einen flüchtigen Blick geworfen hatte, in dem jedoch eine blassgrüne Pflanze von solcher Schönheit an einer Wand emporwuchs, dass sie sich fragte, was sie in der düsteren Umgebung der übrigen Wohnung eigentlich zu suchen hatte. Durch die halb geöffnete Tür bekam man das Gefühl, als ob die herzförmigen Blätter und gewundenen Stängel tatsächlich atmeten, dass sie sich dem Licht entgegenreckten, und dass die Blätter, die das ganze Jahr über ihr frisches Frühlingsgrün behielten, in einer Brise kaum merklich zitterten. Einzig diese Pflanze erinnerte sie daran, dass Lambert je ihre Mutter gekannt hatte. Sie besaß ebenfalls eine Topfblume, eine nach Zitrone duftende Geranie auf dem niedrigen Tisch neben ihrem Bett, doch im Unterschied zu Lamberts – deren botanischen Namen sie nicht kannte – konnte man bei der Geranie zusehen, wie sie sich ständig veränderte, älter wurde, austrieb und mit der Jahreszeit dunkler oder heller wurde. Der Stängel war knorrig und braun, die toten Blätter fielen in einem kleinen Kringelhäufchen auf den Tisch darunter, doch wenn man die Blüten rieb, dann erfüllte ein derart lieblicher, frischer Duft den Raum, dass man unwillkürlich innehielt und tief Atem holte. Seit sie ihren Vater kannte – und es ärgerte Lara zuweilen, dass sie sich nicht an den Tag erinnern konnte, an dem sie sich das erste Mal begegnet waren –, schrieb er an einer Geschichte Großbritanniens im zwanzigsten Jahrhundert. Einige Auszüge davon waren bereits veröffentlicht, wogegen er wetterte, da es jedes Mal seinen Arbeitsplan durcheinanderbrachte, wenn er um Artikel und Interviews gebeten wurde oder Briefe beantworten musste. Man merkte es ihm an, dass er stets und ständig Unterbrechungen abwehrte und im Grunde nie gestört werden durfte, so dass die wenigen Menschen, die ihn tatsächlich zu sehen bekamen, sich irgendwie als Auserwählte empfanden und sich des Gefühls nicht erwehren konnten, jede Sekunde seiner Zeit, die er ihnen opferte, sei ein kostbares Geschenk. Lamberts richtiger Name war Wolfgang Goldstein. Als Kind 9


hörte er auf Wolf, doch drei Monate nach seiner Ankunft in London hatte er sich umbenannt. Schwarz auf weiß gedruckt sah er seinen neuen Namen zum ersten Mal, als er nach seinem achtzehnten Geburtstag einen erbosten Leserbrief an die Times geschrieben hatte. Wie bist du auf Lambert gekommen?, wollte Lara wissen und fragte sich, wie sie selbst am liebsten heißen würde, falls ihr eigener Name – Lara Olgalissia Riley – ihr jemals über Gebühr zur Last fallen sollte. Er sagte, er hätte sich für Lambert entschieden, weil es weniger bedrohlich klänge als Wolfgang, aber trotzdem damit verwandt sei – für ihn eine Art Insiderwitz. Er sei in der Zeitung unter den Todesanzeigen darauf gestoßen: William Lambert »Bertie« Percival, ein Colonel in der Armee, der im wörtlichen Sinne friedlich entschlafen sei. Worum war es in seinem Brief gegangen? Sie hatte immer wieder vergessen, ihn danach zu fragen, und wenn sie doch einmal daran dachte, dann in einem unpassenden Moment. Lambert war fünfzehn, als er nach England kam. Ein Jahr vor Kriegsausbruch hatten sie ihn, das Herzblatt, den einzigen Sohn seiner Eltern, aus Österreich weggeschickt, und als sei es ihm in die Wiege gelegt, auf Händen getragen zu werden, hatten ihn die Holts aufgenommen und liebevoll umhegt. Sir Anthony und Lady Anne hatten vier erwachsene Kinder, eine Wohnung in Belgravia und ein Haus in Dorset, wo Lambert zu seiner eigenen