Sie alle verbindet eines – die leidenschaftliche Auseinandersetzung mit Kunst: In seinem Buch stellt uns Michael Kimmelman zum einen weltberühmte Künstler wie Pierre Bonnard oder Matthew Barney vor, zum anderen weniger bekannte wie die Künstlerin Jay DeFeo, die jahrelang nur von Brandy und Zigaretten lebte, um ein tonnenschweres Gemälde fertigzustellen. Vor allem aber erzählt Kimmelman mit tiefer Sympathie von passionierten Amateuren, deren Werke in keinem der großen Museen zu finden sind – deren Leben aber gleichwohl zu einer Art Kunstwerk wurde: Alles für die Kunst ist kein Buch für Kunstexperten, sondern ein traumwandlerisch leicht geschriebener Essay, der in zehn Kapiteln ganz und gar persönlich davon erzählt, wie sehr Kunst unser Leben bereichert.
Michael Kimmelman, geboren in New York City, studierte in Yale und Harvard. Er ist einer der renommiertesten Kunstkritiker der Welt, leitet das Kunstressort der New York Times und lebt derzeit mit seiner Familie in Berlin.
M ichael K immelman
Alles f 端r di e K uns t Aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff
Berliner Taschenbuch Verlag
November 2010 BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, Berlin © Michael Kimmelman, 2005 Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel The Accidental Masterpiece. On the Art of Life and Vice Versa bei The Penguin Press, New York Für die deutsche Ausgabe © 2009 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin Das Gedicht Eingang von Rainer Maria Rilke stammt aus dem Band Das Buch der Bilder, Insel Verlag, Frankfurt a. M., 2000. Umschlaggestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg, unter Verwendung der Fotografie »Jay DeFeo working on the Rose« © Bruce Conner Papers, Bancroft Library, University of California Press/ VG Bildkunst Bonn 2010 Druck und Bindung: Clays Ltd, St Ives plc Printed in Great Britain isbn 978-3-8333-0699-0 www.berlinverlage.de
F端r meine Mutter, f端r Maria und f端r Harry
Inhalt
Einleitung
9
Die Kunst, eine Welt zu erschaffen
17
Die Kunst der Kunstlosigkeit
37
Die Kunst, die Welt aus luftiger Perspektive zu betrachten
61
Die Kunst, Kunst zu schaffen, ohne einen Finger zu rühren
81
Die Kunst, Glühbirnen zu sammeln
103
Die Kunst, seine Zeit zu maximieren
121
Die Kunst, sich zu finden, wenn man sich verirrt hat
143
Die Kunst, nackte Körper produktiv zu betrachten
163
Die Kunst des Wallfahrtens
191
Die Kunst der Kaugummiautomaten und andere einfache Freuden
229
Danksagung Literatur in Auswahl Register Abbildungsnachweise
247 251 257 267
Einl ei tung
dan k e iner je n e r zufälligen Wendungen des Schicksals erblickte der Maler Pierre Bonnard 1893 auf einer Straße in Paris (so jedenfalls heißt es) eine junge, elfenhafte Frau, die aus einer Straßenbahn stieg. Sie war vielleicht einen Meter fünfzig groß, schmächtig und zerbrechlich und vermittelte den Eindruck eines nervös flatternden Vogels. Später sollte sie Bonnard erzählen, dass sie sechzehn Jahre alt sei und Marthe de Méligny heiße. Er folgte ihr zu ihrer Arbeitsstelle (sie nähte künstliche Perlen auf die Schleifen von Grabgebinden). Erst viele Jahre später erfuhr Bonnard ihren echten Namen, Maria Boursin, und ihr wahres Alter; sie war bei ihrer Begegnung nicht sechzehn Jahre alt, sondern fast ein Jahrzehnt