Interview mit Jochen Rausch

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Der Trieb ist stärker als die Vernunft. Interview mit Jochen Rausch zu Trieb. 13 Storys Die Trieb-Storys erzählen aus der Gegenwart. Ihnen vorangestellt ist ein Goethe-Zitat. Ein Zitat aus dem Faust, zweihundert Jahre alt, immer noch aktuell: Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust... Das tragische Dilemma, die Koexistenz von Gut und Böse. Das ist für mich ein zentrales Menschheitsthema: die Gleichzeitigkeit von Anpassung und Trieb. Das Triebhafte brodelt immer in uns Menschen, im Extremfall lässt es uns sogar morden. Das heißt, jeder ist ein potenzieller Mörder? Ich fürchte ja. Es kommt nur darauf an, wie oft und wie sehr man gereizt wird, wie es zum Beispiel in der Story Die Liebe seines Lebens geschieht. Viele Tötungsdelikte sind ja nicht geplant, sondern passieren, weil jemand eine wahnsinnige Wut bekommt und durchdreht. Der Trieb ist eben manchmal stärker als die Vernunft. Dazu passt, dass die mit Abstand häufigste Waffe das Messer ist. Ein Messer hat ja jeder schnell zur Hand. Wie authentisch sind die Trieb-Geschichten? Ich komme aus dem Journalismus, ich brauche einen realen Ausgangspunkt für mein Schreiben. Das war auch schon bei meinem Roman Restlicht (2008) so, dass da zuerst eine persönliche Erinnerung war. In diesem Fall an eine Freundin, die spurlos verschwand. Bei Trieb liegt der Ausgangspunkt der Geschichten in Reportagen über Morde, Prozesse, schwere Unglücke, Knastreportagen, die ich für Zeitungen oder den Hörfunk geschrieben habe. Das heißt, die Trieb-Storys sind weiterentwickelte Reportagen? So ungefähr. Journalisten betrachten die Dinge aus einer möglichst neutralen, möglichst objektiven Perspektive. Das gefällt mir. Das ist ein anderer Blick als die engere Perspektive eines Polizisten, Leichenbeschauers oder des Staatsanwaltes, die ja in gewisser Weise an dem Geschehen beteiligt sind. Der Journalist bleibt Beobachter und hat den Vorteil, die Dinge gleichzeitig aus allen möglichen Blickwinkeln betrachten zu können, aus der Sicht der Opfer, der Täter, eines Polizisten, eines Richters.

Jochen Rausch (Foto: Thomas Hendrich) GESCHICHTEN MACHEN DAS LEBEN VERSTÄNDLICHER. Was unterscheidet die Trieb-Storys dann von Reportagen? Eine journalistische Reportage muss exakt stimmen. Berichterstattung und Kommentierung sind scharf voneinander getrennt. Im Journalismus ist das auch richtig so. Ein Erzähler aber hat solche Einschränkungen nicht. Er kann hinzufügen und weglassen. Ich nehme mir die Freiheit, ein Tatgeschehen nicht einfach nachzuerzählen, oder Begebenheiten so zu kombinieren, wie sie in der Realität nicht passiert sind. Als Erzähler kann ich in die Köpfe der Figuren sehen, ich kann sie steuern. So entsteht eine zusätzliche Ebene, so erfahre ich und auch der Leser etwas über die Menschen, was er vielleicht noch nicht wusste. Und das ist ja der Sinn des Erzählens, dass ein Erzähler versucht, das Leben verständlicher zu machen. Wir richten ja von klein auf unser Leben an Geschichten aus, die uns erzählt werden. In welchem Verhältnis steht dazu die Realität? Die Wahrheit hat auf mich den allergrößten Einfluss, sie ist der Ausgangspunkt aller Storys in Trieb. Sie ist ja ohnehin erschreckender ist als jede Fiktion. Der 11. September zum Beispiel. Eigentlich ein Science-Fiction-Plot. Und dann war es plötzlich grausame Realität.