Sicherheit die ersten Kriegsjahre verbrachte und ihre ehrwürdige alte Bibliothek nach Büchern durchforstete, auf denen der Staub von Jahren lag. Die Holts waren in ihn vernarrt und hielten ihn mit seinem perfekten Englisch, seinen Kenntnissen in Kunst, Musik und Theater für ein kleines Genie; nicht selten ermunterten sie ihre Freunde, ihn nach seiner Meinung darüber zu fragen, welche politischen Voraussetzungen Österreich und Deutschland so anfällig für Hitler und seinen Krieg gemacht hatten. Laras Mutter Cathy hatte Lady Holt einmal persönlich kennengelernt. Es war eine Zufallsbegegnung. Cathy und Lambert liefen die Piccadilly entlang Richtung Green Park, als Lady Holt, eine 10


stämmige Frau mit stechendem Blick, aus der Schwingtür von Fortnum & Mason trat. Lambert hatte sie miteinander bekannt gemacht und seiner Pflegemutter erzählt, dass Cathy an dem College, an dem er unterrichtete, englische Literatur studierte, doch Lady Holt hatte die Augen zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen und angesichts Cathys schwangerem Bauch gefragt, ob es nicht schrecklich anstrengend sei, so kurz vor der Niederkunft noch zu studieren. »Es erstaunt mich, dass Ihr Mann das zulässt«, sagte sie. Cathy schielte zu Lambert hinüber, und nachdem klar war, dass er nicht die Absicht hegte, die Sachlage aufzuklären, schüttelte sie den Kopf und stotterte errötend: »Nein, überhaupt nicht.« »Aber wieso ist Lady Holt nicht darauf gekommen, dass du seine Freundin bist?« Lara empfand es als Kränkung für ihre Mutter, aber auch für sich selbst, sofern man bereits im Mutterleib gekränkt werden konnte, doch Cathy lachte nur. »Dein Vater hat immer klargestellt, er wolle niemals heiraten und Kinder haben. Er eigne sich nicht dafür. Na ja, ich hab ihm damals nicht geglaubt. Ich war erst neunzehn. Aber Lady Holt kannte ihn offenbar besser.« »Aber wieso?« Lara begriff das Ganze nicht. Cathy legte ihr den Arm um die Schulter. »Es ist doch gar nicht so schlecht, wie es ist, oder?« Und sie küsste ihr die Schläfe. Lambert und Lara fuhren mit dem Zug nach Italien. Mit dem Zug, hatte Lambert entschieden, sei es kultivierter und bequemer als mit dem Flugzeug – sie könnten zum Beispiel im Speisewagen vorzüglich essen, doch sie wussten beide, dass ihm die sechsunddreißigstündige Reise in Wahrheit nur mehr Zeit verschaffte, sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass er England verließ. »Wir brechen sehr früh auf«, sagte er, »vielleicht wäre es das Beste, wenn du bei mir übernachtest, dann wissen wir zumindest sicher, dass wir uns am Bahnhof nicht verfehlen können.« »Stimmt«, sagte Lara, als sei es das Normalste von der Welt, 11


und so kam es, dass sie an einem warmen Juliabend, drei Monate nach ihrem siebzehnten Geburtstag und eine Woche vor der Hochzeit von Prinz Charles und Lady Diana, für die ganz London herausgeputzt wurde, ihre Reisetasche die Stufen zu seinem Wohnhaus in Kensington hochhievte und die Klingel drückte, um die erste Nacht ihres Lebens unter dem Dach ihres Vaters zu verbringen. »Herzlich willkommen, komm rein.