Lorrie Moore: Ein Tor zur Welt

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Ein Tor zur Welt



Lorrie Moore

Ein Tor zur Welt Roman Aus dem amerikanischen Englisch von Frank Heibert und Patricia Klobusiczky

Berlin Verlag


Die Arbeit der Übersetzer am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Die Originalausgabe erschien 2009 unter dem Titel A Gate at the Stairs bei Alfred A. Knopf, New York © 2009 Lorrie Moore Für die deutsche Ausgabe © 2011 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg Typographie: Birgit Thiel, Berlin Gesetzt aus der Scala von Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany isbn 978-3-8270-0932-6 www.berlinverlage.de


Dieses Buch ist f端r Victoria Wilson und Melanie Jackson.



»Was das Leben betrifft, das lassen wir unsere Diener für uns erledigen.« Villiers de l’Isle-Adam, Axel

»Suzuki!« Madame Butterfly

»Alle Plätze bieten die gleiche Sicht aufs Universum.« Ausstellungsführer des Hayden-Planetariums



I

In diesem Herbst blieb es lange warm, die Singvögel wurden kalt erwischt. Als Schnee und Wind Ernst machten, hatten sich schon zu viele zum Bleiben verleiten lassen, und statt gen Süden zu fliegen, statt gen Süden geflogen zu sein, hockten sie dicht beieinander in den Gärten, mit aufgeplustertem Gefieder, um ein Fünkchen Wärme zu halten. Ich suchte einen Job. Ich war Studentin und wollte babysitten, also lief ich von einem Vorstellungsgespräch zum nächsten durch die schönen, aber winterlichen Wohnviertel, wo gespenstisch viele Rotkehlchen auf dem gefrorenen Erdboden herumpickten, fahlgrau und gezaust – wobei, welcher Vogel wirkt selbst unter günstigsten Umständen nicht ein bisschen gezaust –, bis schließlich verblüffenderweise an einem Wochenende, als ich schon ziemlich lange suchte, die Vögel alle verschwunden waren. Ich wollte mir lieber nicht ausmalen, was mit ihnen passiert war. Na ja, das ist eine Floskel – reine Höflichkeit, um Zartgefühl vor­zutäuschen –, denn in Wirklichkeit dachte ich die ganze Zeit da­rüber nach: stellte mir vor, dass sie tot in gewaltigen Haufen auf irgendeinem Maisfeld außerhalb der Stadt lagen, Killing Fields, oder in Zweier- oder Dreiergruppen vom Himmel fielen, kilometerweit entlang der Staatsgrenze von Illinois. Es war Dezember, und ich suchte eine Arbeit, die im Januar losgehen sollte, wenn die Vorlesungen wieder begannen. Ich hatte meine Prüfungen hinter mir und meldete mich auf Jobangebote vom Schwarzen Brett, in denen es um »Kinderbetreuung« ging. Ich mochte Kinder – wirklich! –, oder besser, ich mochte sie ganz gern. Manchmal hatten sie etwas Faszinierendes. Ich bewunderte 9