DIE WAHRHEIT HAT AUF MICH DEN ALLERGRÖSSTEN EINFLUSS. Wie entstand die Idee zu Trieb? Ich habe mit siebzehn Jahren angefangen, für Zeitungen zu schreiben. Die meisten Geschichten habe ich längst vergessen. Aber einige Menschen, die mir begegneten, sind mir nie wieder aus dem Kopf gegangen. Als seien sie für immer gespeichert worden, um sie später in dieser Weise wieder hervor zu bringen. Gibt es eine initiale Geschichte? Ja, das war gleich der erste Mordprozess, den ich als Reporter beobachtete: ein Mann geht zu seiner Nachbarin, weil er zwanzig Mark für die Kneipe braucht. Die alte Frau hat ihm schon oft Geld gegeben, diesmal sagt sie nein. Da bringt er sie auf der Stelle um, und zwar äußerst brutal. Ich war schockiert. Warum schlägt jemand eine harmlose alte Frau tot? Wegen zwanzig Mark. Mich verfolgt der Fall bis heute. Juristisch keine große Sache, sowas passiert andauernd. Aber was erzählt die Geschichte noch? Welche Lebenslinien verknüpfen sich da? Die Frau war übrigens Witwe, der einzige Sohn tot, sie saß den ganzen Tag in ihrer Wohnung und hat darauf gewartet, dass mal jemand schellt. Und dann war es ihr Mörder. Das habe ich in Eine banale Geschichte beschrieben. Und wie sah das in der Zeitung aus? Ich wollte da auch über das Leben der Frau schreiben, aber der Redakteur hat es rausgestrichen. Wir schreiben hier doch keine Romane, hat er gesagt. WIR SCHREIBEN HIER KEINE ROMANE. Konnten Sie das verstehen? Schon. Journalisten und mehr noch Richter, Strafverteidiger und Staatsanwälte müssen eine solche Tat in einen rechtlichen Kontext stellen und bewerten. Da geht es eben nicht um die Lebensgeschichte einer totgeschlagenen Frau, sondern um gerichtsrelevante Fakten. In den Trieb-Storys sind die meisten Täter sogenannte normale Leute. Normale, die plötzlich ausrasten oder immer schon ein Nebenleben führten. Ich war mal als Journalist in einem Prozess gegen einen, mit dem ich in der Jugend im Fußballverein war. Er war angeklagt wegen Brandstiftung mit Todesfolge, drei Menschen waren bei dem Feuer ums Leben gekommen, darunter zwei Kinder. Er schrieb mir aus dem Gefängnis einen langen Brief, ich wüsste ja wohl, dass er kein Verbrecher sei, ich würde ihn ja kennen. Ich sollte das bitte in der Zeitung schreiben. Tatsächlich hätte ich dem so was nie zugetraut, aber die

Beweise sagten etwas anderes. Übt dieses scheinbar Normale einen besonderen Reiz auf Sie aus? Ja, da sind wir wieder bei Goethe. Die zwei Seelen in der Brust. Dass hinter unseren freundlichen Fassaden noch etwas anderes tickt, etwas Archaisches, eben Triebhaftes. Wozu natürlich auch der Sex gehört, der in Barcelona, aber auch in anderen Storys eine Rolle spielt. Zum Glück kommt bei den Meisten das Dunkle und Böse in uns nie zum Ausbruch. Sonst müsste man sich wahrscheinlich bewaffnen. Aber Thriller und Krimis begeben sich auch oft in die Welt normaler Menschen. Ein Thriller funktioniert nach anderen Regeln als die Realität. Ich habe neulich einen schwedischen Thriller gelesen, da wurde mehreren Frauen eine Stahlkugel in den Mund gelegt, die sich langsam ausbreitete. Um sich von dem Druck zu befreien, konnten die Frauen an einem Faden ziehen. Der löste dann allerdings einen Mechanismus aus, der den Opfern Stahlstifte in den Kopf jagte. Gute Idee. Hat mich aber nicht erschreckt, denn es war eindeutig Fiktion. In normalen Mordfällen würde sich kein Mörder eine solch aufwändige Tötungsart aussuchen, zumal es ja unweigerlich zur Aufklärung seiner Identität beitrüge. Der Nachbar, der die Oma in Eine banale Geschichte erschlug, hatte gar keine Waffe dabei. Also hat er sie totgetreten. DIE REALITÄT IST ZU GEMEIN FÜR DAS FERNSEHEN. Ist die Realität zu langweilig für einen spannenden Fernsehabend? Zu langweilig nicht, aber vielleicht zu gemein. Als ich eine meiner ersten Reportagen über einen Mordfall schrieb, fragte ich den Kommissar, was denn genau dem Opfer geschehen sei? Wenn sie das in der Zeitung schreiben, dann kommt ihren Lesern das große Kotzen, war die Antwort. Ich habe dann geschrieben, das Opfer sei auf unbeschreibliche Weise ermordet worden. Das ist natürlich für einen Autor unbefriedigend, etwas nicht zu beschreiben. Welches Verhältnis haben sie zu den Figuren in den Storys? Als Journalist versucht man, eine Person sehr realistisch darzustellen. Als Erzähler entwickelt man ein anderes Verhältnis zu den Figuren. Man versucht, die Welt mit ihren Augen zu sehen. Da mag man auch einen Bösen wie in Gleis 2. Letztlich ist es ein facettenreicheres Bild, eben nicht einfach nur gut und böse. Das kann irritieren, wenn man einen Menschen, der etwas furchtbar Abscheuliches getan hat, trotzdem nicht als Monster darstellt.