« Lambert nickte steif, sein Akzent klang irgendwie übertrieben, und einen Moment lang standen sie verlegen in der Eingangsdiele. »Ich habe schon gegessen«, sagte er, als könne das für sie ein Grund zur Sorge sein und müsse daher klargestellt werden, und obwohl sie ihm versicherte, dass auch sie gegessen hätte, ging er sofort in die Küche und machte den Kühlschrank auf. Er war hoch und weiß, viel größer als der bei ihr und ihrer Mutter, aber auch viel leerer. Sie sah eine halbe Zitrone, eine Flasche alte Milch und etwas in weißes Papier gewickeltes Flaches. »Ich hätte noch Zunge«, bot er ihr zögernd an. Doch sie sagte, sie sei noch von überbackenen Makkaroni satt. »Ich habe mit Mum gegessen«, bekräftigte sie und klopfte sich dabei auf den Bauch, als sei er tatsächlich voll. Es gab kein Gästezimmer, stattdessen richtete Lambert ihr mit einem Laken und einem Plaid, das er sich umlegte, wenn er fror, auf dem Sofa im Arbeitszimmer ein Lager. Doch sosehr sie auch suchten, konnten sie kein Kissen finden. Schließlich entdeckten sie, dass sich der Sitz seines Schreibtischstuhls abnehmen ließ, wenn man nur fest genug daran zog. Also schlugen sie ihn in ein Handtuch ein und lehnten ihn an das Ende ihres Betts. Als Lara im Schlafanzug war, sich die Zähne geputzt und das Gesicht gewaschen hatte, sagten sie sich Gute Nacht, und sie versuchte, nicht hinzuhören, während er im Bad war. Sie las in ihrem Buch und hielt sich gegen seinen Pinkelstrahl, das Glucksen und Brausen der Spülung und wenig später das komische kehlige Gurgeln, als er sich den Mund ausspülte, die Ohren zu. Sie schlief unru12


hig; auf den Wülsten zwischen den Polsterknöpfen des Ledersofas träumte sie, sie tanze auf hoher See von einer Wellenkrone zur anderen, bis sie – allzu früh und nach einem endlosen Auf und Ab – das Ratschen der Gardinen an der Stange hörte und ihr ein heller Lichtstrahl ins Gesicht fiel. »Morgen«, begrüßte Lambert sie. Kaum sah er, dass sie wach war, ging er in die Küche und setzte Wasser auf. Sie kamen wortlos, auf Anhieb miteinander zurecht, als hätten sie schon ihr ganzes Leben zusammen verbracht. Während Lara sich anzog, blieb er in der Küche. Danach schloss Lambert, der noch im Morgenmantel war, das Schlafzimmer hinter sich. Unterdessen schlüpfte Lara ins Bad, wusch sich das Gesicht, inspizierte im unbarmherzigen Morgenlicht genauestens ihr Gesicht und verzog beim Anblick eines dunklen Flecks, der auf ihrer Wange einen heranreifenden Pickel verriet, schmerzlich den Mund. Sie bürstete sich das Haar und frisierte es so, dass eine Strähne über die Stelle fiel. Mit dem Ergebnis unzufrieden, wuschelte sie es durch, damit es ihr nicht so flach am Kopf anlag. Nicht hinsehen, befahl sie sich, wohl wissend, dass das alles sowieso vergebliche Liebesmühe war. Als die Hoffnungslosigkeit wie ein schwarzer Regenschirm über ihr zusammenschlug, legte sie ein optimistisches Lächeln auf und zwang sich, wegzuschauen. Lambert hatte die Fahrkarten bereits. Wie hatte er sie bekommen? Es schien undenkbar, dass er eigens zum Bahnhof gefahren war und vor dem Schalter geduldig Schlange gestanden hatte. Vielleicht hatte sie ja jemand anders für ihn besorgt. Jemand, der praktisch veranlagt war, und sich mit solchen alltäglichen Dingen auskannte. Im Taxi sah Lara sie sich an. Zwei Rückfahrkarten für den Zug mit Fähranschluss, von Victoria Station bis nach Pisa. Jetzt brauchten sie nur noch den Bahnsteig, den Zug nach Dover und ihre Plätze zu finden. Lara blieb dicht hinter ihm und hielt angestrengt Ausschau nach einem Hinweis auf den richtigen Bahnsteig, während sie durch die 13