älter. Für das nächste halbe Jahrhundert wurde Marthe für Bonnard, wie sein Biograf Timothy Hyman schreibt, zur »bestimmenden Gestalt seines Lebens und seiner Arbeit«. Ihre wachsenden nervlichen Probleme, ihre Misanthropie, ihre Eifersucht und Hypochondrie bestimmten zunehmend das abgeschiedene und eng umgrenzte Leben der beiden. Und dieses Leben wiederum prägte Bonnards Weg als Künstler ekstatischer Innenschau. Nicht dass jede Kunst oder gar jede große Kunst wie die von Bonnard sich auf ein einziges Moment zurückführen ließe oder davon bestimmt wäre, wie der Kunsthistoriker Kenneth Clark behauptet. Meisterwerke bestehen aus zahlreichen Schichten. Bei Bonnard gehören zu diesen Schichten auch die Einflüsse Edgar Degas’, Antoine Watteaus und 9
antiker griechischer Statuen. Aber Marthe oder vielmehr Bonnards Beziehung zu Marthe wirkte wie ein Katalysator. Es ist kaum anzunehmen, dass Bonnard an diesem Morgen auf die Straße trat, um eine Muse zu finden, die er dann immer wieder zeichnen und malen sollte. Doch wahrscheinlich hat kein Künstler vor ihm seine Kunst so vollständig und obsessiv auf eine einzige Person ausgerichtet. Bonnard nahm an Marthe, vielleicht ohne sich darüber im Klaren zu sein, auf den ersten Blick etwas wahr, von dem er spürte, dass er es als Maler brauchte, auch wenn man sich kaum vorzustellen vermag, er hätte auch nur im Traum daran gedacht, sein weiteres Leben mehr oder weniger abgeschieden mit dieser zerbrechlichen Person zu verbringen. Obwohl er bei ihrer ersten Begegnung bereits ein bedeutender Künstler war, datierte er die Geburt seiner Identität als Maler auf die Zeit kurz danach. Hätte er an diesem Tag einen anderen Weg eingeschlagen oder nicht in ihre Richtung geschaut, als sie aus der Straßenbahn stieg, oder wäre er ihr nicht gefolgt, sondern hätte sich in ein Café gesetzt oder einen Freund besucht, oder hätte er sich auch nur hinuntergebeugt, um seine Schnürsenkel zu binden, wäre er vielleicht einer anderen Frau begegnet und sein Leben hätte einen anderen Lauf genommen. Die Folgen dieser Begegnung mit Marthe waren, so könnte man sagen, ein zufälliges Meisterwerk. Oder anders ausgedrückt, Bonnard schuf seine neuartige, tiefe und wunderbare Kunst aus einer Beziehung heraus, die vielen Freunden und Beobachtern krankhaft isoliert und unglücklich erschien. Intensiv zu leben ist ein menschliches Grundbedürfnis und eine künstlerische Notwendigkeit. In seiner selbst gewählten Abgeschiedenheit mit Marthe lebte Bonnard umso intensiver durch seine Kunst. Sein Wille, dies zu tun, war ein schöpferischer und aufschlussreicher Akt. »Ich fühlte mich weniger von der Kunst selbst angezogen als vom Künstlerleben und allem, was es für mich bedeutete«, sagte er einmal. »Ich fühlte mich schon seit langem zum Malen und Zeichnen hingezogen, aber 10
