Da geht noch was
Barbara Strauch
Da geht noch was Die 체berraschenden F채higkeiten des erwachsenen Gehirns Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel
Berlin Verlag
Bei der Übersetzung handelt es sich um eine mit Einverständnis der Autorin leicht gekürzte Fassung des amerikanischenOriginaltextes.
Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel The Secret Life of the Grown-up Brain. The Surprising Talents of the Middle-Aged Mind bei Viking, New York © 2010 Barbara Strauch Für die deutsche Ausgabe © 2011 BV Berlin Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: Nina Rothfos & Patrick Gabler, Hamburg Typografie: Birgit Thiel, Berlin Gesetzt aus der Sabon von Greiner & Reichel, Köln Druck und Bindung: CPI – Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany isbn 978-3-8270-0960-9 www.berlinverlage.de
Inhalt
Einleitung – Das mittlere Lebensalter Eine Landschaft im Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Teil 1: Wer das Sagen hat 1. Verliere ich den Verstand? Manchmal, aber die Gewinne sind größer als die Verluste . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2. Das beste Gehirn unseres Lebens Ein wenig langsamer, aber viel besser . . . . . . . . . . . . . . 28 3. Klüger als früher Ich bin froh, dass ich nicht mehr jung bin . . . . . . . . . . . 45 4. Erfahrung, Urteilsvermögen, Weisheit Wissen wir eigentlich, wovon wir reden? . . . . . . . . . . . 59 5. Die Mitte in Bewegung Die Midlife-Crisis-Verschwörung . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Teil II: Was in uns vorgeht 6. Kommt Zeit, kommt Wandel Wie das Gehirn lernt, mit Pannen zurechtzukommen . . 89 7. Zwei Gehirne sind besser als eines Vor allem wenn sie sich in demselben Kopf befinden . . 114 8. Extra-Gehirnschmalz Ein Vorrat, anzuzapfen bei Bedarf . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Teil III: Ein gesünderes Gehirn 9. In Bewegung bleiben und den Verstand bewahren Übung macht Gehirn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 10. Nervennahrung Und auch ein paar andere Wirkstoffe . . . . . . . . . . . . . . 175 11. Das Fitnessstudio für das Gehirn Wie man die Schaltkreise auf Trab bringt . . . . . . . . . . . 205 Epilog – Ein neuer Ort für ein besseres, längeres Leben . . . 231 Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261
Einleitung Das m i t tler e Lebensalt er Ei n e La n dsch a f t i m Wa n del
Während eines großen Teils der Menschheitsgeschichte schenkte man den mittleren Lebensjahren kaum Beachtung. Geburt, Jugend, Alter und Tod wurden gewürdigt. Das mittlere Alter dagegen wurde nicht nur übergangen, es galt noch nicht einmal als etwas Eigenständiges. Diese Missachtung ist auch vollkommen verständlich. Das Leben war einfach zu kurz; für eine Mitte blieb keine Zeit. In der griechischen Antike wurde das reife Alter verehrt. Griechische Bürger durften beispielsweise erst mit 50 Jahren über andere zu Gericht sitzen. Aber das mittlere Alter war im alten Griechenland nicht entfernt das, was wir darunter verstehen. Tatsächlich wurden nur wenige Menschen so alt – die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 30 Jahren. Für die wenigen Glücklichen, die länger lebten, glich das Ganze eher dem Erreichen eines hohen Gipfels: Sie schnupperten ein wenig Gebirgsluft und stiegen dann schnell in die Niederungen des Alters hinab. Das alles ist natürlich heute ganz anders. Die Lebensdauer verlängert sich – noch vor 100 Jahren lag die durchschnittliche Lebenserwartung bei rund 47 Jahren, heute ist sie auf ungefähr 78 gestiegen –, und in der Mitte haben wir einen langen Zeitraum, in dem wir keine Kleinkinder mehr beaufsichtigen müssen, aber auch noch nicht im Rollstuhl durch die Korridore eines Altersheims geschoben werden. Mit diesem Wandel ist das mittlere Lebensalter zu einer eigenständigen Phase geworden. Bücher wurden geschrieben, Filme gedreht, wissenschaftliche Studien in Angriff genommen. 7