ihre Ausdauer und Offenheit. Und ich konnte durchaus mit ihnen umgehen, für die Babys hatte ich lustige Grimassen drauf, für die älteren Kinder Kartentricks und jenen theatralisch-spöttischen Ton, der sie entwaffnete und fesselte. Aber es war nicht gerade meine Stärke, mich länger mit Kindern zu beschäftigen; irgendwann langweilte ich mich, vielleicht erging es mir da wie meiner Mutter. Hatte ich zu viel Zeit mit ihren Spielen verbracht, sehnte sich mein Geist nach Nahrung und wollte sich in das Buch versenken, das ich gerade im Rucksack hatte. Ich hoffte vor allem auf frühes Zubettgehen und lange Mittagsschläfchen. Ich war aus Dellacrosse, von der Central Highschool beziehungsweise von einer kleinen Farm an der alten Perryville Road, in die Universitätsstadt Troy gekommen, »Troja, das Athen des Mittleren Westens«, wie aus einer Höhle, wie das Priesterkind eines kolumbianischen Eingeborenenstamms, über das ich in Kulturanthropologie etwas gelesen hatte, ein Junge, der dadurch mystischen Status erlangte, dass man ihn die längste Zeit seiner Kindheit im Dunkeln hielt und nur durch Geschichten – nicht durch Erfahrung – mit der Außenwelt konfrontierte. Einmal ans Tageslicht gebracht, befand er sich in einem immerwährenden heiligen Zustand der Blendung und Verwunderung; keine Geschichte hätte je der Wirklichkeit gleichkommen können. Und so war es auch bei mir. Mich hatte eigentlich nichts vorbereitet. Nicht das College-Sparschwein im Esszimmer, die Sparbriefe meiner Großeltern oder die zerlesenen Enzyklopädiebände von World Book mit ihren wunderschönen Farbgrafiken über die internationale Weizenproduktion und den abgebildeten Geburtshäusern der Präsidenten. Die flache grüne Welt der schwein- und pferdelosen Farm meiner Eltern – die Ödnis, die Fliegen, die Stille, die täglich vom Qualm und Lärm der Maschinen zerrissen wurde – entschwand und entließ mich in ein funkelndes Stadtleben voller Bücher und Filme und geistreicher Freunde. Jemand hatte das Licht angemacht. Jemand hatte mich aus der Höhle geführt – 10


der Höhle der Perryville Road. Mein Gehirn war entflammt für Chaucer, Sylvia Plath, Simone de Beauvoir. Zweimal wöchentlich stand ein junger Professor namens Thad, der Jeans und Schlips trug, vor einem Hörsaal voller staunender Farmkinder wie mir und erörterte in anregender Weise die Masturbation des Kommas bei Henry James. Ich war gebannt. Ich hatte noch nie gesehen, dass ein Mann Jeans und Schlips kombinierte. Allerdings hatte jene alte Höhle einen Mystiker hervorgebracht; meine Kindheit hatte bloß mich hervorgebracht. In den Gängen diskutierten Studenten über Bach, Beck, Balkanisierung und bakteriologische Kriegsführung. Ein paar von den Auswärtigen fragten mich Sachen wie: »Du bist doch vom Land. Stimmt es, dass man stirbt, wenn man Bärenleber isst?« Sie fragten: »Schon mal einem begegnet, der mit einer Kuh gedingst hat?« Oder: »Ist es erwiesen, dass Schweine keine Bananen essen?« Was ich wusste, war, dass eine Ziege eigentlich keine Konservendosen verzehrt: aber sie leckt gern den Klebstoff vom Etikett ab. Nur dass mich danach nie einer fragte. Aus unserer damaligen Perspektive waren die Ereignisse vom letzten September – noch nannten wir sie nicht Nine-Eleven – zugleich nah und fern. Marschierende PoWi-Hauptfächler intonierten Sprechgesänge auf dem Campus und in den Fußgängerzonen: »Ihr habt euch die Suppe eingebrockt! Jetzt müsst ihr sie auch auslöffeln!« Wenn ich mir das überhaupt vorstellen konnte – die Suppe, die Brocken, das Löffeln –, dann nur hinter Glas und so, als befände ich mich inmitten einer Menge, die gaffend die Hälse reckt, ähnlich wie (das wusste ich aus dem Kunstgeschichteseminar) die Mona Lisa im Louvre angestarrt wird: La Gioconda!, schon der Name wie eine Schlange, das listig-verkniffene Lächeln zwar verglast und auf Abstand gehalten, aber man musterte es genauestens, um sich kein ominöses Zucken entgehen zu lassen. Es war, genau wie der September und seine Folgen, ein selbstgewisses Katzengrinsen vorm gefundenen Fressen. Meine Mitbewohnerin 11