Menschenmassen drängten. Es war noch früh, doch auf dem Bahnhof herrschte reges Treiben, Rucksacktouristen scharten sich wie Möwenschwärme auf dem Boden zusammen. Für einen Tagesausflug gekleidete Familien waren unterwegs nach Eastbourne oder Brighton im Süden, und es wimmelte von Geschäftsleuten mit Aktenkoffern und Hosen, deren Bügelfalten über den Schuhen scharfe Spitzen bildeten. Und dann merkte Lara plötzlich, dass sie ihn verloren hatte. Sie sah sich um, erblickte aber weit und breit nur ein Meer an sommerlichen Köpfen, und als sie in Panik noch einmal ihre Umgebung absuchte und dabei den Griff ihrer Tasche viel zu fest umklammerte, packte sie die Verzweiflung eines Menschen, der alle Verantwortung an jemand anderen abgegeben hat. Gott, dachte sie, ich habe keinen Fahrschein und weiß nicht, wo es hingeht! Doch in dem Moment entdeckte sie ihn, wie er sein Wechselgeld entgegennahm und sich ein Bündel Zeitungen unter den Ellbogen klemmte. »Dad!«, brüllte sie und merkte schockiert, wie schnell sie zum Kind geworden war. Sie hatten nur noch fünf Minuten bis zur planmäßigen Abfahrt ihres Zuges. Lara spürte förmlich die Trillerpfeife unter der Haut. Doch Lambert ging zu einem anderen Kiosk, um gemächlich eine Schachtel Streichhölzer und eine Packung Gitanes zu kaufen. Die bekommst du auf der Fähre zollfrei, hätte sie jedem anderen gesagt, doch während er auswählte und zahlte, stand sie nur gehorsam da. »Noch drei Minuten«, zischte sie so leise, sie konnte, und da drehte er sich um und rannte los, so dass seine Reisetasche hin und her schwang und er gegen Leute rempelte, die es nicht so eilig hatten. »Entschuldigung, tut mir leid«, hörte Lara, die hinter ihm lief, ihn immer wieder sagen. Dann waren sie auf ihrem Bahnsteig, stürmten fast an der ganzen Längsseite des Zuges vorbei, schoben ihr Gepäck hinein und sprangen selber hinterher. »Es ist sehr wichtig«, keuchte er, »wie man abreist.« Eine Pfeife schrillte, und das lautstarke Zuschlagen der Türen dröhnte durch jeden Waggon. 14


»Wichtiger, als wie man ankommt?« Dankbar sank Lara auf ihren Sitz. »Das sag ich dir morgen«, erwiderte er lächelnd, schlug mit geübter Nonchalance eine Zeitung auf und fing an zu lesen. Als Kind hatte Lara sehr wenig von ihrem Vater gesehen: das gelegentliche Eisessen im Sommer, ein Ausflug zu einem Buchladen, wo sie sich aussuchen durfte, was sie wollte. Sie entschied sich für Der kleine Lord mit einem himmelblauen Einband und einer großen braunen Schrift. Sie hatte es immer noch, und jedes Mal, wenn sie es zwischen ihren alten Taschenbüchern und abgewetzten Leinenausgaben entdeckte, die sie mehr wegen ihrer Schönheit als ihres Inhalts ausgesucht hatte, überkam sie das unbehagliche Gefühl, als hätte sie im Alter von zehn Jahren eine zu sentimentale Wahl getroffen. Vielleicht hätte sie eins von seinen Büchern nehmen sollen, obwohl es lächerlich gewesen wäre, nach seiner Abhandlung über Europa in den Jahren zwischen den Weltkriegen zu fragen oder auch nach seinem Band über seine Wahlheimat Großbritannien und über den radikalen Wandel der Menschen in den ersten Nachkriegsjahren. Als sie und Cathy aus Indien zurück waren und nach London zogen, sahen sie sich öfter. Sie trafen sich zum Frühstück in altmodischen und noblen Hotels wie dem Claridge’s oder dem Dorchester oder aber am Abend am Eingang irgendeines Museums, wo sie kurz vor dem Ende der Öffnungszeit durch eine Ausstellung eilten. Weniger häufig besuchte sie ihn in seiner Wohnung, wo er gelegentlich vergaß, dass sie da war, wo er zum Beispiel nach einem Telefongespräch an seinen Schreibtisch zurückkehrte, um mit der Arbeit fortzufahren. Lara saß dann in seiner Küche, blätterte alte Auktionskataloge durch, mit antiken Schätzen, die bei Christie’s oder Sotheby’s verschachert werden sollten, oder brachte eine Stunde damit zu, jede grellbunte Seite der News of the World durchzublättern. 15