Aber es kommt der Wirklichkeit näher. Und - um es mit Ingeborg Bachmann zu sagen - die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Sie mögen also die Mörder in Ihren Storys? Es gibt Momente, da fürchte ich mich selber vor denen, manche sind wirklich kaum zu ertragen, wie zum Beispiel Robert, die Hauptfigur in Am See. Manche Figuren rücken beim Schreiben sehr nahe. Sie werden so etwas wie feindliche Freunde. EIN PLÄDOYERFÜR DIE LIEBE. Was ist der gemeinsame Nenner der Trieb-Storys? Der Mangel an Liebe. Wer nie Liebe erfahren hat, nicht mal als Kind, der ist wirklich arm dran. Der Mangel an Liebe macht den Menschen einsam, macht ihn fertig. Und er macht Angst. Aus Angst wiederum entsteht Gewalt. Ein kaum zu durchbrechender Kreislauf. Aber das hat kein Mensch im Griff. Ob ein Mensch in eine liebevolle Umgebung geboren wird, das ist ja etwas Schicksalhaftes. Nehmen Sie die letzten aktuellen Fälle, da bringt ein junger Mann in Niedersachsen zwei Kinder um, da laufen Schüler Amok. Und fast immer finden sie in den Biografien der Täter diesen Mangel an Liebe, die seelische Verwahrlosung schon in der Kindheit, das Fehlen von Nestwärme. Wenn dann noch ein paar Faktoren hinzu kommen, Mobbing, Ablehnung, das Gefühl, ein Verlierer zu sein, dann ist das für manche mehr, als sie ertragen können. Insofern sind meine Storys auch immer ein Plädoyer für die Liebe. Aus der Einsamkeit droht also Gefahr? Die Einsamkeit macht unvorsichtig. Einsame Menschen unternehmen manchmal Dinge, die sie bei klarem Verstand nicht tun würden. So geht es ja den beiden ehemaligen Klassenkameraden Ute und Axel in Das Klassentreffen, als sie sich nach vielen Jahren wieder sehen und ihre Einsamkeit überwinden wollen, aber daran scheitern. In den Trieb-Storys verwischen oft die Grenzen zwischen Opfern und Tätern. Was aber nicht heißt, dass irgendjemand ein Recht hat, einen anderen zu töten. Aber es sind eben nur selten wirkliche Monster, die da sitzen: selbst wenn sie vor Gericht ganz cool tun, wie die Karen in Die Therapie, selbst wenn sie sich lässig hinsetzen oder die ganze Zeit grinsen oder vielleicht sogar die Opfer oder deren Hinterbliebene verhöhnen, die meisten Angeklagten, die ich gesehen habe, waren kalkweiß im Gesicht und irgendwie angespannt. Wie Killer in den Krimis sahen die jedenfalls nicht aus.