Aber trotz dieser neu erwachten Aufmerksamkeit wurde ein Aspekt des mittleren Lebensalters weitgehend außer Acht gelassen: das Gehirn. Die Wissenschaft beschäftigt sich zwar zunehmend mit der Frage, was sich in den mittleren Jahren in unserem Körper und unserem Leben abspielt, man dachte aber nicht darüber nach, was in unseren Köpfen vor sich geht. Wenn überhaupt, herrschte allgemein die Ansicht, das Gehirn sei im mittleren Lebensabschnitt das eines jungen Menschen, das aber allmählich etwas langsamer arbeitet. Auch das hat sich mittlerweile geändert. Mit neuen Hilfsmitteln wie Gehirnscannern, genetischen Analysen und raffinierteren Langzeitstudien bekommt nun auch das Gehirn des mittleren Lebensalters die gebührende Aufmerksamkeit. Seien wir ehrlich: Zu einem erheblichen Teil ist dieses Interesse durch Befürchtungen motiviert. Viele von uns – auch viele Wissenschaftler – mussten zusehen, wie ihre Eltern Opfer einer verheerenden Demenz wurden. Wir haben Angst. Vor ein paar Jahren – ich hatte gerade mein Buch über das Teenagergehirn geschrieben – hielt ich Vorträge vor Gruppen von Jugendrichtern oder Lehrern. Im Anschluss an solche Veranstaltungen wurde ich in der Regel von der Person, die den Vortrag organisiert hatte, zum Flughafen gefahren. In den meisten Fällen befand sich diese Person genau wie ich im mittleren Alter, und während der Fahrt sagte sie dann so etwas wie: »Wissen Sie, Sie sollten einmal ein Buch über mein Gehirn schreiben. Mein Gehirn ist plötzlich ganz schrecklich, ich kann mir nichts mehr merken. Ich vergesse, wohin ich fahre oder warum. Und die Namen, mit Namen ist es ganz entsetzlich. Das macht einem richtig Angst.« Dann lächelte ich, nickte zustimmend und dachte an mein eigenes Gehirn. Wo sind die ganzen Namen geblieben? Fliegen sie einfach aus unseren Köpfen und sehen dann vergnügt zu, wie wir uns abmühen? Und ist das der Anfang von etwas, das noch viel schrecklicher werden kann? Vor nicht allzu langer Zeit schrieb die Schriftstellerin Nora 8
Ephron, die mit 67 Jahren am äußersten Ende des modernen »mittleren Lebensalters« stand, über solche Themen einen Essay mit dem Titel »Wer bist du?«. »Ich kenne dich«, schrieb sie. »Ich kenne dich gut. Es stimmt. Ich habe immer ein wenig Schwierigkeiten mit deinem Namen, aber ich weiß ihn. Er fällt mir nur im Moment nicht ein. Wir sind auf einer großen Party und haben uns gerade begrüßt. Du warst zum Abendessen bei mir zu Hause. Ich habe mich bemüht, dein neuestes Buch zu lesen … Ich bin schon fast verzweifelt. Es war so etwas wie Larry. Heißt du Larry? Nein. Jerry? Nein. Ich werde noch verrückt …« Anfangs hatte ich auch solche Sorgen. Ich wollte wissen, wo die Namen bleiben, die Larrys, die Jerrys, die »Wie-heißt-du-dochgleich«. Ich wollte aus neurowissenschaftlicher Sicht herausfinden, ob solche Namen irgendwo versteckt sind, ob es im Gehirn so etwas gibt wie dieses geheimnisvolle Loch im Universum, in dem alle Bibliothekskarten, Lieblingsbleistifte und Brillen verschwinden. Ich wollte wissen, was im mittleren Alter schiefläuft. Zwar haben auch andere Altersgruppen ihre Schwierigkeiten – ein durchschnittliches Teenagerverhalten würde man sicher nicht als Musterbeispiel für Nachdenklichkeit und Besonnenheit bezeichnen –, aber mir scheint, als seien die Veränderungen in meinem Gehirn qualitativ etwas anderes. Insbesondere in den Bereichen von Erinnerungsvermögen und Konzentration hat eine Wende stattgefunden: Ich verlasse mich jetzt mehr oder weniger automatisch darauf, dass mich meine über 20-jährigen Töchter an Dinge erinnern, die ich zu vergessen fürchte, oder dass sie hin und wieder meine Gedanken zu einem verlorenen Ausgangspunkt zurückholen: »Worüber habe ich gerade geredet?