Murph – eine schiefzähnige Blondine mit Nasenpiercing aus Dubuque, die schwarze Seife und schwarze Zahnseide benutzte, deren rasch gefällte Urteile bemerkenswert barsch waren (Dubuque sprach sie »Du-ba-kju« aus) und die ihre Englischlehrer einst mit der Aussage in Angst und Schrecken versetzt hatte, der literarische Held, den sie am meisten bewundere, sei Dick ­Hickock aus Kaltblütig –, Murph hatte ihren Freund am 10. September kennengelernt, und als sie am nächsten Morgen bei ihm aufwachte, rief sie mich an, entsetzt und entzückt, während im Hintergrund der Fernseher dröhnte. »Ich weiß, ich weiß«, sagte sie mit hörbarem Achselzucken. »Ein schrecklich hoher Preis für die Liebe, aber es musste einfach sein.« Ich erhob meine Stimme zu einem Pseudoschnauzen. »Du kranke Schlampe! Da hat’s Tote gegeben! Und du denkst nur an dein Vergnügen!« Dann verfielen wir in eine Art Hysterie – ein erschrockenes, schuldbewusstes, hoffnungsloses Gelächter, das mir bei Frauen über dreißig noch nie untergekommen ist. »Tja«, seufzte ich, als mir klar wurde, dass ich sie von nun an wohl kaum noch zu Gesicht kriegen würde, »ich wünsche euch viel Techtel – und kein Mechtel.« »Bloß nicht«, sagte sie. »Bei Mechtel gibt es immer Tränen, und es ruiniert auch das Techtel.« Ich würde sie vermissen. Die Kinos schlossen zwar für zwei Tage, und eine Woche lang hängte sogar unsere Yogalehrerin eine amerikanische Fahne auf, bezog mit geschlossenen Augen und im Lotussitz davor Stellung und sagte: »Wir atmen jetzt tief ein, zu Ehren unseres großartigen Landes« (worauf ich mich verzweifelt umsah, weil ich das Atmen nie richtig hinkriegte), unsere Gespräche rutschten trotzdem schockierenderweise immer wieder zu anderen Themen zurück: Backgroundsängerinnen bei Aretha Franklin oder welches koreanische Restaurant das beste chinesische Essen bot. Bevor ich nach Troy gekommen war, hatte ich noch nie chinesisch gegessen. Aber jetzt gab es zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt, gleich 12


neben einem Schuster, das Peking Café, wo ich so oft wie möglich hinging, um von Buddhas Wonne zu kosten. An der Kasse wurden kleine Schachteln mit zerbrochenen Glückskeksen zum Sonderpreis verkauft. »Nur Keks kaputt«, versprach ein Schild, »nicht Glück.« Ich nahm mir vor, eines Tages eine ganze Schachtel zu kaufen, um zu sehen, welcher gute Rat – obskur oder mystisch oder wohlfeil, aber konfuzianisch! – en gros zu haben war: Bis dahin sammelte ich sie einzeln, die Ratschläge, einen pro Keks, der am Ende auf meiner Rechnung lag, flott und effizient, noch bevor ich aufgegessen hatte. Vielleicht aß ich zu langsam. Ich war mit Freitagsfischstäbchen und grünen Bohnen in Butter groß geworden (jahrelang, so hatte mir meine Mutter erzählt, konnte man Margarine, die als ausländisches Nahrungsmittel galt, nur jenseits der Staatsgrenzen kaufen, an hastig entlang der Autobahn errichteten »Pflanzenöl«-Ständen – mit Schildern wie »Hier geht’s zum PanoRAMA« – gleich hinter der Willkommenstafel des Gouverneurs von Illinois, und die Farmer brummelten, nur Juden würden da kaufen). Und so übte jetzt dieses seltsame chinesische Gemüse – pilzartig und verwachsen in seiner braunen Soße – auf mich die Anziehungskraft eines Abenteuers oder eines Rituals aus, eines Spruchs, den man sich auf der Zunge zergehen lassen konnte. In Dellacrosse hatten wir zwei Varianten von Essengehen, »Lässig«, was bedeutete, dass man im Stehen aß oder es sich zum Mitnehmen einpacken ließ, und »Luxus«, was auch »Hinsetz-Essen« hieß. Im Wie-Haus-Familienrestaurant, wo wir zum HinsetzEssen hingingen, waren die Sitzgelegenheiten mit rotem Kunstleder überzogen, und an den Wänden prangte die ortsübliche Gemütlichkeit: dunkle Holztäfelung und gerahmter Extremkitsch, rehäugige Schäferinnen und Narren. Das Frühstücksmenü war überschrieben mit »Guten Morgen« (auf Deutsch). Soßen hießen »Tunke«. Und zum Abendessen gab es Quarkfrikadellen und Steak »gebraten nach Ihren Möglichkeiten«. Freitags gab es frittierten oder gekochten Fisch (Trüsche oder Quappe), serviert als 13


