frequenz
2 | 2023
Das Magazin des Departements Gesundheit
Wie bleiben wir
psychisch gesund?
Menschenrechte in der Psychiatrie
Unterstützung zwischen Gleichen
Perinatale psychische Versorgung
Wie steht es um die Schweizer Institutionen? Seite 8
Was psychiatrische Peer-Arbeit bewirkt. Seite 12
Berner Fachhochschule weist den Weg. Seite 16
Inhalt
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22 20
Fokus Mental Health 4 Wie steht es um unsere psychische Gesundheit? 6 Zahlen und Fakten zu Mental Health 8 Menschenrechte in der Psychiatrie: Wo steht die Schweiz? 12 Was Peer-Arbeit in psychiatrischen Angeboten bewirkt 14 Die eigene Erfahrung reflektiert einbringen 16 Psychische Gesundheit von Mutter und Kind im Fokus 18 Zwischen Öko-Angst und Resignation 20 Roboter Charlie zu Besuch in der Schule 22 «Die Physiotherapie steht unter Zugzwang» 25 Angehörige stärken und unterstützen 26 «Angehörigenberatung ist auch Präventionsarbeit» 28 Im Schatten des Gesundheitssystems: Obdachlose und Sans-Papiers 30 Wie Gesundheitsfachpersonen psychisch gesund bleiben 32 News
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Editorial
Liebe Leser*innen «Es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit.» (WHO) Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war Gesundheit in der westlichen Welt vor allem körperliche Gesundheit – und das galt lange Zeit auch für die Ausbildung von Gesundheitsberufen. Heute zeigt sich ein anderes Bild. Nicht zuletzt die COVID-19-Pandemie hat dafür gesorgt, dass die psychische Gesundheit aktuell ganz oben auf der Agenda von Politik, Gesundheitsversorgung und Wissenschaft steht. Die internationale Forschung macht deutlich: Psychische Gesundheit fordert alle Gesundheitsdisziplinen heraus, nicht nur die (psychiatrische) Pflege. So befasst sich die physiotherapeutische Forschung mit dem Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und Depressionen, neue Studienergebnisse der Ernährungsforschung legen einen Zusammenhang von hochverarbeiteten Lebensmitteln und depressiven Symptomen nahe und in der Geburtshilfe steht die psychische Gesundheit von Müttern vor, während und nach der Geburt seit langem im Fokus. Auch wir an der Berner Fachhochschule (BFH) forschen intensiv zu Themen der psychischen Gesundheit und lassen die evidenzbasierten Impulse in Lehre und Weiterbildung einfliessen, wie diese Ausgabe der frequenz zeigt. Zudem beschäftigen wir uns auch mit den Schattenseiten der psychischen Gesundheitsversorgung in der Schweiz. Obdachlose Menschen und Sans-Papiers leiden psychisch unter ihren Lebensbedingungen und erhalten oftmals keine angemessene Unterstützung. In der psychiatrischen Versorgung selbst geben Zwangsmassnahmen und andere Menschenrechtsverletzungen zu reden.
Impressum
Ich wünsche Ihnen eine interessante und neugierig machende Lektüre, denn es gibt keine Gesundheit ohne psychische Gesundheit.
Herausgeberin: Berner Fachhochschule BFH, Departement Gesundheit, ISSN 2297-1084 Erscheinungsweise: zweimal jährlich Auflage: 7500 Ex. Redaktion: Nicole Schaffner, Sandro Nydegger Lektorat: Katja Wey Bilder: BFH, sofern nicht anders vermerkt Layout: Etage Est GmbH, Bern Druck: Merkur Druck AG, Langenthal Abonnement: bfh.ch/gesundheit/frequenz
Die Texte dieses Werkes sind lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung-Nicht kommerziell 4.0 International Lizenz. Bilder und Grafiken stehen gemäss Schweizer Urheberrechtsgesetz für nicht kommerzielle Zwecke frei zur Verfügung.
Prof. Dr. Dirk Richter Leiter Innovationsfeld psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung, Fachbereich Pflege
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Fokus Mental Health
Wie steht es um unsere
psychische Gesundheit?
Fachleute und Medien warnen: Die Schweiz steckt mitten in einer «Mental-Health»-Krise. Doch was sagen die Zahlen? Und wie kann die psychiatrische Versorgung mit dem Problem umgehen?
Das mentale Wohlbefinden ist in den letzten 20 Jahren zu einem immer wichtigeren Thema in unserer Gesellschaft geworden. Dies zeigen beispielsweise die steigende Nennung von Begriffen wie «psychische Gesundheit» oder «Mental Health» in den Medien oder zunehmende Google-Suchanfragen. Man könnte davon ausgehen, dass mit der verstärkten Wahrnehmung auch eine tatsächliche Verschlechterung der psychischen Gesundheit in unserer Gesellschaft einhergeht. Verschiedene epidemiologische Studien zeigen aber, dass die Prävalenz psychischer Erkrankungen gar nicht steigt, hingegen die Inanspruchnahme von psychiatrischen Dienstleistungen deutlich zunimmt. Über die Gründe kann spekuliert werden: Veränderung der Wahrnehmung, höhere Akzeptanz, gesellschaftlicher Wandel oder die Ausweitung professioneller Konzepte wie beispielsweise Trauma können als wahrscheinliche Faktoren herangeführt werden. Tatsache ist aber, dass die Nachfrage nach psychiatrischen Leistungen steigt.
Junge und Frauen besonders stark betroffen
Die aktuellen Zahlen zur psychischen Gesundheit zeichnen ein düsteres Bild: Laut dem Schweizerischen Gesundheitsobservatorium OBSAN leidet rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung an psychischen Problemen. Dabei sind leichte bis schwere Depressionen und Angststörungen die häufigsten Symptome. Hilfe haben lediglich rund ein Drittel der Personen mit Behandlungsbedarf erhalten. Damit besteht auch hierzulande ein hoher ungedeckter Bedarf. Für junge Menschen ist der Leidensdruck speziell hoch: Etwa zwei Drittel der jungen Frauen zwischen 15 und 24 Jahren zeigen leichte bis schwere depressive Symptome. Auch von Essstörungen oder Selbstverletzungen sind junge Frauen überdurchschnittlich stark betroffen. Junge Männer sind hingegen besonders anfällig für einen problematischen Alkohol- oder Cannabiskonsum.