Aber gibt es denn nicht den typischen, abgrundtief bösen Killer? Einen solchen Typen habe ich im wirklichen Leben bisher nur ein einziges Mal erlebt. Das war ein Serienkiller. Ein hochintelligenter, aber seelisch völlig verrohter Typ. Und wirklich böse. Ich sass im Gericht nur fünf Meter von dem entfernt und habe es über zweiundzwanzig Prozesstage vermieden, dass sich unsere Blicke trafen. Dann plötzlich sprang er auf und brüllte, dass er den Zeitungsschmierer umbringt, wenn er jemals aus dem Knast kommt. Damit war ich gemeint. Er ist dann im Knast gestorben. Das war eine gewisse Erleichterung für mich, das muss ich zugeben. Manche Ihrer Figuren nehmen das Recht selber in die Hand, wie beispielsweise Walter in Der Ausflug. Heissen Sie das gut? Selbstjustiz ist natürlich nicht akzeptabel. Aber im Falle von Walter irgendwie verständlich. Aus seiner Sicht hat ihm der Schweinebauer alles kaputt gemacht, ihm und der Sylvia, das ganze Leben. Und er findet es schlimm, dass sich der Bauer nicht dafür verantworten muss. Das kommt ja nicht selten vor, dass ein Täter vielleicht einen guten Verteidiger hat und ihm nichts zu beweisen ist. Das widerspricht unserem moralischen Empfinden. Ich habe schon Verteidiger bei Gericht erlebt, die sich für einen Freispruch feiern ließen, obwohl alle wussten, dass der Angeklagte schuldig war, es ihm aber nicht nachgewiesen werden konnte. Wie empfanden sie das? Rein rechtlich ist es in Ordnung. Wenn einem Angeklagten eine Tat nicht zweifelsfrei nachgewiesen werden kann, dann darf er auch nicht verurteilt werden. Das mag ein Strafverteidiger dann als Erfolg empfinden. Aus moralischer Sicht ist es natürlich eine Niederlage. Meine Rolle als Erzähler gibt mir dann die Möglichkeit, dem juristisch Unschuldigen seine Schuld nachzuweisen. ALLES UND JEDES IST MÖGLICH. Sind sie ein Moralist? Eigentlich bin ich mit zunehmendem Alter dabei, die Menschen so zu akzeptieren wie sie sind. Also eher Realist als Moralist. Das heisst aber auch, dass ich den Menschen alles Gute und alles Böse zutraue. So sind ja auch die Storys in Trieb, alles und jedes ist möglich, und sei es noch so schrecklich. Haben Sie das einmal anders gesehen? Ich habe zu einer Zeit mit dem Journalismus angefangen, als sich viele Journalisten als Weltverbesserer sahen. Mir hat das eingeleuchtet, dass man Journalist wird, um auf Missstände hinzuweisen, um gesellschaftspolitische Veränderungen zu bewegen, sicher auch, um zu emotionalisieren.


Inzwischen hat sich der Journalismus vielfach zu einer Art Handwerk entwickelt. Sehr nüchtern, sehr präzise, oft wenig emotional. Ich freue mich immer, wenn ich große Reportagen lese oder Dokumentationen im Fernsehen sehe, die exakt an der Wahrheit bleiben, aber trotzdem engagiert sind, an denen sich der Leser oder Zuschauer auch reiben kann. Das empfinde ich als bereichernd. Leider erleben wir gerade, dass die großen Formate in den Zeitungen seltener werden, weil diese Art von Journalismus einfach sehr aufwändig und teuer ist. Als leidenschaftlicher Zeitungsleser bedauere ich das sehr. In fast allen Trieb-Storys sind die Hauptrollen mit sogenannten kleinen Leuten besetzt. Woher kommt das? Ich habe als Gerichtsreporter spektakuläre Prozesse verfolgt, da gab es KZ-Schergen, Serienkiller, einen Herrn Stasi-Chef Mielke. Als Fernsehreporter war ich beim Brandanschlag in Solingen für Tagesschau und Tagesthemen vor Ort, auch bei dieser furchtbaren Geiselnahme von Gladbeck. Aber tief berührt haben mich oft die eher kleinen, beiläufigen Geschichten, die allenfalls im Lokalteil stehen. Der Totschlag aus Eifersucht, Kindesmissbrauch, sinnlose Gewalt um der Gewalt willen, oder auch etwas Schicksalhaftes wie ich es in Die Testfahrt beschrieben habe. Solche Geschichten spielen sich halt oft unter den sogenannten einfachen Leuten ab. Juristen und auch Journalisten wird oft vorgeworfen, dass sie die einfachen Leute gar nicht richtig kennen. Das ist sicher nicht ganz falsch. Journalisten, aber auch Richter, Staatsanwälte, Strafverteidiger kommen ja häufig aus gehobenen Milieus. Das kann man schon bei Gericht erleben, dass den Richtern oder Staatsanwälten das Verständnis für das Leben in anderen gesellschaftlichen Schichten fehlt und sie Maßstäbe ansetzen oder Fremdworte benutzen, die die Angeklagten gar nicht kennen. Aber das ist doch bei Schriftstellern nicht anders, oder? Sicher ist der Anteil von Schriftstellern, die aus gutbürgerlichen Verhältnissen kommen und eine humanistische Ausbildung haben, überproportional hoch. Das heisst aber nicht, dass man sich nicht einfühlen kann. Ich selber komme aus recht einfachen Verhältnissen. Meine Eltern waren Arbeiter, die immer nur geschuftet haben. Sie haben alles gegeben für ihre Kinder, aber trotzdem bin ich erstmal auf der Hauptschule gelandet. Wofür ich heute dankbar bin. Da ging es eben derber zur Sache als auf einem Gymnasium. Außerdem bin ich mit Rockmusik und Büchern von Bukowski, Kerouac und Burroughs sozialisiert, weshalb von mir nicht