»Juristen«, weil: »Denen ist das Herz in die Soße gerutscht.« (Sie wurden bei uns im See geangelt, wo die Mülltonnen auf allen Picknickplätzen mit dem Hinweis KEINE FISCHINNEREIEN versehen waren.) Sonntags gab es nicht nur Salat mit Marshmallows und Maraschinokirschen und etwas, das »Omamas Wackelpudding« hieß, sondern auch »Rippchen mit au jus«. Genauere Kenntnisse des Französischen – oder des Englischen oder gar der Lebensmittelfarbenkunde – gehörten nicht zu den Stärken des Restaurants. A la carte bedeutete Suppe oder Salat; Menü bedeutete Suppe und Salat. Das Roquefort-Dressing tauchte als »RockfordDressing« auf. Die Hausweine – rot, weiß und rosa – boten alle dasselbe erwünschte Bouquet aus Rose, Seife und Grafit, einen Hauch Heu, eine Prise Provinz, obgleich die Karte sich darüber nicht ausließ, sondern sich an die eindeutigen Farbbezeichnungen hielt. Serviert wurde helles Bier und dunkles. Zum Nachtisch gab es meistens eine Glückschmerz-Torte, die so fluffig aussah und so gewichtig war wie eine Schneewehe. Egal, was man aß, es führ­ te zu Schläfrigkeit. Jetzt hingegen, fort und allein, gelockt und gewürzt von brauner Soße, fühlte ich mich lebendig und leicht. Die asiatischen Besitzer ließen mich so lange bleiben, wie ich wollte, und über meinen Büchern brüten: »Lasse Sie Zei! Keine Heile!«, sagten sie freundlich und sprühten die Nachbartische mit Desinfektionsmittel ab. Ich aß Mango und Papaya und pulte mir die Fasern mit einem Zimtstocher aus den Zähnen. Ich gönnte mir einen elegant gefalteten Keks – einen kurzen Papiernerv, in ein Ohr hineingebacken. Ich trank aus einem henkellosen Becher heißen, abgestandenen Tee, aufgewärmt aus den Tiefen eines Eimers, der im begehbaren Kühlschrank des Restaurants lagerte. Ich zerrte den Papierstreifen aus dem steifen Klammergriff des Kekses und behielt ihn als Lesezeichen. Aus allen meinen Büchern ragten Glücksbotschaften wie kleine Schwänzchen. Du bist die knackige Nudel im Salat des Lebens. Dein Schicksal liegt allein 14


in deiner Hand. Murph hatte an jeden Glückskeksglücksspruch immer »im Bett« drangehängt, und deshalb las ich sie im Geiste auch so: Dein Schicksal liegt allein in deiner Hand. Im Bett. Das stimmte ja auch. Schulden sind die Folgen verführerischer Lügen. Im Bett. Oder das weniger schlüssig übersetzte Dein Los wird blühen wie eine Blüte. Oder das schlaubergerische Eine erfrischende Veränderung steht in naher Zukunft bevor. Manchmal, weil es witziger war, ergänzte ich: allerdings NICHT im Bett. Du wirst bald zu Geld kommen. Oder: Reichtum ist der Mann einer weisen Frau. Allerdings NICHT im Bett. Ich brauchte also einen Job. Ich hatte mehrfach gegen bar Plasma gespendet, aber bei meinem letzten Anlauf hatte mich die Klinik abgewiesen: Mein Plasma sei verfettet, weil ich am Vorabend Käse gegessen hätte. Fettes Plasma! In der Punkband wollte ich Bassgitarre spielen! Es war so schwer, keinen Käse zu essen. Selbst die cremige Streichvariante, die bei uns nur »Schmierkäse« hieß (schließlich konnte man damit auch Fenster abdichten und Fliesenfugen verschmieren), kam so tröstlich daher. Ich sah mir täglich die Jobangebote an. Kinderbetreuung war sehr gefragt: Ich gab meine Abschlussarbeiten ab und meldete mich auf die Anzeigen. Eine schwangere Frau um die vierzig nach der anderen hängte meine Jacke auf, setzte mich in ihr Wohnzimmer und watschelte dann wieder raus in die Küche, holte Tee und watschelte wieder herein, stemmte die Hände in den Rücken, schlabberte Tee auf die Untertasse und stellte mir Fragen. »Was würden Sie tun, wenn unser Baby zu schreien anfängt und nicht wieder damit aufhört?« – »Sind Sie auch abends verfügbar?« – »Was ist Ihrer Meinung nach sinnvoll in der frühkindlichen Erziehung?« Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte noch nie so viele schwangere Frauen in so kurzer Zeit gesehen – fünf insgesamt. Es beunruhigte mich. Sie sahen keineswegs strahlend aus. Sie sahen rot aus vor lauter Bluthochdruck und verängstigt. »Ich würde es in den Kinderwagen 15