das war keine unwiderstehliche Leidenschaft. Ich wollte vor allem eines: der Monotonie des Lebens um jeden Preis entkommen.« Was von außen als monoton erscheinen mag, empfand Bonnard ganz anders. Wenn er so rhapsodische Szenen seines häuslichen Lebens mit Marthe malte – ihr Haus, ihren Garten, ihr Esszimmer, eine Schale mit Obst auf ihrem Esstisch, den Blick aus dem Fenster, Marthe im Bad –, verwandelte er in Wirklichkeit sein zurückgezogenes Leben in eine Kunst von unwiderstehlicher Leidenschaft. Leider sind wir nicht alle so begabt wie Bonnard und vermögen unser Leben in Kunst zu verwandeln, aber wir können, wie ich meine, von ihm doch etwas darüber lernen, wie Kunst das Leben verändert. Wir können unter anderem lernen, dass ein mit Sinn für Kunst verbrachtes Leben selbst eine Art Kunst sein kann. Auch wenn nur wenige von uns wie Bonnard sein mögen, sind doch einige von uns wie der Zahnarzt Hugh Francis Hicks aus Baltimore, der in seiner Freizeit einem Hobby nachging. Er trug gut 75 000 Glühbirnen und verwandte Gegenstände zusammen. Bis zu seinem Tod im Jahr 2002, als seine Töchter die Sammlung dem Baltimore Museum of Industry übereigneten, stellte er seine Glühbirnen viele Jahre in einem privaten Museum aus, das sich im Keller seines Hauses befand. Er nannte es das Museum of Incandescent Lighting. Besucher konnten dort bei freiem Eintritt die Fackel der Freiheitsstatue, eine mikroskopisch kleine Birne aus dem Gefechtskopf einer Rakete und andere Kuriositäten oder Neuerungen aus der Geschichte der elektrischen Beleuchtung bewundern, die er über fast sieben Jahrzehnte zusammengetragen hatte. Die Glühbirnen waren das Objekt seiner ausdauernden Liebe. Wenn unerwartet ein Fremder auftauchte, der sein Museum besichtigen wollte, verließ Dr. Hicks augenblicklich seine Praxis im Erdgeschoss seines Hauses und führte ihn im Arztkittel durch seine Sammlung. Eine seiner Töchter erinnert sich, dass er Patienten im Behandlungsstuhl sitzen ließ, während das Peroxid noch in 11
ihrem Mund schäumte. Im Schnitt verzeichnete er jährlich sechstausend Besucher in seinem Museum. »Sie alle kommen hierher und staunen«, sagte Dr. Hicks. Und damit hatte er wahrscheinlich recht. Er schuf ohne Zweifel etwas Staunenswertes aus seinem seltsamen Hobby. Seine Leistung bestand nicht nur in der Zusam menstellung der Glühbirnensammlung, sondern auch darin, dass er die Zufriedenheit, zu der er über seine Sammelleidenschaft fand, anderen Menschen zu vermitteln versuchte. Die in alten Holzkästen mit vergilbten Etiketten verstaute Sammlung, nach Typ, Epoche und Größe geordnet, mit Unterabteilungen wie Birnen, Straßenleuchten oder Kandelaber, wurde sein zufälliges Meisterwerk – womit ich kein herkömmliches Kunstwerk wie ein Gemälde oder eine Plastik meine, sondern etwas, das wie Kunst aus einem schöpferischen Impuls, einem tiefen, zur n-ten Potenz gesteigerten Drang hervorgeht. Sein Museum wurde zu einem Heiligtum für seine eigentümliche Leidenschaft und demonstrierte (auch hier in gleicher Weise wie Kunst), wie sinnvoll es sein kann, bestimmte Dinge genau zu betrachten, in diesem Fall die gemeine Glühbirne. Mir gefällt die fast zufällig anmutende Tatsache, dass Glühbirnen in Comics die übliche Metapher für Einfälle sind, das Bild, das in der Sprechblase auftaucht, wenn jemand eine Idee hat. Die Idee, die hinter meinem Buch steht und die mir irgendwann in den Sinn kam, ist ganz einfach. Ich habe nicht vor, Kunstgeschichte oder Kunstkritik im eigentlichen Sinne zu betreiben oder die Leistungen der größten Maler, Bildhauer und Fotografen oder meiner Lieblingskünstler herauszustellen. Ich will auch nicht darauf hinaus, dass Kunst stets heilsam sei. Ein mit dem Betrachten schlechter Kunst verbrachter Tag kann lang und trist sein. Aber Kunst kann uns Wege zu einem erfüllteren Leben aufzeigen – ob nun am Beispiel eines so herausragenden Künstlers wie Bonnard oder eines von Glühbirnen begeisterten Zahnarztes wie Dr. Hicks. Anders ausgedrückt, ich möchte in diesem Buch zeigen, dass künstlerisches Schaffen, das 12