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Verschiedene Studien zeigen, dass sich die CoronaPandemie weniger stark auf die mentale Gesundheit der Bevölkerung ausgewirkt hat, als dass die öffentliche Wahrnehmung vermuten lässt. Dies gilt aber nicht für Jugendliche, die gemäss dem Bundesamt für Gesundheit BAG im Vergleich zur Gesamtbevölkerung erheblich stärker von der Pandemie belastet wurden. Das Gleiche gilt für die Auswirkungen des Klimawandels auf die Psyche der Menschen: Solastalgie, Öko-Angst und Öko-Paralyse sind neue Symptome, die besonders junge Menschen stark belasten.
Fachkräftemangel belastet das System
Auf den ersten Blick ist die Schweiz sehr gut auf eine Krise der psychischen Gesundheit vorbereitet. Die Eidgenossenschaft hat eine der höchsten Dichten an Psychiater*innen in Europa. Ähnliches gilt auch für die Anzahl Betten in psychiatrischen Kliniken. Doch das breit ausgebaute System hat einen Nachteil: In der Schweizer Psychiatrie herrscht – wie im gesamten Gesundheitssystem – ein chronischer Fachkräftemangel. Das grosse Angebot kann der noch grösseren Nachfrage nicht nachkommen. Eine Folge davon sind beispielsweise lange Wartezeiten – besonders für ambulante Therapien. Viele Praxen verhängen denn auch Aufnahmestopps aufgrund von Kapazitätsengpässen. Ein Symptom der überlasteten psychiatrischen Versorgung ist die vermehrte Anwendung von Zwangsmassnahmen. Mit ihren knappen personellen Ressourcen können Kliniken unfreiwillige Einweisungen oft nur schwer bewältigen. Da sie eine Versorgungspflicht haben, können sie diese Eintritte nicht ablehnen und müssen vermehrt auf Zwangsmassnahmen zurückgreifen.
Hohe Nachfrage nach ambulanten Angeboten
Eine bessere Integration des psychiatrischen Angebots in die Primärversorgung könnte die stationären Dienste entlasten. Obwohl die Krankenversicherung in der Schweiz die psychiatrische Versorgung abdeckt, bieten
Fokus Mental Health
Die aktuellen Zahlen zur psychischen Gesundheit zeichnen ein düsteres Bild: Rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung leidet an psychischen Problemen. (Bild: Adobe Stock)
nur wenige Hausärzt*innen entsprechende Leistungen an. Die psychische Gesundheit wird meist strikt von der somatischen Gesundheit getrennt. Hier könnten in Zukunft Pflegefachpersonen mit einer Advanced-PracticeRolle – spezifisch mit dem Abschluss Psychiatric Mental Health Nurse Practitioner – eine wichtige Funktion übernehmen. In der Schweiz hat das im Juli 2022 eingeführte Anordnungsmodell für Psychotherapeut*innen teilweise Abhilfe geschaffen. Im heutigen System müssen Patient*innen keinen Psychiater, keine Psychiaterin mehr finden. Neu reicht eine Überweisung vom Grundversorger. Dadurch sollte der Zugang zu psychiatrischen Leistungen vereinfacht worden sein. Eine weitere Möglichkeit, den Fachkräftemangel abzufedern, ist der Ausbau der ambulanten Versorgung. Die ambulante Versorgung ist im Vergleich zur stationären Pflege weniger personalintensiv und reduziert das Risiko eines stationären Eintritts erheblich. Damit können auch potenzielle Zwangsmassnahmen verhindert, Wartezeiten reduziert und Kosten gesenkt werden. Die Nachfrage nach ambulanten Angeboten wie beispielsweise der Wohnbegleitung sind sehr hoch. Damit die ambulanten Angebote ausgebaut werden können, muss der ambulante Tarif TARMED zwingend revidiert werden. Während die stationären Behandlungen von den Kantonen und den Krankenversicherungen gemeinsam finanziert werden, sind für ambulante Leistungen allein die Versicherungen zuständig. Das Tarifsystem wurde seit den 1990er-Jahren nicht mehr aktu-
alisiert und spiegelt nicht mehr die tatsächlichen Kosten wider. Dies erschwert den Ausbau ambulanter Angebote, für die eine grosse Nachfrage besteht. Die viel beschworene «Mental Health»-Krise ist also vor allem eine Diskrepanz zwischen Nachfrage und Angebot. Eine bessere Integration psychiatrischer Leistungen in die Primärversorgung und der Ausbau ambulanter Dienste könnten dieses Missverhältnis auf der Angebotsseite entlasten. Zusätzliche Bemühungen auf der Nachfrageseite wie eine verstärkte Prävention und ein verbesserter gesellschaftlicher Umgang mit psychischen Erkrankungen sind nötig. Referenzen – Richter, D. (2020): Die vermeintliche Zunahme psychischer Erkrankungen – Gesellschaftlicher Wandel und psychische Gesundheit. Psychiatrische Praxis. – Peter, C., Tuch, A., Schuler, D. (2023): Psychische Gesundheit – Erhebung Herbst 2022. Schweizerisches Gesundheitsobservatorium. – Stocker, D., Jäggi, J., Liechti, L., Schläpfer, D., Németh, P., & Künzi, K. (2021). Der Einfluss der COVID-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit der Schweizer Bevölkerung und die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz. Schlussbericht. Bern: Bundesamt für Gesundheit.