legen und draußen mit ihm herumfahren«, sagte ich. Ich wusste, dass meine Mutter nie irgendjemandem eine solche Frage gestellt hatte. »Püppchen«, sagte sie einmal zu mir, »ich habe dich so gut wie überall abgestellt, Hauptsache, der Ort war einigermaßen feuerfest.« »Einigermaßen?«, hakte ich nach. Sie nannte mich selten bei meinem Namen Tassie. Sie nannte mich Puppe, Püppchen, Puppele oder Tassele. »Ich wollte kein großes Gewese um dich machen.« Mir ist nie eine andere jüdische Frau begegnet, die sich so verhielt. Sie hatte als Jüdin allerdings einen lutherischen Farmer namens Bo geheiratet, vielleicht legte sie deshalb dieselbe gleichgültige Reserviertheit an den Tag wie die Mütter meiner Freundinnen. Irgendwann auf halber Strecke meiner Kindheit schwante mir, dass sie außerdem fast blind sein musste. Das war die einzige Erklärung für die dicke Brille, die sie oft nicht einmal finden konnte. Oder für das petunienhafte Kaleidoskop aus geplatzten Äderchen in ihren Augen, das ins Weiß explodierte Scharlachrot, bloß weil sie ihre Augen überanstrengt oder einmal mit der Hand darübergewischt hatte. Es erklärte auch, warum sie mich nie richtig ansah, wenn wir miteinander sprachen, sondern eher den Tisch oder eine Bodenfliese anstarrte, als erwöge sie halbherzig deren Desinfektion, während meinem Mund eine kaum beherrschte Wut entfleuchte, in Sätzen, die ihr, so hoffte ich, wie Messer ins Hirn stechen sollten, wenn auch nicht sofort, eher später. »Sind Sie über die Weihnachtsferien in der Stadt?«, fragten die Mütter. Ich nippte am Tee. »Nein, ich fahre nach Hause. Aber ich komme im Januar zurück.« »Wann im Januar?« Ich gab ihnen meine Referenzen und einen schriftlichen Lebenslauf, in dem meine bisherigen Babysitterjobs aufgeführt waren. Die waren ziemlich überschaubar – nur die Pitskys und die 16