« Gleichwohl hat dieses Buch während seiner Entstehung einen Wandlungsprozess durchgemacht. Denn als ich mich genauer mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen über das Gehirn im mittleren Alter befasste, fand ich keine schlechten Nachrichten, sondern gute. Und die lauten so: Unser Gehirn verfügt im mittleren Alter über erstaunliche Fähigkeiten und überraschende 9
Begabungen. Wir sind klüger, ruhiger, glücklicher und, wie eine Wissenschaftlerin – selbst im mittleren Alter – es formulierte: »Wir wissen einfach Bescheid.« Das liegt nicht nur daran, dass das Gehirn während unseres Lebens immer neue Fakten aufgenommen hat. Wenn es das mittlere Alter erreicht, organisiert es sich auch neu – es fängt an, anders zu handeln und zu denken. Am Ende schrieb ich über ein Thema, mit dem ich nicht gerechnet hatte: das Gehirn im mittleren Alter, das vielleicht vergisst, was ich zum Frühstück gegessen habe, das aber nach wie vor sehr gut arbeitet und in der Lage ist, eine multinationale Bank, eine Schule, eine Stadt oder sogar einen ganzen Staat zu führen, um sich dann zu Hause mit schweigsamen Teenagern, Hypothekenkrisen, Nachbarn oder Eltern auseinanderzusetzen. Dieses Gehirn – das Gehirn der Erwachsenen – ist für uns alle etwas Selbstverständliches. In gewisser Weise ist das leicht nachvollziehbar. Je länger wir leben, desto stärker verschiebt sich das »mittlere Alter«. Vieles ist dabei nicht geklärt. Wissenschaftler siedeln das mittlere Alter heute meist irgendwo zwischen dem 40. und 68. Lebensjahr an. Aber das ist eine recht schwammige Definition. Was ist das Ende und was die Mitte einer sich immer weiter verlängernden Lebensdauer? Zu dem Zeitpunkt, da ich dieses Buch schreibe, befinde ich mich mit 56 Jahren ganz eindeutig im mittleren Alter. Als jung würde mich niemand mehr bezeichnen, nicht einmal ich selbst in meinen optimistischsten Augenblicken. Ebenso würde mich mit Ausnahme meiner Kinder niemand eine alte Frau nennen. Im mittleren Alter bin ich also. Aber was hat das am Anfang des 21. Jahrhunderts eigentlich zu bedeuten? Und was bedeutet es für mein Gehirn? Im Laufe der letzten Jahre hat die Wissenschaft viel über das Gehirn in den mittleren Lebensjahren herausgefunden. Unter anderem weiß man heute, dass es während dieser Zeit trotz mancher schlechter Gewohnheiten seinen Leistungsgipfel erreicht und dort länger verweilt, als wir jemals zu hoffen wagten. Das Gehirn im 10
mittleren Alter sorgt dafür, dass wir uns in unserem Leben zurechtfinden, das Durcheinander durchdringen und Lösungen finden. Es weiß, wen und was wir ignorieren sollten, wann es hierhin und wann es dorthin geht. Es bleibt ruhig und passt sich an. Es wandelt sich und versetzt uns in die Lage, ein umfassenderes Bild der Welt zu sehen und ungeheuer kreativ zu werden. Neueste wissenschaftliche Befunde zeigen sogar, dass schwerwiegende Defizite wichtiger Gehirnfunktionen – diejenigen, um die wir uns am meisten Sorgen machen – erst mit weit über 70 Jahren und in vielen Fällen sogar noch wesentlich später auftreten. Und das ist noch nicht alles: Das mittlere Lebensalter ist für unser