Autor: Sandro Nydegger, Kommunikation Departement Gesundheit
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Fokus Mental Health
Zahlen und Fakten zu Mental Health
500 000
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Mental Health
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Psychische Gesundheit
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Anzahl Nennungen des Begriffs «Psychische Gesundheit»
Anzahl Nennungen des Begriffs «Mental Health»
Nennungen des Begriffs in den Medien
0
2021
Die Begriffe «Mental Health» und «Psychische Gesundheit» tauchen immer öfter in den Medien auf. Gezeigt werden die Jahre 2003–2022. Quelle: Factiva, 2023
Die häufigsten Symptome psychischer Erkrankungen in der Schweiz Essstörungen
13 %
Suizidgedanken
10 %
8%
32 %
Soziale Phobie
Angststörungen 3% Panikstörung
36 %
Rund ein Drittel der Schweizer Bevölkerung leidet an psychischen Problemen. Quelle: OBSAN, 2023
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Depressionssymptome
12 % Substanzbezogene Abhängigkeit
Posttraumatische Belastungsstörung
10 %
4%
Problematischer Alkoholkonsum
Anteil der Bevölkerung, der selbstdeklariert an einem diagnostizierten oder nichtdiagnostizierten Symptom leidet. Quelle: OBSAN, 2022
Fokus Mental Health
Psychiater*innen in Europa
Psychiatrische Spitalbetten
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über 100 76 –100 51– 75
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26 –50 unter 25 keine Angaben
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26 25* 25 25 25
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Anzahl pro 100 000 Bewohner*innen Gezeigt wird das Jahr 2021. Quelle: Eurostat
Depressionssymptome, Essstörungen und Selbstverletzung
Problematischer Alkohol- oder Cannabiskonsum
Leichte bis schwere Depressionssymptome Essstörungen
Alkoholkonsum
Selbstverletzung
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Frauen 15–24 Jahre
Männer 15–24 Jahre
Schweizer Durchschnitt
25
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Frauen 15–24 Jahre
2,9 %
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Männer 15–24 Jahre
2%
15
9,9 %
20
1,1 %
Anteil der Bevölkerung
2,4 %
13 %
5,2 %
10
16,5 %
20
11 %
30
36 %
41,3 %
31,7 %
Anteil der Bevölkerung
50
21,5 %
30
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40
Cannabiskonsum
35
13,1 %
70
65,5 %
Anzahl pro 100 000 Bewohner*innen Gezeigt wird das Jahr 2021, Daten mit * sind von 2020. Quelle: Eurostat
Schweizer Durchschnitt
Junge Frauen leiden vergleichsweise besonders häufig an Depressionen, Essstörungen und Selbstverletzung.
Junge Männer sind allfälliger auf einen problematischen Alkohol- oder Cannabiskonsum.
Quelle: OBSAN, 2023
Quelle: OBSAN, 2023
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Fokus Mental Health
Menschenrechte in der Psychiatrie:
Wo steht die Schweiz?
Die Psychiatrie in der Schweiz geriet in jüngster Zeit immer wieder in die Schlagzeilen im Zusammenhang mit Zwang und Behandlungen gegen den Willen der Betroffenen. Dies wirft die Frage auf, wie es um die Rechte von Menschen mit psychischen Problemen hierzulande steht.
Politisch ist die Sachlage klar: Mit der Unterzeichnung der UNO-Behindertenrechtskonvention (UNO-BRK) im Jahr 2014 hat sich die Schweiz auf den Weg gemacht, die in der Konvention definierten Menschenrechte zu wahren. Dies würde beispielsweise bedeuten, Zwang gegenüber Menschen mit körperlichen, psychischen und kognitiven Beeinträchtigungen, wenn nicht abzuschaffen, so doch zumindest zu reduzieren. Die wenigen Daten sprechen jedoch eine andere Sprache. Zwangsmassnahmen in den psychiatrischen Kliniken der Schweiz nehmen seit Jahren zu. Bestätigt werden diese Daten durch eine Evaluation, der sich alle unterzeichnenden Staaten regelmässig unterziehen müssen. In diesem Staatenberichtsverfahren, das in der Schweiz erstmalig 2022 durchgeführt wurde, beurteilt ein UNKomitee den Stand der Umsetzung der Konvention im jeweiligen Land. Das Ergebnis ist für die Schweiz wenig schmeichelhaft – das Komitee zeigt zahlreiche Mängel und Probleme auf (EDI, 2022).
Bestandesaufnahme der psychiatrischen Versorgung
Das Staatenberichtsverfahren bezieht sich auf alle Menschen mit Beeinträchtigungen. Forschende des Innovationsfelds «Psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung» des Fachbereichs Pflege der Berner Fachhochschule (BFH) haben daher Daten und Fakten zur psychiatrischen Versorgung in der Schweiz zusammengestellt und analysiert (Richter et al., 2023). Die vom Evaluationskomitee festgestellten Mängel und Probleme sind nicht zuletzt mit einem grundsätzlich unterschiedlichen Verständnis von psychischen Problemen und deren Versorgung verbunden. Dies zeigt sich am Beispiel des Artikels 12 der UNO-BRK, der die gleiche rechtliche Anerkennung von Menschen mit und ohne Beeinträchtigungen vorsieht. Konkret bedeutet dies beispielsweise die Forderung nach Abschaffung der Beistandschaft gegen den Willen der betroffenen
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Person und die Möglichkeit, Zwangsmassnahmen aller Art abzulehnen, auch wenn Fachpersonen von einer Urteilsunfähigkeit ausgehen. Jedes Jahr sind in der Schweiz mehrere Tausend von solchen Zwangsmassnahmen betroffen. Rund 16 000 Personen werden jährlich mittels fürsorgerischer Unterbringung (FU) gegen ihren Willen in psychiatrische Kliniken eingewiesen, davon 8000 Personen mit weitergehenden Massnahmen wie Fixierung, Isolation und Zwangsmedikation. Die Bedenken des UN-Evaluationskomitees gehen über die Frage des unmittelbaren Zwangs hinaus. Die Intention der UNO-BRK ist es, Menschen mit Beeinträchtigungen gemäss ihrem «Wille(n) und (ihren) Präferenz(en)» zu unterstützen. Bemängelt wird etwa der unzureichende Ausbau gemeindenaher und aufsuchender Angebote, wie z. B. das Home Treatment, bei dem Menschen in akuten psychischen Krisen nicht in der Klinik, sondern in ihrem häuslichen Umfeld begleitet werden. Ein weiteres Thema ist die nach wie vor grosse Zahl von Wohnheimen, in denen viele Menschen aufgrund behördlicher Einweisung gegen ihren Willen leben müssen. Kritisiert werden auch die zahlreichen Werkstattplätze für Menschen mit Beeinträchtigungen. Problematisch ist hier der systematische Ausschluss vom allgemeinen Arbeitsmarkt, verbunden mit sehr niedrigen Löhnen und teilweise fragwürdigen Arbeitsbedingungen. Sowohl im Wohn- als auch im Arbeitsbereich gibt es in der Schweiz Unterstützungsprogramme, die es Menschen ermöglichen, nach ihren Präferenzen zu leben und zu arbeiten. Diese sind jedoch nur sporadisch etabliert und oft unzureichend finanziert.