zu erwarten ist, dass ich irgendwann feingeistige Lyrik schreibe. Ich habe mir auch vorgenommen, sofort mit dem Schreiben aufzuhören, sollte ich jemals auf die Idee kommen, einen Schriftsteller zur Hauptperson eines Buches zu machen. DAS LEBEN IM REMIX. Sie bezeichnen sich als Erzähler, nicht als Schriftsteller. Ja, weil ich gerne erzähle. Am liebsten wahre böse Geschichten. Das Schreiben ist ja immer ein Rückblick auf Erlebtes oder Erfahrenes. Als Erzähler hat man dann die Möglichkeit, eine eigene Version hinzuschreiben, seine subjektive Perspektive. Als Musiker würde man es vielleicht einen Remix des Lebens nennen. Gibt es literarische Vorbilder? Die ersten großen Geschichten wurde in der Kirche erzählt. Die Religionen waren ja immer großartige Geschichtenerzähler. Eigentlich bin ich nur in die Kirche gegangen, um diese Geschichten zu hören. Und dann bekam ich irgendwann eine uralte Ausgabe von Grimms Märchen. Die fiel fast auseinander. Aber die Storys waren richtig brutal. Das würde man heute keinem Zehnjährigen in die Hand drücken. Mir hat das gefallen, zuerst Es war einmal... und ein paar Seiten weiter wurden Arme abgehackt und in Salztrögen eingelegt. Als Jugendlicher habe ich dann Fallada und Kempowski gelesen, sie haben mir das Dritte Reich aus der Perspektive der kleinen Leute erzählt, etwas, was meine eigenen Eltern gar nicht konnten. Das hat mich sehr beeindruckt. Was ist der besondere Reiz an Storys? Mit Zwanzig habe ich meinen ersten Roman angefangen. Ich weiß gar nicht mehr, um was es ging. Nach etwa dreißig Seiten habe ich beschlossen, mit dem Schreiben zu warten, bis ich mehr erlebt habe. Ich habe dann erst mal Musik gemacht. Ein Song ist ja überschaubarer als ein Roman. Dass dann über fünfundzwanzig Jahre Wartezeit daraus wurden, konnte ich auch nicht ahnen. STORYS SIND ROCK’N’ROLL OHNE MUSIK. Sie kommen von der Musik, haben Platten gemacht, Songs geschrieben. Musikmachen und Schreiben sind ja nicht weit voneinander entfernt. Storys zum Beispiel sind für mich wie Songs. Man muss in Kürze eine Geschichte erzählen, muss eine Emotion auslösen. All das erwartet man ja auch von einem guten Song. An welche Literatur denken Sie da? Ich habe in den 1970ern vor allem amerikanische Realisten gelesen. Da vermischten sich auf wun-