In Lamberts Küche türmten sich die Zeitungen. Wieso mistet er sie nicht aus?, fragte sie sich, doch als sie sich die Daten anschaute, stellte sie fest, dass sie sich oft in ein und derselben Woche angesammelt hatten. Aber wieso kaufte er so viele? Bestimmt stand überall das Gleiche drin. Manchmal beobachtete sie ihn und sah, dass er gar nicht die Zeit hatte, sie alle zu lesen, so dass er nur jede Seite überflog, als hoffte er, darin etwas Bestimmtes zu entdecken. Irgendwann steckte Lara an diesen Nachmittagen den Kopf zu Lamberts Tür herein und sah, wie er, den Füller im Mund, ins Leere starrte. »Dad … ich geh dann mal«, flüsterte sie, und er fuhr in seinem Sessel hoch, wenn er merkte, dass sie noch da war. An diesem Morgen hatten sie kaum Zeit fürs Frühstück gehabt. Nur einen Apfel und eine Tasse dünnen Tee. Lara hatte die übrigen Äpfel mitgenommen, weil sie, wenn sie liegen blieben, nur in der Schale verfaulen würden. Sie hatte sie zusammen mit einer ungeöffneten Flasche Perrier, die in der Diele stand, in ihre Tasche gepackt. Die Wasserflasche öffnete sie jetzt und nahm einen Schluck, der ihr so heftig in der Kehle sprudelte, dass sie fast keine Luft bekam. »Sachte, sachte«, sagte Lambert und griff ebenfalls danach. Sie wusste nicht, ob es von der Kohlensäure kam oder davon, dass sie aus derselben Flasche tranken, ohne sie abzuwischen, jedenfalls stieg ihr eins von beidem zu Kopfe. Sie verreisten. Sie machten wirklich Ferien zusammen! Bis jetzt hatte sie noch nicht ganz daran geglaubt, und um ihre Aufregung zu kaschieren, drehte sie sich zum Fenster um und sah hinaus. Sie hatten London hinter sich gelassen und ratterten bereits durch eine Vorstadtidylle und dann durch eine Parklandschaft mit Büschen und Feldern. Sie sah ihren Vater an, doch der hatte die Augen geschlossen und die Hand fest um den schmalen Hals der Wasserflasche gelegt. Obwohl der Zug überfüllt war und die Leute sogar in den Gängen standen, hatten sie ihr Erste-Klasse-Abteil für sich. Die Kopf16


stützen der dunklen breiten Sitze waren mit Schonern überzogen und erinnerten an die gestärkten weißen Schürzchen eines Zimmermädchens. Lara wusste, dass es nicht richtig war, und spürte die Ungerechtigkeit in den Knochen, streckte sich aber dennoch genüsslich aus, aß einen Apfel, warf das Gehäuse aus dem Fensterschlitz und sah zu, wie es vom Fahrtwind nach hinten geschleudert wurde. Sie dachte an ihre Mutter am vergangenen Abend, bevor sie aufgebrochen war. Sie hatte Salat gewaschen, und Lara fiel auf, dass sie sich nicht nach ihren Plänen erkundigt hatte. Vielleicht würde Cathy dasselbe tun, was Lara tat, wenn sie allein zu Hause war: eine Party feiern, die Nachbarn wütend machen, Weinblätter aus der Dose zum Frühstück essen, dreimal täglich baden. Auf einmal fühlte sie sich im warmen Licht der Sonne, die durchs Fenster strömte, in diesem perfekten Stadium der Reise kurz nach der Abfahrt und in sicherem Abstand von der Ankunft, rundum glücklich. Sie dachte daran, wie schrecklich es ihr vor gerade mal anderthalb Wochen am letzten Schultag vor den Ferien gegangen war. Wie feige sie sich vorgekommen war, als sie sich die Chance entgehen ließ, auch nur ein einziges Wort zu Clive zu sagen – Clive, von dem