Die Häuser der Soteria sind offen geführt. Die Behandlung basiert auf Freiwilligkeit. Sie wird von der Grundversicherung der Krankenkasse übernommen.
Fokus Mental Health
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Fokus Mental Health
1 Das psychiatrische Akutspital Soteria Bern wie auch das Tageszentrum Soteria Bern liegen mitten in der Stadt Bern. Die alltagsnahe Umgebung wirkt einer isolierten Klinik-Atmosphäre entgegen. 2 Die gemeinsamen Mahlzeiten sind ein zentrales Element in der Milieutherapie. Dabei bilden Nutzende und Milieutherapeut*innen eine Lebensgemeinschaft auf Zeit. 3 Entscheidungen über Behandlung, Alltag und Programm werden von den Nutzenden und dem Team gemeinsam getroffen. 4 Die Soteria legt den Fokus auf praktische, alltagsnahe Tätigkeiten statt auf die Auseinandersetzung mit Krankheitssymptomen. (Bilder: Soteria Bern)
1
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5 Kreatives Gestalten ist Teil der Milieutherapie im Tageszentrum Soteria. Es eröffnet Ausdrucksmöglichkeiten, die dem gesprochenen Wort verschlossen bleiben. 6 Die Tagesstruktur ist einfach und klar und lässt den Nutzenden Raum, um ihre Bedürfnisse selbstwirksam wahrzunehmen. 7 Weiches Zimmer: Hier wohnen die Nutzenden in einer akuten Krise. Sie werden während 24 Stunden von derselben Fachperson betreut und können so wieder zur Ruhe kommen.
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Fokus Mental Health
Vorbildliche Versorgungsangebote im Kanton Bern
Bei aller Kritik und offensichtlichen Defiziten in der nationalen und kantonalen Versorgung gibt es auch Gegenbeispiele. Die Weltgesundheitsorganisation WHO (2021) hat in ihren Richtlinien zur gemeindenahen psychiatrischen Versorgung weltweit zwei Versorgungsangebote empfohlen, die im Kanton Bern verfügbar sind oder sogar wesentlich entwickelt wurden. Ein Angebot ist der in Finnland entwickelte «Offene Dialog», bei dem Menschen in akuten psychischen Krisen aufsuchend in ihrem häuslichen Umfeld begleitet und behandelt werden. Am Dialog nimmt nicht nur die betroffene Person teil, sondern auch das Familiensystem – sofern vorhanden – oder andere Beteiligte aus dem sozialen Umfeld. Das Angebot Offener Dialog der Spitäler FMI Interlaken hat zum Ziel, bei der Bewältigung der psychischen Krise zu helfen, eine Hospitalisation zu vermeiden und damit das Risiko von Zwangsmassnahmen und anderen negativen Begleiterscheinungen zu vermindern. Sollte ein stationärer Aufenthalt unumgänglich sein, steht mit der «Soteria» im Berner Länggass-Quartier ein weiteres, aus Sicht der WHO vorbildliches Unterstützungsangebot zur Verfügung (siehe Bildstrecke). Kern
Psychiatrische Versorgung der Soteria Bern Die Behandlung in der Soteria Bern beschränkt sich nicht auf den stationären Aufenthalt. Sie kann bereits vorgängig in Form von ambulanten Beratungsgesprächen, Wohnbegleitungen oder Frühintervention im tagesklinischen Alltag im Tageszentrum Soteria beginnen. Im Anschluss an den stationären Aufenthalt in der Soteria gewinnen die Nutzenden im Tageszentrum wieder Boden unter den Füssen. Sie planen hier erste Schritte Richtung Reintegration in der Arbeit oder Beschäftigung, beim Wohnen und im sozialen Umfeld und setzen diese um. Alle Entscheidungen in den verschiedenen Behandlungsstadien werden auf Augenhöhe und gemeinsam mit den Nutzenden und auf deren Wunsch unter Einbezug der Angehörigen und des sozialen Umfelds getroffen. Der Recovery-Ansatz ist ein fester Bestandteil der Grundhaltung der Soteria Bern. Es ist ein Prozess der Auseinandersetzung der Betroffenen mit ihrer Erkrankung, der dazu führt, dass sie trotz ihrer psychischen Probleme in der Lage sind, ein selbstbestimmtes, hoffnungsvolles und sinnerfülltes Leben zu führen.
des Soteria-Konzepts ist die Bewältigung der akuten psychotischen Krise mit möglichst wenig Medikamenten. Neben den therapeutischen Gesprächen haben sich die wohnliche Atmosphäre und die Einbindung in die Gemeinschaft von bis zu zehn Gleichbetroffenen als wirksam erwiesen, wie eine laufende Evaluationsstudie der BFH nahelegt. Der Verzicht auf Zwang und der präferenzorientierte Ansatz werden von der WHO sowohl für die Soteria als auch für den Offenen Dialog als vorbildlich angesehen.