Sammeln von Kunstwerken und selbst schon das Betrachten von Kunst das Leben zu einem täglichen Meisterwerk machen können. Was natürlich nicht heißen soll, durch Kunstgenuss werde jeder Tag vollkommen. Aber weil ich mein Leben größtenteils mit dem Betrachten von Kunst verbringe, habe ich den Eindruck gewonnen, dass selbst die gewöhnlichsten Alltagsdinge eine Bereicherung erfahren können durch die Erkenntnisse, die uns die Kunst lehrt: dass Schönheit oft dort zu finden ist, wo man sie nicht vermutet; dass wir sie selbst entdecken und auch erfinden oder wiedererfinden können; dass die wichtigsten Dinge niemals so einfach sind, wie sie scheinen, aber dass die Welt auch dann reicher ist, wenn sie sich tröstlichen Formeln nicht fügen will. Und dass es gut ist, die Augen weit offen zu halten, weil man nie weiß, was man entdecken wird. Weil der Drang, das Leben mit größtmöglicher Aufmerksamkeit zu leben, ein instinktives Bedürfnis darstellt, ob man die Tätigkeit des Künstlers nun als Beruf oder zum Vergnügen ausübt, ist die Kunst guten Sehens eine unerlässliche Fertigkeit, die man zum Glück erlernen kann. Ich hoffe, mich der Kunst des Sehens hier im Geiste eines Amateurs zu nähern. Und mit »Amateur« meine ich im ursprünglichen Sinne des Wortes einen Liebhaber, der etwas tut, weil er es aus ganzem Herzen liebt. Die besten Amateure erreichen die Fähigkeiten eines Berufskünstlers, doch auch der wahre Berufskünstler bleibt in seinem Herzen ein Amateur und zügelt den Zynismus und die Ironie, die in manchen Kreisen als besondere intellektuelle Leistung gelten. Skepsis ist nützlich und für Kritiker unerlässlich. Aber in seinem Buch Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst klagt der spanische Philosoph José Ortega y Gasset in einem Abschnitt mit dem Titel »Bestimmung zur Ironie«, dass »die neue Kunst durch dies unvermeidliche Ingredienz der Ironie einen äußerst gleichförmigen Anstrich erhält, der den Geduldigsten zur Verzweiflung bringen kann«. Vor einigen Jahren schrieb ich für eine Zeitschrift 13
einen Artikel über meine Erfahrungen bei einem Wettbewerb für Amateurpianisten, an dem ich teilnahm, nachdem ich viele Jahre nicht gespielt hatte. Ich staunte nicht schlecht, als ich auf meine einundneunzig Mitbewerber aus aller Welt traf – Wissenschaftler, Mechaniker, Ärzte, Flugbegleiter, Fernsehsprecher, Innendekorateure, Mütter, Gerichtsreporter, Diplomaten, Computerberater, Manager, eine ehemalige Miss Minnesota –, die Urlaub von ihrem alltäglichen Leben genommen hatten und nach Fort Worth in Texas gekommen waren, um in der ersten Runde des Wettbewerbs gerade einmal zehn Minuten vor lauter Fremden zu spielen. Da war ein Richter aus Frankreich, eine Haarstylistin aus Denver und ein Mann, der in Oklahoma Fenster montierte und einst sein Klavier versetzt hatte, um Crack zu kaufen. Er hatte wegen Diebstahls im Gefängnis gesessen. Die Rückkehr zur Musik half ihm, wieder auf die Beine zu kommen. Da war ein Arzt