Gehirn viel wichtiger, als man sich früher hätte träumen lassen. In diesem Alter stehen wir am Scheideweg. Was wir in dieser Phase tun, bestimmt darüber, wie die nächste Station, das »hohe Alter«, aussehen wird. Wie ein Neurowissenschaftler mir erklärte, steht das Gehirn im mittleren Alter »auf der Kippe«. Was wir jetzt tun, ist wichtig, und auch was wir denken, ist wichtig. Über viele Jahre hinweg hat man uns beigebracht, dass Körper und Gehirn gemeinsam altern. Aber wie sich herausgestellt hat, ist die Sache in Wirklichkeit viel komplizierter. Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen – von Soziologen über Psychologen bis zu Neurowissenschaftlern – haben entdeckt, dass sich das Gehirn im mittleren Alter nicht zwangsläufig genauso verhalten muss wie unser übriger Körper. Was wissen wir also? Unsere heutigen Kenntnisse über das mittlere Lebensalter erwachsen aus umfangreichen Studien zur tatsächlichen Lebenssituation der Menschen, aber auch aus Forschungsarbeiten, die die Erfahrungen des mittleren Lebensalters auf der Ebene der einzelnen Gehirnzellen analysieren. Im Hinblick darauf, welche Funktionen nachlassen und welche erhalten bleiben oder sogar erst im mittleren Alter und danach ihren Höhepunkt erreichen, sind die Gehirne der einzelnen Menschen ganz unterschiedlich. Teile unseres Gedächtnisses – und mit Sicherheit derjenige, der sich an Namen erinnert – werden 11
schwächer. Gleichzeitig wächst aber die Fähigkeit, mit größerer Treffsicherheit Urteile über Menschen, Beruf oder finanzielle Fragen zu fällen – eben über die Welt um uns herum. Unser Gehirn baut Verknüpfungsmuster auf, verflochtene Schichten des Wissens, mit deren Hilfe wir ähnliche Situationen sofort erkennen und Lösungen sehen. Und da wir im Vergleich zu früheren Generationen in der Regel eine gesunde Kindheit durchleben, setzt der kognitive Verfall des mittleren Lebensalters viel später ein als noch in der Generation unserer Eltern. Manchen Befunden zufolge ist unsere ganze Altersgruppe auch beträchtlich klüger als Gruppen ähnlichen Alters in früheren Zeiten. Vieles von dem, was ich hier niedergeschrieben habe, ist noch ganz neu. Noch während ich an dem Buch arbeitete, waren die Interpretationen mancher Forschungsergebnisse heftig umstritten. Als das mittlere Lebensalter zum Gegenstand der Aufmerksamkeit wurde, zog es auch seine eigenen Gerüchte, Fantasien und Gespenster an. Mit den immer umfassenderen Kenntnissen über die tatsächlichen Vorgänge sind jedoch viele Gespenster wieder im Verschwinden begriffen. Die Midlife-Crisis zum Beispiel, jenes Standardthema von Partyunterhaltungen, hat bei näherem Hinsehen kaum eine Grundlage in der Realität. Ebenso selten, wenn nicht gar ein Fantasieprodukt ist das Syndrom des leeren Nestes, ein weiteres Lieblingsthema mit Blick auf das mittlere Lebensalter. In Wirklichkeit ist der Übergang ins mittlere Lebensalter den wissenschaftlichen Befunden zufolge für die meisten Menschen ein Übergang in eine glücklichere Lebensphase. Diese Erkenntnis mag in besonders schwierigen oder belastenden Augenblicken nicht unbedingt auf der Hand liegen, aber wir werden im mittleren Alter tatsächlich glücklicher. In unserer Weltsicht behält das Positive gegenüber dem Negativen die Oberhand, was unter anderem daran liegt, dass wir unser Gehirn anders nutzen. Die Ursachen dürften auch in der Evolution liegen. Ein glücklicherer, 12