Noch ein weiter Weg vor uns
Die Daten- und Faktensammlung der BFH hat gezeigt, dass in der Schweiz noch ein weiter Weg bis zur vollständigen Umsetzung der UNO-BRK in der psychiatrischen Versorgung zurückzulegen ist. Hindernisse liegen unter anderem im Rechtssystem, in der Haltung der Fachkräfte, in ökonomischen Fehlanreizen sowie in der föderalen Struktur, die zum Beispiel ein systematisches Monitoring der Umsetzung verunmöglicht. Von zentraler Bedeutung ist jedoch der unzureichende Einbezug von Menschen mit psychischen Problemen in die Planung, Steuerung und Umsetzung von Versorgungsangeboten. Der Wille und die Präferenzen von Menschen mit psychischen Problemen können auf diese Weise noch nicht angemessen berücksichtigt werden. Referenzen – EDI 2022: Eidgenössisches Departement des Innern. (2022). Staatenberichtsverfahren. Das Staatenberichtsverfahren und die innerstaatliche Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention. – Richter, D. et al. 2023: Richter, D., Rühle Andersson, S., Burr, Ch., Domonell, K., Hasler, M., Hegedüs, A. & Wolfensberger, P. (2023). Menschenrechte in der schweizerischen Psychiatrie. Psychiatrische Pflege, 8 (2), 9– 12. – WHO 2021: World Health Organization. (2021). Guidance on community mental health services: promoting person-centred and rights-based approaches.
Prof. Dr. Dirk Richter Leiter Innovationsfeld psychische Gesundheit und psychiatrische Versorgung, Fachbereich Pflege dirk.richter@bfh.ch
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Fokus Mental Health
Was Peer-Arbeit
in psychiatrischen Angeboten bewirkt
2009 wurde die erste Peer-Mitarbeiterin in einer Schweizer Psychiatrie angestellt. Knapp 16 Jahre später sind es 125 Expert*innen, die mit ihrer eigenen Genesungserfahrung andere Menschen mit psychischen Problemen begleiten. Welche Vorteile hat Peer-Arbeit und wie kann sie in der eigenen Institution umgesetzt werden?
Bei der Peer-Arbeit unterstützen Menschen mit eigener Krankheits-, Krisen- und Genesungserfahrung bei der Behandlung von Menschen mit psychischen Problemen. Als eine Unterstützung «zwischen Gleichen» wird sie in internationalen und nationalen Positionspapieren und Behandlungsleitlinien gefordert (u. a. World Health Organization WHO, 2017). Die erste Peer-Mitarbeiterin in einer Psychiatrie wurde in der Schweiz im
Jahr 2009 angestellt. Mittlerweile sind viele weitere dazu gekommen – auch wenn nicht davon ausgegangen werden kann, dass Peer-Arbeit in den Psychiatrien der Schweiz flächendeckend umgesetzt wird. Aus einer Umfrage geht hervor, dass 2017 in der Deutschschweiz rund 125 Peer-Mitarbeitende in der Psychiatrie tätig waren, mit einem durchschnittlichen Beschäftigungsgrad von 35 Prozent (Burr et al., 2021).
Welche Aufgaben übernehmen die Peers? 50
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Anzahl Personen
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niemals und selten
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manchmal
oft und immer
Fokus Mental Health
Vermitteln von Zuversicht und Anti-Stigma-Arbeit
Die Peers nannten folgende Arbeitsinhalte und Themen am häufigsten: Vermitteln von Zuversicht, Empowerment, Symptom- und Krankheitsmanagement, AntiStigma-Arbeit oder das Brückenbauen zwischen Fachpersonen und Betroffenen (siehe Grafiken). Studien zur Wirksamkeit deuten insbesondere auf einen Vorteil der Peer-Arbeit bezüglich der Stärkung von persönlichen Recovery-Prozessen, Hoffnung sowie Empowerment hin und weniger auf Symptomreduktion, Reduktion von stationären Wiederaufnahmen oder Aufenthaltsdauer (u. a. Lyons et al., 2021). Im deutschsprachigen Raum hat sich die Weiterbildung Experienced-Involvement (EX-IN; siehe auch Verein EX-IN Schweiz) als Qualifikation für die Ausübung der Peer-Tätigkeit in der Psychiatrie etabliert. In der knapp 40-tägigen Weiterbildung geht es darum, die eigenen Erfahrungen zu reflektieren, diese durch die Erfahrungen der anderen Kursteilnehmenden zu kollektivem Erfahrungswissen zu transformieren und Beratungs- und Unterstützungskompetenzen im Einzelund Gruppensetting zu entwickeln.
Mittlerweile ist die Peer-Arbeit aus dem Fachdiskurs und der Praxis in der Psychiatrie nicht mehr wegzudenken. Dennoch gibt es noch viele Angebote, in denen Peer-Arbeit noch wenig umgesetzt wird. So beispielsweise in der ambulanten Behandlung und Betreuung, in psychosozialen Unterstützungsangeboten, aber auch in herkömmlichen Kliniken. Neben anderen Herausforderungen scheint die Finanzierung eine grosse Hürde zu sein – vor allem im nicht-spitalambulanten Bereich, weil sie dort noch nicht geregelt ist. Die Akzeptanz und das Wissen über Peer-Arbeit sind in den Pflege- und Sozialberufen am stärksten ausgeprägt. Insbesondere in der Medizin ist die Skepsis noch gross, was sicherlich auch mit der Entstehungsgeschichte der Peer-Arbeit, der Kritik an der medizinischen Psychiatrie sowie den hierarchischen Strukturen im System zusammenhängt. Referenzen Die Literatur zu diesem Text können Sie online einsehen.
Empfehlungen für Anstellung von Peers
Für die Anstellung von Peers gibt es differenzierte Empfehlungen. Neben einer klaren Stellenbeschreibung scheint eine gute Vorbereitung der Institution auf die Themen Recovery und Peer-Arbeit besonders wichtig. Zentral sind auch die Anstellung von mehr als einer Person pro Institution für einen guten Austausch, das Angebot von Supervision für die Peer-Mitarbeitenden sowie ein fest eingeplanter, regelmässiger Austausch zwischen Leitungspersonen, den Fachpersonen und Peer-Mitarbeitenden (Verein PRIKOP et al., 2020).