sie ein ganzes Schuljahr lang geträumt, nach dem sie sich gesehnt hatte und der, soweit sie wusste, immer noch keine Ahnung hatte, dass es sie gab. Jeden Montag saß sie in Geschichte hinter ihm und war von seinen schwarzen, ungekämmten Locken und den breiten Schultern seiner Donkeyjacke zu sehr abgelenkt, um sich Notizen zu machen, die sie hinterher noch entziffern konnte. Und dann hatte sie einen Entschluss gefasst. Sie würde ihn auf der Collegedisco, dem Finale aller Mittwochmittagsdiscos ansprechen, wo sie das ganze Jahr über nicht tanzen gewesen war. Mit dem kribbelnden Gefühl, dass etwas passieren würde, huschten Lara und ihre beste Freundin Sorrel ständig durch die Schwingtüren herein und hinaus oder standen an den zugezogenen Fenstern und tuschelten. 17


An dem Mittwoch hatte sie, nur durch einen Stapel Stühle von ihm getrennt, ganz nahe bei Clive gestanden, und gerade als sie glaubte, genügend Mut gefasst zu haben, rauschte ein Mädchen aus dem Theater-Leistungskurs herein, nahm ohne zu zögern seine Hand und zog ihn auf die Tanzfläche. Und er hatte es zugelassen. So einfach war das. Wieso hatte sie so wenig Rückgrat? Wieso hatte sie solch idiotische Angst? Sie versuchte, das Bild, wie die beiden, Meg und Clive, sich nur eine halbe Stunde später hinter der Bühne gierig küssten, aus ihrem Gedächtnis zu verbannen. »Mein Gott.« Lambert fuhr hoch, als der Zug zu bremsen begann. »Schon da.« Sie sammelten ihr Gepäck ein und drängten sich in die Menschentraube im Gang, um aus dem Zug zu steigen. Auf der Fähre gab es eine Bar, in der schon jetzt ein Bierdunst die Luft durchtränkte und die Aschenbecher überquollen; Lara spähte hungrig zu der Imbisskantine hinüber, doch Lambert hatte beschlossen, dass sie im Restaurant essen würden. Bis sie es endlich gefunden hatten, war nur noch ein Tisch frei, und kaum hatten sie Platz genommen, fragte sie jemand, ob er sich dazusetzen dürfte. Durfte er? Lara hatte keine Ahnung. Doch Lambert nickte höflich, und der für einen Briten viel zu geschniegelte Mann stellte sich vor und begann ein Gespräch, als seien sie zu diesem Essen verabredet gewesen. Er war ein Medizinprofessor aus Belgien, der an einem Forschungsprojekt arbeitete. Schon bald war klar, dass er von Lambert gehört hatte, ihn nunmehr wiedererkannte und begeistert war, die persönliche Bekanntschaft des großen Mannes zu machen. Man tauschte Ideen aus, ließ Meinungen, Namen und Theorien einfließen, und zu ihrer großen Verwunderung wurde Lara Zeuge, wie Lambert, der sich stets dagegen sträubte, allzu viele Menschen zu sehen oder gar über seine Arbeit zu diskutieren, eifrig nickte, dem Belgier ab und zu ins Wort fiel und etwas in Erinnerung rief und ihre Unterhaltung in vollen Zügen genoss. Lara saß da und spitzte die Ohren. Sie hoffte auf eine Gelegen18


heit, auch etwas beizusteuern zu dem bedeutsamen Gedankenaustausch, doch je konzentrierter sie dem Gespräch lauschte, desto weniger blieb ihr etwas davon haften. Also entschuldigte sie sich und ging zur Toilette. Sie machte einen Umweg an den Duty-free-Shops und der Information vorbei, dann sah sie, dass eine Tür aufs Deck offen stand und ging hinaus. Sie blickte auf die bedrohlich schäumende, dunkelgrüne See tief unter ihr. Sie lehnte sich über die Reling, schob die Füße zwischen die gestrichenen Pfosten und dachte, wie leicht es wäre, hindurchzuschlüpfen. Hätten sie nicht dicker sein sollen, so dass es schon auf den ersten Blick schwerer