ruhigerer Mensch mittleren Alters kann den Jüngeren, die sich in seiner Obhut befinden, besser helfen. Natürlich ist das Gehirn im mittleren Lebensalter nicht mehr jungfräulich. Wissenschaftler haben die Alterung des Gehirns bei Menschen und Tieren genau verfolgt und stießen dabei auf einen charakteristischen Rückgang der chemischen Substanzen, die für die Gehirnfunktion sorgen – Neurotransmitter wie Dopamin, die uns aufmerksam und geistig beweglich machen. Auch die Zahl der Verknüpfungen im Gehirn, über die die Neuronen kommunizieren, geht zurück. Durch ganz neue Forschungsarbeiten hat man aber auch einen völlig neuen Gehirnzustand gefunden, der sozusagen den Grundzustand darstellt. Es handelt sich um eine Art Tagträumerei, ein lautloses inneres Geplauder, dem sich unser Gehirn mit zunehmendem Alter immer stärker widmet. Die Bestätigung, dass dieser Zustand tatsächlich existiert, gilt als eine der wichtigsten Entdeckungen im Zusammenhang mit der Funktionsweise und Alterung des Gehirns. Heute herrscht allgemein Einigkeit darüber, dass manche Gehirnfunktionen einfach nicht mehr Schritt halten, insbesondere im Hinblick auf die Verarbeitungsgeschwindigkeit. Wer glaubt, er könne mit 55 Jahren noch in jeder Hinsicht mit einem durchschnittlichen 25-Jährigen mithalten und beispielsweise ebenso schnell mit einer Lenkradbewegung einem Eichhörnchen auf der Straße ausweichen oder sich am Arbeitsplatz in ein neues Computersystem einarbeiten, sollte diese Annahmen noch mal genau prüfen. Aber letztlich spielen weder ein Name, den man hier und da vergisst, noch die Höchstgeschwindigkeit des Denkens eine besonders große Rolle. Verluste treten im Gehirn während der mittleren Jahre zwar ein, sie sind aber nicht so einheitlich und drastisch, wie wir vielleicht befürchten. Selbst die alte Vorstellung, unser Gehirn verliere im Laufe der Jahre viele Millionen Zellen, wurde mittlerweile aufgegeben. Mit Scanaufnahmen und der Echtzeitbeobachtung des Gehirns lebender Menschen konnte 13
man nachweisen, dass Gehirnzellen im Rahmen der normalen Alterung nicht in größerer Zahl verschwinden. Die meisten von ihnen bleiben langfristig erhalten und können auch noch in den Achtzigern, Neunzigern und vielleicht darüber hinaus intakt und funktionsbereit sein. Neurowissenschaftler beobachten heute, wie Teile der Gehirnzellen und insbesondere das Myelin, die weiße fettähnliche Umhüllung der Neuronen, bis weit ins mittlere Alter hinein weiter wachsen. Mit der Zunahme der Myelinmenge bilden sich Verknüpfungen, die uns helfen, in unserer Umgebung einen Sinn zu erkennen. Dieses Wachstum der weißen Gehirnsubstanz dürfte, schon für sich betrachtet, die »Weisheit des mittleren Alters« darstellen, wie es ein Wissenschaftler der Harvard University formulierte. Neues Interesse richtet sich auch auf die Frage, was Weisheit eigentlich ist. Oberflächlich reden wir von weisen Entscheidungen, aber was bedeutet das? Wie wird so etwas wie Weisheit im Gehirn einer 50-jährigen Mutter von Teenagern oder eines Professors von 60 Jahren gespeichert und im Alltagsleben genutzt? Viele Jahre lang galt das, was wir als Erfahrung bezeichnen, als Selbstverständlichkeit. Heute jedoch wird sie in ihre Bestandteile zerlegt: Es wird ganz genau erforscht, wie Erfahrungen das Gehirn physisch schädigen können, welche Erfahrungen das Gehirn zum Besseren verändern und was es eigentlich bedeutet, ein fähiger Manager, ein vorsichtiger Pilot oder eine begabte Lehrerin zu sein. Andere Befunde aus jüngerer Zeit zeigen auch, dass das Gehirn im mittleren Alter nicht nach- oder aufgibt, sondern sich anpasst. Mit zunehmendem Alter nimmt seine Tätigkeit nicht ab, sondern zu, und ein größerer Teil davon wird zur Problemlösung eingesetzt. Gerade Menschen mit der besten Kognitionsfähigkeit haben gelernt, ihr Gehirn auf diese Weise zu nutzen. Wie Wissenschaftler der Duke University und andere herausgefunden haben, nutzen Menschen mittleren Alters in manchen Fällen nicht nur eine Gehirnhälfte, sondern beide – ein Kunstgriff, der als 14