derbare Weise Reales und Fiktion in einer oft rüden Sprache. Charles Bukowski war für mich Rock’n’Roll, nur ohne Musik. Laut und schnell und echt. Man hat sofort verstanden, dass es in all diesen Sauf- und Sexgeschichten eigentlich um die großen Menschheitsthemen ging. In Deutschland konnte das ein Jörg Fauser. Mich hat das sehr inspiriert. Jörg Fauser hat gesagt, er schreibt nur wegen des Geldes. Das war sicher eher ironisch gemeint. Ich habe mich intensiv mit Fauser befasst, ich habe lange mit seiner Witwe geredet, ich habe ja auch Gedichte von ihm mit meiner Band LEBENdIGITAL in den Fausertracks vertont. Fausers Texte sind voller Leidenschaft. Ich glaube, Schreiben geht gar nicht ohne Leidenschaft. Es ist ja ein sehr einsames Geschäft, das sehr viel Geduld und Ausdauer verlangt. Sicher muss man auch etwas wollen. Das gilt für Journalisten wie für Erzähler. Ich lese gerne Journalisten, die ihren eigenen Kopf haben. Dass man richtig sauer wird beim Lesen oder dass es einen berührt oder man lachen muss. Also irgendeine Emotion entsteht. Ich hoffe ja auch, dass mir das mit Trieb gelungen ist. Dass die Storys berühren, wie sie mich beim Schreiben berührt haben. Dass es sich nicht liest wie eine Prozessakte, dass die Geschichten etwas vom Leben erzählen. Erzähler und Journalisten sind ja Vermittler. Sie verbinden die Lebenslinien der Menschen, über die sie schreiben, mit dem Leben ihrer Leser. NEIGUNG ZUM HYBRIDEN. Sie haben sich immer zwischen verschiedenen Welten bewegt: Journalist, Programmchef von 1LIVE, dem erfolgreichsten Jugendsender in Deutschland, vor zwei Jahren eine Sprechgesangs-CD mit Udo Lindenberg, Romanautor und dann mit Harpe Kerkeling auf der Bühne beim Eurovision Song Contest. Wie geht das alles zusammen? Mir gefällt das, so zwischen den Genres zu agieren, ich neige zum Hybriden. Es führt außerdem zu einer Menge komischer Situationen. Udo Lindenberg etwa habe ich zum ersten Mal 1988 getroffen. Ich war Radioreporter beim WDR, als sich Honecker und Lindenberg in Wuppertal trafen. Vor dem FriedrichEngels-Haus stand ich mit meinem Mikrofon neben den Beiden und habe diesen seltsamen Dialog aufgenommen, bei dem zwei Leute zwar dieselbe Sprache sprechen, aber kein Wort voneinander verstehen. Vor ein paar Jahren, während der Aufnahmen zu den Lindenbergtracks, habe ich dann Udo Lindenberg bei einem Eierlikörchen darauf angesprochen. An mich konnte er sich natürlich nicht mehr erinnern, aber von dem Staatsratsvor-

sitzenden hat Udo gute Geschichten erzählt. Haben Sie ihre Geschichten irgendwo abgespeichert? Ich horte Dutzende von Aktenordnern mit Notizen, Zeitungsartikeln, Skizzen. Wenn ich darin blättere, kommen die Erinnerungen und die Ideen. Journalistisch sind diese Dinge ja verjährt, aber für das Schreiben sind sie jederzeit wiederverwendbar. Neulich musste ich sehr lachen, als mir eine Radioreportage in die Hände fiel, die ich über Herrn Schönhuber gemacht habe. Der war mal Vorsitzender der Republikaner. Ich habe ihn nach einer Kundgebung auf dem Parkplatz abgefangen und sein Bodyguard sagte immer: soll ich? Ich wusste nicht, was er damit meinte, aber es klang nicht gut. Schönhuber hat immer nur gesagt, nun lass doch den Journalistenspinner. Natürlich lief das Aufnahmegerät. Das hört sich immer noch gut an. Oder der Kriminalbeamte, dem jemand bei einer Demo die Pistole geklaut hatte. Das Gesicht des Beamten war weiß und leer. Der dachte, er ist jetzt nicht nur seine Pistole, sondern auch gleich noch seine Pension los. Auch eine gute Grundidee für eine Story. Mehrere der Trieb-Storys sind aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Was reizt sie daran? Manchmal muss man eine Geschichte einfach von vorne nach hinten erzählen wie Gleis 2, manchmal aber auch umgedreht wie Auf Öland oder eben aus völlig unterschiedlichen Richtungen wie Das Seitensprungzimmer. Dieses Mehrdimensionale ist eine Technik, die ich oft im Hörfunk angewandt habe, Originaltöne so miteinander zu kombinieren, dass ich als Reporter gar nichts sagen musste, sondern dass sich die Geschichte ausschließlich aus den Tönen ergab. Diese Technik mag ich sehr. Ihre Lesungen sind ein Mix aus Text, Videos und Musik. Wird das auch bei Trieb so sein? Das liegt vermutlich an meiner Musikervergangenheit, dass ich denke, es reichte nicht, einfach bei einem Glas Wasser aus einem Buch vorzulesen. Ich mag es, assoziative Bilder zu projizieren und auch noch ein bißchen Sound dazu zu liefern. Es ist eine gute Möglichkeit, endlich mal Tracks meiner Band LEBENdIGITAL vorzuspielen. Wir hatten so einige düstere Phasen, das passt gut zu den Trieb-Geschichten.


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