namens Len Horovitz. Er war mit einem zusätzlichen Daumen auf die Welt gekommen, der entfernt werden musste. Er lernte Klavierspielen, überwand seine Behinderung und widmete sich schließlich der Medizin, die ihm erst die Möglichkeit eröffnet hatte, Klavier zu spielen. Während des Wettbewerbs fragte er einmal einen anderen Teilnehmer, den Philosophieprofessor Dominic Scott aus Cambridge, warum die Griechen eine Verbindung zwischen Musik und Medizin gesehen hatten. Scott sagte ihm, die Griechen seien der Auffassung gewesen, die Musik heile die Seele in ähnlicher Weise wie die Medizin den Körper. Dasselbe könnte man auch von der bildenden Kunst sagen. Ich war bewegt von den zahlreichen Reaktionen der Leser, die sich durch den Artikel angeregt fühlten, mir von ihren eigenen aufgegebenen schöpferischen Bemühungen, nicht eingeschlagenen Wegen oder verlorenen Liebhabereien zu berichten – Geschichten über die Hoffnung, die in ihnen schlummernde Kunst hervorbringen zu können, aber auch über die Befürchtung, das könne irrational sein 14
oder ein Traum bleiben. Niemand möchte das Schicksal der alten »Beamtenseele« aus Toulouse teilen, die sich in ihre »bürgerliche Sicherheit« eingerollt und ein »bescheidenes Bollwerk gegen Sturm und Flut und Gestirne« errichtet hat, wie Antoine de Saint-Exupéry einst schrieb: »Nun ist der Lehm, aus dem du gemacht bist, eingetrocknet und hart, das verborgene göttliche Spiel in dir wird nie zum Klingen erwachen: tot ist der Dichter, der Musiker, der Sternenforscher, die vielleicht auch in dir einst gewohnt haben.« Honoré de Balzac schrieb einmal eine Erzählung mit dem Titel Das unbekannte Meisterwerk. Sie handelt von einem Maler, der eine derartige Besessenheit für eines seiner Bilder entwickelte, dass er es als seine Frau oder seine Geliebte bezeichnete, auch wenn andere Maler darin allenfalls ein unfertiges Werk erblickten. Pablo Picasso fand die Geschichte so wunderbar, dass er in das Atelier in der Rue des Grands-Augustins in Paris zog, in dem Balzacs Erzählung angeblich angesiedelt war. Wenn Dr. Hicks den Ausdruck »Staunen« für die Reaktion seiner Besucher verwandte, so wirkt das angemessen. Mein Buch soll gleichsam eine Wunderkammer sein, ein Kabinett wunderbarer und staunenswerter Dinge im Blick auf die Kunst, die sich wie die Angelegenheiten des Herzens zuweilen der Logik entziehen und (gerade dann besonders) lehrreich sein können, wenn sie schwierig oder unergründlich sind. Es heißt, Edgar Degas habe 1911 seinem Helden des neunzehnten Jahrhunderts Jean-Auguste-Dominique Ingres die denkbar größte Reverenz erwiesen, indem er dessen Ausstellung in der Pariser Galerie George Petit täglich besuchte, obwohl er bereits erblindet war. Er ging dorthin, um seine Hände über die Gemälde wandern zu lassen. Ich stelle mir vor, Degas hoffte, Ingres’ Werke etwa in der Art berühren zu können, wie Erwachsene ihre Kinder streicheln, nicht nur aus Zuneigung, sondern um einen körperlichen Kontakt herzustellen, der über den Augenblick hinausreicht. Die Zeit verrinnt rasch in solchen Gesten der Liebe und 15
Hingabe – durch diese Berührungspunkte mit etwas, das wir lieben und das uns überdauern wird. Was hier nun folgt, sind meine eigenen Berührungspunkte mit Dingen, die größer sind als ich selbst.