Bilateralisierung bezeichnet wird. Insbesondere wenn es gelingt, die Stärken des leistungsfähigen frontalen Kortex im Gehirn nutzbar zu machen, entwickelt sich eine »kognitive Reserve«, wie die Wissenschaftler sie nennen. Sie wirkt nach heutiger Kenntnis als Puffer gegen die Auswirkungen der Alterung. Diese Fähigkeit des Gehirns versetzt uns in die Lage, das Wesentliche an einem Argument schneller zu erfassen als jüngere Menschen – wir erkennen den Kernpunkt, schätzen die Situation ein und handeln nicht überstürzt, sondern überlegt. Die gleiche Gehirnreserve hilft uns wahrscheinlich auch, die ersten äußeren Symptome von Störungen wie der Alzheimer-Krankheit abzuwehren. Und stichhaltigen Indizien zufolge dürfte etwas ganz Naheliegendes, nämlich Bildung oder Arbeit, entscheidend dazu beitragen, diesen Puffer für die gesamte Lebensdauer aufzubauen. Damit bleibt natürlich die Frage, wie wir den Puffer entwickeln und aufrechterhalten können. Angenommen, wir haben Glück und bleiben gesund: Können wir dann dafür sorgen, dass unser Gehirn auch über das mittlere Lebensalter hinaus leistungsfähig bleibt? Um darauf eine Antwort zu finden, gilt es erst einmal, genau zu klären, worin eigentlich die normale Alterung besteht und ab wann etwas als Krankheit einzustufen ist. Da die Altersforschung über viele Jahre hinweg vor allem in Pflegeheimen stattfand, hatten wir ein übermäßig negatives Bild vom Alter. Selbst die meisten Ärzte hielten die Demenz lange für unausweichlich. Heute dagegen wissen wir, dass Demenz eine eigenständige Krankheit ist, für die das Risiko allerdings sicher mit dem Alter zunimmt. Wenn wir aber ohne schwere Krankheiten den normalen Weg der Alterung beschreiten, kann unser Gehirn in relativ guter Verfassung bleiben. Was müssen wir also tun? Im letzten Teil des Buches befasse ich mich mit dem Forschungsgebiet der Gehirnverbesserung, das heute in aller Munde ist. Was wissen wir eigentlich über die magischen Wirkungen von Blaubeeren oder Omega-3-Fettsäuren? Hat körperliche Bewegung einen Effekt und wenn ja, welchen und warum? 15
An der medizinischen Fakultät der Universität Boston arbeitet der Neurowissenschaftler Mark Moss mit Kleinaffen mittleren Alters. Er möchte herausfinden, wie die normale Alterung abläuft und wie man das Gehirn in diesem Alter funktionsfähig halten kann. Mit Fischöl? Mit Rotwein? Mit stundenlangem Schwitzen auf dem Ellipsentrainer? Andere Wissenschaftler experimentieren mit einer Hungerdiät: Kann sie das Leben verlängern? Und warum ist eine fett- und zuckerreiche Ernährung schädlich? Ein Wissenschaftler der National Institutes of Health hat seine eigene Kalorienaufnahme schon seit seiner Doktorandenzeit stark verringert, weil er wissen will, ob er damit die Vitalität des Gehirns erhalten, Krankheiten abwehren und sein Leben verlängern kann. In neueren Studien wird die Frage gestellt, woran es eigentlich liegt, dass Übergewicht oder Bluthochdruck die Gefahr einer Demenz steigen lassen. Die Wissenschaftler erklären heute bei weitem nicht nur, ein Glas Wein oder ein Schälchen Blaubeeren seien gesund, sondern sie sehen sich sehr genau die chemische Zusammensetzung bestimmter Lebensmittel an. Hilft der dunkle Farbstoff in der Schale einer Frucht unseren Zellen, gesund zu bleiben? Sind es die Antioxidantien? Und wie viele Gläser Wein soll