war, sich unbemerkt davonzustehlen? Lara trat zurück. Möwen stürzten sich rund um die Fähre kreischend in die Tiefe, und Kinder rannten mit lautem Geschrei die Rampen entlang. Sie lief bis zur Spitze des Bugs, wo im Windschutz eng umschlungen Pärchen saßen und die fröhlichen Gesichter der Gischt entgegenhielten, während sich die Reste ihrer Lunchpakete über die Holzbank verteilten. Sie suchte die Schultern der Männer nach Ähnlichkeiten mit Clive ab, sosehr sehnte sie sich danach, ihn dank einer glücklichen Schicksalsfügung an diesem unwahrscheinlichen Ort zu sehen, ihn für sich zu gewinnen oder auch nur Hallo zu sagen. Doch obwohl dort eine Reihe dunkelhaariger Männer mit Donkeyjacken saß, war er ganz offensichtlich nicht dabei. Lara fiel plötzlich ein, dass sie schon längst wieder im Restaurant sein sollte. Sie drehte sich um, schlüpfte durch die nächstbeste Tür hinein, polterte die Metalltreppen hoch und runter, verirrte sich, wusste am Duty-free-Shop endlich wieder, wo sie war, lief an der Kantine und der Information vorbei, und da saßen sie, ihr Vater und der Belgier, immer noch ins Gespräch vertieft, während die Kellnerin offenbar nicht mehr mit ihr gerechnet und ihren Teller abgeräumt hatte. Lara kehrte auf ihren Platz zurück und nickte zur Entschuldigung stumm, dann kam man zu dem Schluss, dass ein Dessert nicht nötig war.

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»Die erste Klasse?«, fragte Lambert einen Schaffner auf dem Bahnsteig in Calais. »De première classe avec couchette?« Doch der Mann schüttelte nur überheblich den Kopf und sagte, dieser Zug hätte keine erste Klasse. Er griff nach den Fahrscheinen und schnippte spöttisch mit dem Finger dagegen. Schlafwagen gab es auch nicht. Jedenfalls nicht für sie. Sie warfen beide einen ungläubigen, prüfenden Blick auf die Tickets, dann wurde ihnen bewusst, dass sie wertvolle Zeit verloren, und sie stiegen ein, um sich zwei Plätze zu suchen. So unwahrscheinlich es schien, waren im gesamten Zug keine zwei Sitzplätze zusammen mehr frei. Alarmiert schritten sie einen Wagen nach dem anderen ab und spähten in die Abteile, in denen es sich die Leute schon bequem gemacht hatten und ihnen feindselige Blick zuwarfen. Was sind das für Leute?, dachte Lara. Wo kommen die her? Wieso haben die so schnell einen Platz gefunden? In diesem Moment hasste sie diese Fremden fast, die sich so selbstgefällig auf ihren Sitzen breitmachten, als gehörten sie ihnen und als verbände sie nicht das Geringste mit ihresgleichen. Als Lambert noch eine schwere Tür zugleiten ließ, schien er die Hoffnung aufzugeben, und Lara musste sich zusammenreißen, um ihm nicht die Hand auf den Arm zu legen. Vielleicht hätte er London, den Hort seines Arbeitszimmers und die Stätte seines Ruhms, besser nicht verlassen sollen; doch dann stießen sie im letzten Moment auf ein Abteil, in dem eine wohlbeleibte Frau mit einem Haufen Gepäck drei Sitze eingenommen hatte. »Excuse-moi, pouvez-vous enlever vos baggages?«, fragte Lambert in galantem Französisch, woraufhin sie sich anstandslos erhob und daranmachte, ihre Sachen zu verstauen. Lambert setzte sich neben die Frau und Lara ihm gegenüber. Erleichtert lächelten sie sich an, und Lara nahm einen Schluck aus der Flasche Perrier. Sie lehnte sich zu ihm hinüber und bot sie ihm an. »Danke«, sagte er, als wäre es Champagner; dann hielt er die Flasche wie zuvor am Hals. 20


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