16
Die Kunst, ei ne We lt zu erschaff en
das sc hön e, s o hat Stendhal einmal gesagt, sei ein Versprechen auf Glück. In logischer Fortführung dieses Gedankens könnte man sagen, das innere Leben sei, aus der richtigen Perspektive betrachtet, möglicherweise glücklicher oder schöner, als dies von außen den Anschein hat. Entscheidend ist hier die Perspektive. Ein Beispiel wäre die Ehe des Malers Pierre Bonnard mit Marthe de Méligny. Vor einigen Jahren ging ich gemeinsam mit Henri Cartier-Bresson durch das Pariser Musée Pompidou. Wir kamen zu einem Selbstbildnis von Bonnard, den Cartier-Bresson noch selbst fotografiert hatte, kurz bevor der Maler 1947 im Alter von neunundsiebzig Jahren starb. Auf Cartier-Bressons Fotografie ist Bonnard ein bebrillter Sperling, mit Schal, Jackett und Leinenhut – eine große, gebeugte, kurzsichtige und einnehmende Gestalt. Auf Bonnards Selbstbildnis, das er gegen Ende seines Lebens malte, wirkt er dagegen eher armselig und bemitleidenswert: ein alter Mann vor dem Spiegel, dunkel vor einem leuchtend farbigen Hintergrund, der Kopf ein verschwommener, sonnenverbrannter Klecks auf einem nackten, abgemagerten Körper, das Gesicht ein wenig außerhalb des Brennpunkts, die Augen tief im Schädel. Es ist eines der bescheidensten, unsentimentalsten Selbstporträts der modernen Kunst. CartierBresson sah es sich eine Weile an und sagte dann zu mir: »Wissen Sie, Picasso mochte Bonnard nicht, und ich kann mir vorstellen, warum, denn Picasso kannte kein Mitgefühl. Es wäre eine sehr einfache Erklärung, wenn man sagte, Bonnard blickt auf diesem Bild 17
in den Spiegel. Er blickt weit darüber hinaus. Für mich ist er der größte Maler des zwanzigsten Jahrhunderts. Picasso war ein Genie, aber das ist etwas ganz anderes.« Ich wusste, worauf er anspielte. Als Bonnard starb, brachten die Cahiers d’Art, die einflussreichste französische Kunstzeitschrift der Zeit, einen Artikel von Christian Zervos, einem von Picassos Sprachrohren, der dessen Ansichten über Bonnard nachplapperte. »Wie lässt sich die Wertschätzung des Bonnard’schen Werkes erklären?«, fragt Zervos. »Ganz offensichtlich teilen nur Menschen diese Verehrung, die nichts von den großen Herausforderungen der Kunst wissen und sich vor allem ans Leichte und Ansprechende halten.« Eine ziemlich schreckliche Bemerkung. Picasso hatte Bonnard ebenfalls als unbedeutenden Maler bezeichnet. »Sag mir nichts über Bonnard. Was der macht, ist keine Malerei … Malen ist keine Frage der Sensibilität. Es geht darum, die Macht zu ergreifen, sie der Natur abzuringen und nicht zu erwarten, dass sie dir Informationen zukommen lässt oder gute Ratschläge erteilt.« Und schlimmer noch, in Picassos Augen ist Bonnard »in Wirklichkeit gar kein moderner Maler«. Inzwischen genießt Bonnard wieder ein höheres Ansehen, auch wenn manche ihn immer noch für einen kunsthistorischen Anachronismus halten, für einen Impressionisten nach dem Tod des Impressionismus. Bonnard galt als zu weich. Die moderne Kunst hat uns an ätzende Schärfe gewöhnt. Wir sind vorsichtig geworden gegenüber einer Kunst von so paradiesischer Schönheit, deren Komplexität und eigentümliche Traurigkeit nicht auf den ersten Blick zum Vorschein kommen. Nachdem er sich in der Kunstgeschichte eine Nische als Mitglied der Nabis erobert hatte, jener Künstlergruppe, die Ende des neunzehnten Jahrhunderts Paul Gauguin nachahmte, malte er auch weiterhin in außergewöhnlich opulenter Manier, während die Welt der Kunst sich dem Kubismus und anderen strengen Ismen der Moderne zuwandte. So kam die Vorstellung auf, Bonnard sei ein altmodischer Maler von Bonbons, der an der Riviera lebte. 18