man eigentlich trinken? Können wir ein Medikament entwickeln, das die gleiche Wirkung hat? Wie spannend eine Wissenschaftlergruppe ihr eigenes Arbeitsgebiet findet, kann man auch daran erkennen, wie viel Geld ihre Forschung anzieht. Tatsächlich besitzen manche Ideen darüber, wie man das nützliche Leben der Gehirnzellen verlängern kann, ein großes finanzielles Potenzial. Nachdem wir mittlerweile wissen, dass wir mit dem Alter keineswegs Millionen von Neuronen verlieren, hört es sich plötzlich viel plausibler an, dass wir unser Gehirn mit einfachen Mitteln in Form halten können, wenn wir nur intensiv genug nach solchen Mitteln suchen. Zunehmend ist von »medikamentenfähigen« Ansatzpunkten die Rede, über die man dem alternden Gehirn helfen kann. Und etliche Spitzenwissenschaftler haben eigene Unternehmen gegründet, weil sie auf 16
das große Geld hoffen, wenn man einen solchen Ansatzpunkt erst einmal dingfest gemacht hat. Nach Aussagen einer führenden Wissenschaftlerin bestand die größte Veränderung in den letzten zehn Jahren darin, dass ernstzunehmende Wissenschaftler heute unverblümt über mögliche Eingriffe in das Gehirn sprechen, unter anderem mit Medikamenten, die vielleicht schon vor der Tür stehen. Für viele Wissenschaftler, die sich mit der Alterung des Gehirns befassen, kommt diese neue Kultur des Möglichen überraschend. Aber wenn wir unsere eigene Alterung beobachten, stellen auch wir fest, dass wir auf dem Weg durch das mittlere Lebensalter unsere Sichtweise auf unser Gehirn – und unser Leben – neu überdenken müssen. Während ich dieses Buch schrieb, betrachtete auch ich irgendwann mein eigenes Gehirn mit neuem Respekt. Wenn man sich einmal ein wenig Zeit nimmt und darüber nachdenkt, was das Gehirn im mittleren Alter tatsächlich leistet – und zwar mit Leichtigkeit –, ist man vielleicht überrascht. Es ist aber auch beruhigend. Als ich anderen erzählte, dass ich ein Buch über das Gehirn im mittleren Lebensalter schrieb, begegneten mir immer wieder misstrauische Blicke. Nach kurzem Innehalten sagten meine Gesprächspartner – ebenfalls im mittleren Alter – dann aber Dinge wie »Wissen Sie, ich bin heute eine bessere Lehrerin« oder »Oh ja, ich bin heute ein besserer Vater«. Viele Menschen dieser Altersgruppe erklärten mir, sie fühlten sich nicht überfordert, sondern seien stolz darauf, was sie zuwege bringen. Eine 60-jährige Freundin formulierte es anders: »Mein Gehirn fühlt sich an wie eine von diesen gesunden Blaubeeren, die wir angeblich essen sollen. Weißt du, es ist endlich reif und fertig und ganz.« Damit bleibt noch die letzte und vielleicht wichtigste Frage: Wenn unser Gehirn tatsächlich seine Kräfte behält und wenn wir Wege finden, sie aufrechtzuerhalten – was fangen wir dann damit an? 17
Die Zeitpläne unseres Lebens sind völlig veraltet. Sie wurden für die Lebenserwartung früherer Zeiten geschaffen. Aber wenn der derzeitige Trend anhält, werden viele von uns das 80. oder 90. Lebensjahr noch erleben – was werden wir tun, wenn es uns gelingt, unser Gehirn während dieser Zeit intakt zu halten? Die Welt ist heute noch so eingerichtet, dass ein Gehirn im mittleren Alter nicht als etwas Reifes, Fertiges und Ganzes angesehen wird, sondern als etwas Nachlassendes, Verfallendes und Deprimierendes. Wir setzen zwangsweise ein Rentenalter fest, das kaum etwas mit der heutigen Lebenswirklichkeit zu tun hat. Wir sagen Lehrern, Juristen, Schriftstellern und Bankern, sie seien zu alt zum Arbeiten, und schicken sie nach Hause. Und was dann?
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Teil I
W e r da s Sag e n h at