Dr. Christian Burr Wissenschaftlicher Mitarbeiter Fachbereich Pflege
In welchen Schwerpunktgebieten arbeiten die Peers? Mehrfachantworten möglich
Persönlichkeitsstörungen
27,8 %
29,6 %
Psychotherapiestation
7,4 %
46,3 %
Kinder- und Jugendpsychiatrie
1,9 %
keine Spezialisierung
affektive Erkrankungen
29,6 %
Psychose
14,8 % andere Schwerpunktgebiete
42,6 %
3,7 %
Abhängigkeitserkrankungen
Alterspsychiatrie
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Fokus Mental Health
Die eigene Erfahrung reflektiert einbringen Christian Feldmann und Andrea Zwicknagl sind beide Expert*innen aus Erfahrung und arbeiten als Peer-Mitarbeitende ambulant bei der aufsuchenden Wohnbegleitung der UPD in Bern und bei der mobilen Krisenbegleitung der Spitäler fmi. Wie sie zu dieser Arbeit gekommen sind und welchen Beitrag sie als Peer leisten, darüber tauschen sie sich im Gespräch aus.
Christian Feldmann: Ich bin seit 2015 bei den Universitären Psychiatrischen Diensten (UPD) Bern als Peer-Mitarbeiter angestellt. Zu Beginn im stationären Wohnen, Wohnverbund, aktuell in der aufsuchenden Wohnbegleitung WohnAutonom. Vor einigen Jahren habe ich dich, Andrea, an einer Versammlung von EX-IN, dem Verein für die Weiterbildung von Menschen mit psychischer Krankheits- und Genesungserfahrung, kennengelernt. Du hast von deiner Vision eines peergeleiteten Recovery-Hauses berichtet. Was hat dich an diesen Punkt geführt? Andrea Zwicknagl: Der Beitrag, den du damals gehört hast, war meine Portfoliopräsentation zum Abschluss der Peer-Weiterbildung von EX-IN. Ich habe mir vorgestellt, wie ein Ort für Menschen in Krisenzeiten aussehen würde, der nur von Peers getragen wird. Und dann habe ich schon mal die Eröffnungsrede für ein solches Recovery-Haus erarbeitet. Den Mut, anders zu denken – und die Überzeugung, dass dieses Andersdenken in die psychiatrische Versorgung einfliessen kann – hat mir die Peer-Weiterbildung EX-IN gegeben. Nach fast zehnjähriger Krisenerfahrung war es für mich ein wesentlicher Wendepunkt, mit welcher Wertschätzung über ebendiese Erfahrungen gesprochen wurde. 2014 / 15 habe ich die Weiterbildung selbst absolviert und damit den Grundstein für meine heutige Arbeit als Peer gelegt. Für mich ist das nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung. Etwas, das zu meinem Selbstverständnis gehört. Seelische Krisen sind nicht nur eine Krankheit, sondern können auch eine Qualifikation sein, um andere Menschen zu begleiten. Und auch eine Ressource, um sich zu vernetzen und gemeinsam Ideen zu entwickeln, wie die Zukunft der Psychiatrie aussehen könnte. Wie sieht dein Arbeitsalltag als Peer aus?
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Christian Feldmann: Ich geniesse viel Freiheit in der Arbeitsgestaltung und richte mich nach den Bedürfnissen der Menschen. Die einen bevorzugen den allgemeinen Erfahrungsaustausch, anderen biete ich Klärung, um mit dem Stimmenhören besser klarzukommen. Eine Begleitung zum Einkaufen, ein Hunde-Spaziergang oder auch die Teilhabe an Netzgesprächen, alles soll so lebensnah wie möglich passieren. Oder ich finde mich in der Rolle des Fürsprechers bei Therapeutenterminen wieder. So kann es sein, dass ich dabei helfe, den Wunsch der Person nach einer Medikamentenreduktion umzusetzen. Eine Person treffe ich seit acht Jahren regelmässig, andere lerne ich einmalig kennen. Wichtig bei meiner Arbeit ist: Ich habe auch eine Verantwortung mir selbst gegenüber, ich darf Belastendes nicht weiter mit mir herumtragen. Ich übe mich immer wieder in Selbstfürsorge. Welche Herausforderungen erkennst du im Peer-Alltag? Andrea Zwicknagl: Wir haben gelernt, geübt und praktizieren täglich, wie wir unsere eigene Erfahrung reflektiert in unsere Arbeit einbringen. Das ist unsere Kernkompetenz. Das fordert vielleicht manchmal heraus, aber ich bin gerne mit Menschen unterwegs, denen das Leben gerade die grossen Fragen stellt. Schwieriger ist es zum Teil, seine eigene Verortung in den Fachteams zu finden. Es hat sich als sehr hilfreich erwiesen, mindestens zwei Peer-Mitarbeitende anzustellen, sodass sie sich austauschen können. Auch eine gute Intervisionskultur im ganzen Team ist förderlich. In meiner Stelle im Offenen Dialog in Interlaken erlebe ich immer wieder, wie unsere Peer-Haltung mit einer professionellen Nähe zu den Menschen auch für die Kolleg*innen ein spannender Input für ihre Arbeit ist. Was bringt die Peer-Arbeit für dich persönlich, aber auch generell?
