Nachruf
Michael Jackson liebte große Symbole. In seinen Shows und Videoclips trat er gern als Zerstörer oder Retter auf; er war der Held von Parabeln über Straßengangs, Geschlechterkampf, Krieg und Naturkatastrophen. Es war immer Apokalypse oder Apotheose. Kein Wunder also, dass er seine letzte Konzerttour mit metaphorischer Präzision plante. Fünfzig Shows, eine für jedes Lebensjahr. Und dann – Abtritt des King of Pop. Nun ist er endgültig abgetreten. Immer wieder muss ich an das berüchtigte Foto aus dem Jahr 2002 denken, auf dem er reglos in einem Sarg liegt (eigentlich war es eine Sauerstoffkammer), und ich frage mich, ob er seinen Tod vielleicht inszeniert hat. Doch das wäre eine allzu nahe liegende Metapher. Wir alle haben gesehen, wie der weiße Bodybag in den Wagen des Gerichtsmediziners gehoben wurde. Dieses Bild konnte nur eine Bedeutung haben. Zum ersten Mal habe ich in den achtziger Jahren über Michael Jackson geschrieben. Seine Haut wurde heller, sein Gesicht schmaler, seine Ausstrahlung femininer. Manche be165
zeichneten ihn als Verräter an den Schwarzen. Andere störten sich an seiner sexuellen Uneindeutigkeit. Für mich war er ein postmoderner Verwandlungskünstler. Aber seine Verwandlungen wurden zunehmend extremer und mysteriöser. 2003 machte ich mich an die Recherche für dieses Buch. Ich sah mir jeden Videoclip an, las jede Biographie, ging jeder Krise nach. Ich war wie besessen. Wer war der Künstler, wer der Mensch? Und was blieb am Ende? Warum verkörperte Michael Jackson so viele unserer Konflikte und Fantasien: über Kinder und Sexualität, über Rasse, über Ruhm, Schönheit und die Fähigkeit, sich immer neu zu erschaffen? All diese Dinge interessierten mich, und ich wollte unbedingt versuchen, dem Künstler gerecht zu werden. Jetzt ist keine Zeit mehr für Verwandlung oder Neuerfindung. Was ihm die Vorbereitung auf seine letzte Tournee abverlangt haben muss! Es ging ja nicht nur um die Ausarbeitung einer großen Show, sondern auch darum, Stimme und Körper eines nicht mehr jungen Künstlers in Höchstform zu bringen. Und musste er sich nicht auch den Zweiflern und dem ganzen Spott stellen? (Die Verehrung der loyalen Fans reichte nicht. Diesmal wollte er alle Abtrünnigen heimholen.) Er muss gewusst haben, dass dies seine letzte Chance war, dem Ghetto von Skandal und Verachtung zu entrinnen, in dem er seit dem Prozess um sexuellen Missbrauch gefangen war. Der Tod bietet ihm diese Gelegenheit. Nicht nur die unbeirrt treuen Fans weinen und sagen sentimentale Dinge wie 166
»Michael hat der Welt Liebe geschenkt«. Wir alle werden von ernst dreinblickenden Kommentatoren und Politikern dazu aufgefordert, würdelose Gedanken an Michael Jacksons Privatleben, seine Schönheitsoperationen oder seine helle Haut beiseite zu schieben und seine Genialität zu feiern. Ich bin sehr dafür. Michael Jackson war einer der größten Künstler der Popkultur. Niemand tanzte besser, nur wenige sangen unwiderstehlicher. Niemand verstand mehr von Bühnenspektakeln oder Musikvideos. Michael war ein Neuerer von globaler Wirkung. War er »post-rassisch«, wie manche sagen? Aus meiner Sicht war er »trans-rassisch«. Er hat sich nie ganz entfernt von den klassischen schwarzen Stilelementen, er hat sie mit neuen Elementen kombiniert und ein immer neues Publikum erobert. Michael Jackson war aber auch innerlich zerrissen. Oft sprach er von seiner unglücklichen Kindheit, von seiner Angst vor anderen Menschen und seinem Misstrauen. Er liebe Kinder, sagte er, weil nur sie wahrhaft unschuldig seien. Allein siebzehn Millionen Dollar hat er für den Kauf seiner Neverland-Ranch ausgegeben. Und dann der emotionale und kreative Aufwand: elf Quadratkilometer mit Wäldern, Landschloss und Vergnügungspark, vollgestopft mit Tieren und Statuen. All das brauchte es, damit sich ein Mensch seine Vision von Sicherheit und Glück erschaffen konnte. Die Extreme seiner Person kamen seiner Kunst lange Zeit zugute. Der zornige Erwachsene, das verspielte Kind, das Opfer und der Täter, der Dandy und der sentimentale 167
Romantiker, der Erlöser und der Teufel, der Macho und das Girlie. Er war ein männlicher und weiblicher Darsteller. Ein Sammler von Gesten und Kostümen. Er war ein Wunder. Doch desillusioniert verfolgten wir, wie seine Haut heller, sein Gesicht schmaler und hohlwangiger wurde und wie er schließlich wegen sexuellen Missbrauchs vor Gericht stand. All das müssen wir nicht noch einmal aufwärmen. Die alten Vorwürfe müssen nicht noch einmal erhoben, die alten Urteile nicht noch einmal gesprochen werden. Aber wir können diese Dinge auch nicht unter den Teppich kehren und so tun, als hätte es sie nicht gegeben. Auf Skandale um Superstars reagieren wir andächtig und schadenfroh. Der Tod eines Superstars macht uns andächtig und vergesslich. Wir verhalten uns kindisch gegenüber unseren Stars und Ikonen. Erst vergöttern wir sie, dann verdammen wir sie; leidenschaftlich identifizieren wir uns mit ihnen, und wenn sie etwas tun, was uns nicht gefällt, verstoßen wir sie. Bei Michael Jackson haben wir die Chance, es anders zu halten. Mit seiner inneren Zerrissenheit und seiner Selbstzerstörung können wir leben, während wir zugleich seine große Begabung und Kunst feiern. Beides passt nicht sonderlich gut zusammen. Aber das muss es auch gar nicht. Er war unvollkommen, und er war über alle Maßen talentiert. Der Rest ist Schweigen.
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