Der Trieb ist stärker als die Vernunft. Interview mit Jochen Rausch zu Trieb. 13 Storys Die Trieb-Storys erzählen aus der Gegenwart. Ihnen vorangestellt ist ein Goethe-Zitat. Ein Zitat aus dem Faust, zweihundert Jahre alt, immer noch aktuell: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust... Das tragische Dilemma, die Koexistenz von Gut und Böse. Das ist für mich ein zentrales Menschheitsthema: die Gleichzeitigkeit von Anpassung und Trieb. Das Triebhafte brodelt immer in uns Menschen, im Extremfall lässt es uns sogar morden. Das heißt, jeder ist ein potenzieller Mörder? Ich fürchte ja. Es kommt nur darauf an, wie oft und wie sehr man gereizt wird, wie es zum Beispiel in der Story Die Liebe seines Lebens geschieht. Viele Tötungsdelikte sind ja nicht geplant, sondern passieren, weil jemand eine wahnsinnige Wut bekommt und durchdreht. Der Trieb ist eben manchmal stärker als die Vernunft. Dazu passt, dass die mit Abstand häufigste Waffe das Messer ist. Ein Messer hat ja jeder schnell zur Hand. Wie authentisch sind die Trieb-Geschichten? Ich komme aus dem Journalismus, ich brauche einen realen Ausgangspunkt für mein Schreiben. Das war auch schon bei meinem Roman Restlicht (2008) so, dass da zuerst eine persönliche Erinnerung war. In diesem Fall an eine Freundin, die spurlos verschwand. Bei Trieb liegt der Ausgangspunkt der Geschichten in Reportagen über Morde, Prozesse, schwere Unglücke, Knastreportagen, die ich für Zeitungen oder den Hörfunk geschrieben habe. Das heißt, die Trieb-Storys sind weiterentwickelte Reportagen? So ungefähr. Journalisten betrachten die Dinge aus einer möglichst neutralen, möglichst objektiven Perspektive. Das gefällt mir. Das ist ein anderer Blick als die engere Perspektive eines Polizisten, Leichenbeschauers oder des Staatsanwaltes, die ja in gewisser Weise an dem Geschehen beteiligt sind. Der Journalist bleibt Beobachter und hat den Vorteil, die Dinge gleichzeitig aus allen möglichen Blickwinkeln betrachten zu können, aus der Sicht der Opfer, der Täter, eines Polizisten, eines Richters.
Jochen Rausch (Foto: Thomas Hendrich) GESCHICHTEN MACHEN DAS LEBEN VERSTÄNDLICHER. Was unterscheidet die Trieb-Storys dann von Reportagen? Eine journalistische Reportage muss exakt stimmen. Berichterstattung und Kommentierung sind scharf voneinander getrennt. Im Journalismus ist das auch richtig so. Ein Erzähler aber hat solche Einschränkungen nicht. Er kann hinzufügen und weglassen. Ich nehme mir die Freiheit, ein Tatgeschehen nicht einfach nachzuerzählen, oder Begebenheiten so zu kombinieren, wie sie in der Realität nicht passiert sind. Als Erzähler kann ich in die Köpfe der Figuren sehen, ich kann sie steuern. So entsteht eine zusätzliche Ebene, so erfahre ich und auch der Leser etwas über die Menschen, was er vielleicht noch nicht wusste. Und das ist ja der Sinn des Erzählens, dass ein Erzähler versucht, das Leben verständlicher zu machen. Wir richten ja von klein auf unser Leben an Geschichten aus, die uns erzählt werden. In welchem Verhältnis steht dazu die Realität? Die Wahrheit hat auf mich den allergrößten Einfluss, sie ist der Ausgangspunkt aller Storys in Trieb. Sie ist ja ohnehin erschreckender ist als jede Fiktion. Der 11. September zum Beispiel. Eigentlich ein Science-Fiction-Plot. Und dann war es plötzlich grausame Realität.