Fokus Mental Health
Christian Feldmann und Andrea Zwicknagl sind Peer-Mitarbeitende. Nach eigener Krisenerfahrung begleiten sie psychisch erkrankte Menschen im Heilungsprozess. (Bild: BFH)
Christian Feldmann: Oft erhalte ich Rückmeldungen wie: «Du hast Ähnliches erlebt und kannst mich deshalb besser verstehen». Ich vermute, dass dies das Verbundenheitsgefühl stärkt und der Stigmatisierung entgegenwirkt. Grundsätzlich finde ich, dass die Unterstützung durch eine Peer-Person in allen Diensten der psychiatrischen Grundversorgung ausdrücklich als Wahlmöglichkeit angeboten werden sollte. Sie sollte aber kein Muss sein. Denn nicht für jeden Unterstützungssuchenden ist Peer-Support in jedem Moment das Passende. Einen weiteren Mehrwert sehe ich darin, dass es in der Peer-Arbeit nicht nur um die Vermittlung von Recovery-Inhalten geht, sondern auch darum, gemeinsam Alltagsherausforderungen anzugehen. Denn erfahrungsgemäss ist nach dem Verstehen das Umsetzen das Schwierige. Im Gegensatz zum fachärztlichen Personal können wir Peers eine andere Beziehung zu den Menschen aufbauen. Und ich bin überzeugt: Es ist die Beziehung, die heilt – die Beziehung zu sich selbst, zur Umwelt, zu herausfordernden Lebensthemen. Ich möchte dir die gleiche Frage stellen: Welchen Mehrwert erkennst du?
gressen oder – so wie du, Christian – auf der Leitungsebene von Institutionen. Du bist einer der ersten Peers in der Schweiz, der Teil der Geschäftsleitung ist.
Andrea Zwicknagl: Ich mag den Begriff «Mehrwert» nicht so gerne, er impliziert für mich, dass wir mehr wert sind. Stattdessen möchte ich den Begriff Eigenwert verwenden. Peer-Arbeit hat einen Eigenwert. Sie fügt etwas Eigenes hinzu, das vorher fehlte. Ich bin davon überzeugt, dass jede Berufsgruppe ihren Eigenwert hat, und ich hoffe, dass jede Person in der Psychiatrie den Raum hat, diesen einzubringen. Peers können auf ganz vielen Ebenen etwas hinzufügen, sei es in der Begleitung von Menschen, aber auch im Austausch in den Teams, als Dozierende in Ausbildungen – wie es zum Beispiel an der BFH bereits geschieht –, als Sprecher*innen an Kon-
Christian Feldmann ist Peer-Mitarbeiter bei WohnAutonom der UPD Bern, Fortbildner in erfahrungsfokussierter Beratung (efc) mit Stimmen sowie aktiv im Netzwerk Stimmenhören.
Christian Feldmann: Viele Fachpersonen mit angelerntem Wissen bringen ein zusätzliches Wissen aus ihrem privaten Leben mit. Ich kenne etliche Fachpersonen, die Herausforderndes erfahren haben und mit dieser Auseinandersetzung einen offenen Umgang pflegen. Das bringt die Gesellschaft wieder ein Stück näher zusammen. In jedem von uns steckt ein*e Peer. Und ja, ich begleite und berate die Direktion vom Zentrum der psychiatrischen Rehabilitation der UPD Bern, habe aber keine Entscheidungskompetenzen. In den Bereichen Wohnen, Arbeit und Freizeit lasse ich mein Erfahrungswissen auf Direktionsebene einfliessen. Es wird in Zukunft noch viel mehr dieser Stellen brauchen, so dass sich die psychiatrischen Dienste weiter positiv im Sinne der Patient*innen entwickeln können.
Zu den Personen
Andrea Zwicknagl ist Peer-Mitarbeiterin bei der Mobilen Krisenbegleitung (nach Open Dialogue) in der Psychiatrie Interlaken und Co-Moderatorin der Stimmenhörguppe im Ambulatorium Mitte der UPD Bern.
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Psychische Gesundheit von
Mutter und Kind im Fokus
Die Berner Fachhochschule forscht und lehrt als einzige Hochschule im deutschsprachigen Raum zum Thema perinatale psychische Erkrankungen. Sie setzt damit Akzente in der Qualifizierung von Hebammen und in der besseren Versorgung von Betroffenen.
gekosten für die Gesundheit der Kinder durch Entwicklungs- und Verhaltensstörungen den grössten Anteil ausmachen (WHO, 2022). Eine Studie der Berner Fachhochschule (BFH) zeigt, dass auch in der Schweiz jede sechste Frau in der Perinatalzeit psychiatrische Dienstleitungen in Anspruch nimmt. Im Gegensatz dazu ist die Erkennungsrate in der geburtshilflichen Versorgung mit 1 bis 3 Prozent sehr tief (Berger et al., 2017). Gründe dafür sind ein fehlendes systematisches Screening auf PPE, mangelnde Ausbildung des geburtshilflichen Fachpersonals sowie die Angst der betroffenen Frauen, als psychisch krank stigmatisiert zu werden. Hinzu kommt, dass die psychiatrische Versorgung in der Schweiz kaum auf die Perinatalphase ausgerichtet ist. In der Perinatalzeit – der Zeit von der Schwangerschaft bis zum Abschluss des ersten Jahres nach der Geburt – finden bei der Frau eine Vielzahl von Transformationsprozessen auf körperlicher, psychischer und sozialer Ebene statt. In der gesellschaftlichen Wahrnehmung geht diese Zeitspanne häufig mit grosser persönlicher Erfüllung für die Frauen und Familienglück einher. Die Fakten zeigen ein anderes Bild.