Schultzes in Dellacrosse. Aber als Erfahrung hatte ich außerdem vorzuweisen, dass ich einmal im Rahmen eines Unterrichtsprojekts über die menschliche Fortpflanzung eine ganze Woche lang einen Mehlsack mit mir herumgeschleppt hatte, der exakt so viel wog wie ein Kleinkind und sich auch so anfühlte. Ich hatte ihn gewickelt und gewiegt und an sicheren, gepolsterten Plätzen zum Schlafen abgelegt, aber einmal, als keiner hinschaute, stopfte ich ihn in meinen Rucksack, in dem lauter spitze Stifte waren, und er wurde aufgeschlitzt. Mit meinen Büchern, die für den Rest des Halbjahrs mehlweiß blieben, wurde ich zum Klassenwitz. Das hatte ich in meinem Lebenslauf allerdings unterschlagen. Aber den Rest hatte ich sauber abgetippt. Um den Hasenfüßen auf die Sprünge zu helfen – ein Spruch meines Vaters –, hatte ich mich in eine Kostümjacke geworfen, die im Kaufhaus unter »Karrierejackett« lief, vielleicht gefiel den Frauen ja der professionelle Anstrich. Sie waren schließlich selber berufstätig. Zwei waren Anwältinnen, eine war Journalistin, eine war Ärztin, und eine unterrichtete an der Highschool. Und wo waren die Ehemänner? »Ach, bei der Arbeit«, sagten die Frauen alle unbestimmt. Alle bis auf die Journalistin, die antwortete: »Gute Frage!« Das letzte Gebäude war ein graues Prairie-Haus, stuckverziert und mit einem Schornstein, der von vertrocknetem Efeu überwuchert war. Ich war schon früher in der Woche daran vorbeigekommen – es stand auf einem Eckgrundstück, und ich hatte dort Unmengen Vögel gesehen. Jetzt war alles eine große weiße Fläche. Um das Weiß zog sich ein niedriger Holzlattenzaun, und als ich das Tor aufdrückte, rutschte es leicht weg; eine der Angeln war locker, weil ein Nagel fehlte. Ich musste das Tor anheben, um es wieder einzuhaken. Dieses Manöver, das ich schon unzählige Male in meinem Leben durchgeführt hatte, erfüllte mich mit einer gewissen Befriedigung – ob der wiederhergestellten Ordnung, ob meiner magischen Möglichkeiten! –, dabei hätte ich es ganz anders deuten müssen: als kaum kaschierten Verfall, als Hinweis 17


für einen nachlässigen Umgang mit Gegenständen, die immer wieder provisorisch geflickt werden mussten, mit lauter wichtigen Dingen, die den Besitzern nicht mehr wichtig waren. Bald würden sie das ganze Tor nur noch mit einem Bungee-Seil zusammenhalten können, so hatte mein Vater mal ein Scheunentor notdürftig repariert. Zwei Schieferstufen führten zu einem Steinplattenweg hinunter, was eine merkwürdig unpassende Kombination ergab, und auf allem lag, wie auf dem Gras, eine staubleichte Schneeschicht – ich setzte die ersten Fußspuren hinein; vielleicht wurde der Vordereingang auch selten benutzt. Vertrocknetes Mutterkraut stand in Töpfen auf der Veranda. Die brüchigen Blüten waren vereist. An der Hauswand lehnten eine Schaufel und ein Rechen, in die Ecke geschoben lagen zwei immer noch eingeschweißte Telefonbücher. Die Dame des Hauses öffnete die Tür. Sie war blass und drahtig, nichts baumelte oder beulte, und ihre Leinenhaut spannte sich straff über die Knochen. Ihre Wangenhöhlen waren dunkel gepudert wie mit dem Pollen einer Tigerlilie. Ihre Haare waren kurzgeschoren und leuchteten im modischen Kastanienrot eines Marienkäfers. Ihre Ohrringe waren Knöpfe im tiefsten Orangeton, ihre Leggings mahagonifarben, ihr Pullover rostrot und ihre Lippen maronenbraun. Sie sah aus wie ein hochkontrolliertes Oxidationsexperiment. »Kommen Sie herein«, sagte sie, und ich trat ein, zunächst stumm, dann, wie immer, entschuldigend, als hätte ich mich verspätet, was gar nicht der Fall war. In dieser Zeit kam ich nie zu spät. Schon im folgenden Jahr sollte es mir plötzlich schwerfallen, mich an irgendein Zeitgefühl zu halten, und ich ließ Freunde unweigerlich irgendwo halbe Stunden lang sitzen. Unmerklich oder absurd wallte die Zeit an mir vorbei – lachhaft auch, wenn ich gerade lachen konnte –, und in Mengen, die ich weder messen noch beachten konnte. 18


Aber in dem Jahr, als ich zwanzig war, kam ich so pünktlich wie ein Priester. Waren Priester pünktlich? Als Höhlenkind im heiligen Taumel glaubte ich daran. Die Frau schloss die schwere Eichentür hinter mir, und ich trat mir auf der Flechtmatte den Schnee von den Füßen. Dann machte ich Anstalten, die Schuhe auszuziehen. »Ach, Sie brauchen die Schuhe nicht auszuziehen«, sagte sie. »In dieser Stadt gibt es schon mehr als genug japanische Zimperlichkeiten. Bringen Sie ruhig den Dreck rein.« Sie lächelte – breit, theatralisch, ein bisschen verrückt. Ich hatte ihren Namen vergessen und hoffte, sie würde ihn bald sagen; wenn nicht, tat sie es womöglich überhaupt nicht. »Ich bin Tassie Keltjin«, sagte ich und streckte ihr meine Hand entgegen. Sie ergriff sie und betrachtete mein Gesicht. »Ja«, sagte sie langsam, abwesend und musterte erst mein eines, dann mein anderes Auge, was mich aus der Fassung brachte. Ihr Blick beschrieb einen langsamen, aufmerksamen Kreis um meine Nase und meinen Mund. »Ich heiße Sarah Brink«, sagte sie schließlich. Ich war es nicht gewohnt, so aus der Nähe angesehen zu werden, war es nicht gewohnt, dass das, was ich anblickte, den Blick erwiderte. Meine Mutter hatte mir nie solche Aufmerksamkeit geschenkt, und im Allgemeinen strahlte mein Gesicht eine glatte, runde Dümmlichkeit aus, die das Interesse der Welt nicht erregte. Ich hatte mich immer so verborgen gefühlt wie der Kern in der Beere, so geheim und embryonenhaft wie das zusammengerollte Glück in seinem Keks, und diese Verborgenheit hatte ihre Vorteile, Egozentrismen und kummergespeisten Hochgefühle. »Kommen Sie, ich nehme Ihre Jacke«, sagte Sarah Brink endlich, und erst als sie sie von meinen Schultern hob und durch die Diele ging, um sie auf eine Garderobe zu hängen, bemerkte ich, dass sie dünn wie ein Strich war, kein bisschen schwanger. Sie führte mich ins Wohnzimmer und blieb zuerst vor dem gro19


ßen Fenster stehen, das nach hinten raus ging. Ich folgte ihr und versuchte, alles zu machen wie sie. Im Garten lag eine mächtige Eiche, die der Blitz gespalten hatte, zum größten Teil weggehackt und weggepackt, als Feuerholz für den Winter neben der Garage gestapelt. Neben dem alten Baumstumpf war ein neuer Baum – schmächtig, jung, mit der Anmut eines Sektquirls – gepflanzt worden, gestützt und angebunden. Aber Sarah musterte gar nicht die Bäume. »O Herr im Himmel, guck sich einer diese armen Hunde an«, sagte sie. Wir standen da und sahen zu. Die Hunde von nebenan wurden durch einen unsichtbaren elektrischen Zaun auf dem Grundstück gehalten. Der eine, ein Schäferhund, hatte das Prinzip begriffen, aber der andere, ein kleiner Terrier, nicht. Der Schäferhund jagte ihn spielerisch durch den Garten, führte den Terrier bis an die elektrifizierte Grenze und stoppte dann jäh, während der Terrier weitersauste, direkt in den Stromschlag hinein, was ihn vor Schmerz quieken ließ, während er zurückwich. Das machte dem Schäferhund Spaß, er wiederholte das Ganze, und der elektrisierte Terrier, der so gerne spielen wollte, vergaß alles und machte wieder mit und raste von neuem in den Strom hinein, laut jaulend. »Das läuft schon seit Wochen so«, sagte Sarah. »Eigentlich wie eine Beziehungskiste«, sagte ich, und Sarah fuhr herum, um mich erneut in Augenschein zu nehmen. Jetzt sah ich, dass sie mindestens fünf Zentimeter größer war als ich; ich konnte von unten in ihre Nasenlöcher sehen, das Gespinst aus feinen Härchen, wie das Zickzack der Äste, wenn man von der Baumwurzel aus emporschaute. Sie lächelte, was ihre Wangen blähte und das Rouge irgendwie schattig und unpassend aussehen ließ. Mir rauschte die Hitze ins Gesicht. Beziehungskiste? Was wusste ich denn davon? Das war die Domäne meiner Mitbewohnerin Murph gewesen, und nun hatte sie mich im Grunde sitzen lassen, damit sie jede Nacht bei ihrem neuen Kerl schlafen konnte. Sie hatte mir ihren Vibrator vermacht, ein seltsames quirlendes 20


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