Psychische Erkrankungen der Mütter mit schwerwiegenden Folgen
In den westlichen Industrieländern sind rund 20 Prozent der Frauen während der perinatalen Phase von einer psychischen Erkrankung betroffen. Perinatale psychische Erkrankungen (PPE) können schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Gesundheit von Mutter und Kind haben, wenn sie nicht angemessen behandelt werden. In den Industrieländern gehören PPE mittlerweile zu den Hauptursachen der Müttersterblichkeit. Weltweit stellen sie ein grosses Problem für die öffentliche Gesundheit dar. Dies führt neben dem grossen Leid für die Betroffenen auch zu hohen Gesundheitskosten für die Gesellschaft, wobei die Fol-
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BFH wirkt Versorgungsdefizit entgegen
Die BFH hat sich dem Ausbildungs- und Versorgungsdefizit im deutschsprachigen Raum durch einen entsprechenden Forschungs- und Lehrschwerpunkt angenommen und baut diesen kontinuierlich aus. Mit der Etablierung des Masterstudiengangs im Jahr 2017 bietet die BFH als einzige Hochschule im deutschsprachigen Raum das Modul «Perinatale psychische Gesundheit» an. Das Modul steht als Fachkurs auch anderen Berufsgruppen offen und wird neben Hebammen auch von Pflegefachpersonen und psychiatrischen Fachkräften besucht. Neben der Wissensvermittlung zu Prävention, Erkennung und Behandlung von PPE thematisiert das Modul die aktuelle Versorgungslage in der Schweiz. Schliesslich definieren die Absolvierenden Massnahmen für eine nachhaltige und wirkungsvolle Versorgung und entwickeln neue Angebote.
Wirkung in der Praxis
Das Modul zeigt bereits erste Wirkung in der Praxis. Basierend auf einer Masterarbeit wurde an der Universitätsklinik für Frauenheilkunde Inselspital Bern (FKI)
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in Kooperation mit den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern (UPD) im Jahr 2020 ein schweizweit einzigartiges Advanced-Practice-Midwife-Angebot (APM) entwickelt (Sutter, 2021). Ziel ist es, die Erkennung, Behandlung und Betreuung von psychisch erkrankten Frauen zu optimieren und damit die Risiken für Mutter, Kind und Familie zu reduzieren. Seither hat die Klinik unter der Leitung der APM kontinuierlich weitere Massnahmen umgesetzt, darunter die Einführung eines systematischen Screenings zur Früherkennung psychischer Erkrankungen. Dieses wird im Rahmen der Routinekontrolle während der Schwangerschaft und sechs Wochen post partum durch die Hebammen und Gynäkolog*innen durchgeführt. Bei einem auffälligen Erstscreening führt die APM ein erweitertes ScreeningAssessment durch, das in Zusammenarbeit mit den UPD entwickelt wurde. Nach einer einjährigen Pilotphase wurde das Screening im Rahmen einer weiteren Masterarbeit der BFH evaluiert (Rewicki et al., 2022). Die Resultate dieser studentischen Evaluation zeigen, dass 13 Prozent der gescreenten Frauen eine psychische Belastung aufweisen. Die meisten Frauen (38 Prozent) bevorzugten einen ersten Besprechungstermin bei der APM, was zeigt, dass das Gespräch mit einer psychiatrischen Fachperson eine psychologische Hürde darstellt. Bemerkenswert ist, dass suizidale Gedanken keine Seltenheit sind. 13 Prozent der befragten Frauen gaben an, in den letzten 7 Tagen daran gedacht zu haben, sich selbst Schaden zuzufügen. Dieses Resultat unterstreicht die Wichtigkeit der Früherkennung und Entstigmatisierung von PPE, um betroffenen Müttern und Familien rechtzeitig Hilfe zukommen zu lassen.
Für eine sichere Mutter-Kind-Beziehung sorgen
Eine weitere Frage, die sich bei der Betreuung von Frauen mit einer PPE stellt, betrifft das Kindeswohl beziehungsweise die Gefährdung des Kindeswohls. Es ist bekannt, dass psychische Erkrankungen die MutterKind-Beziehung negativ beeinflussen und Folgen für die kindliche Entwicklung haben können. Auch hier wird eine Früherkennung und die Einleitung von Interventionen empfohlen. Unklar ist jedoch, mit welchen Instrumenten eine Gefährdung für das Kind erkannt werden kann. Diese Thematik wird aktuell in einer weiteren Masterarbeit an der BFH untersucht. Referenzen Die Literatur zu diesem Text können Sie online einsehen.
Autorinnen: Lena Sutter Leitende Pflege- und Hebammenexpertin, Universitätsklinik für Frauenheilkunde, Inselspital Bern, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Geburtshilfe Eva Cignacco Co-Fachbereichsleiterin, Fachbereich Geburtshilfe
Irene Gunz Dipl. Pflegefachfrau Psychiatrie Psychiatrische Dienste, Spital STS AG Thun «Ich bin als Pflegefachfrau in einem multiprofessionellen Team tätig, das psychiatrische Akutbehandlung im häuslichen Umfeld anbietet. Wir begleiten immer häufiger Frauen und auch Männer mit psychischen Schwierigkeiten in der perinatalen Phase. Die Betroffenen benötigen eine intensive Behandlung, finden jedoch keinen stationären Platz oder können sich nicht vorstellen, ihre gewohnte Umgebung zu verlassen. Ich habe den Fachkurs besucht, um meine Kenntnisse zu vertiefen, mehr über die Arbeitsweise von Hebammen im Bereich der psychischen Gesundheit zu erfahren und Kontakte zu einer mir bisher ferneren Berufsgruppe zu knüpfen.»
Prof. Dr. med. Daniel Surbek Geschäftsführender Co-Klinikdirektor und Chefarzt Geburtshilfe und feto-maternale Medizin, Frauenklinik Inselspital Bern «Mit der Einführung des AMP-Angebotes an der Frauenklinik Bern haben wir einen grossen Schritt zur Verbesserung der perinatalen psychischen Gesundheit gemacht. Durch das mit dem AMP-Projekt eingeführte Screening während der Schwangerschaft können wir Frauen, die eine besondere psychische Betreuung benötigen, schon früh eine fokussierte und in das interdisziplinäre Gesamtkonzept integrierte Unterstützung anbieten. Damit erreichen wir einen besseren Outcome für Mutter und Kind. Dieses Modell hat grosses Potenzial für die konkrete Förderung der psychischen Gesundheit von Frauen im Kontext von Schwangerschaft, Geburt und postpartaler Zeit.»
Anja Schlenker Hebamme am Universitätsklinikum Leipzig MSc-Studentin Advanced Practice Midwife BFH «Von besonderem Mehrwert für mich waren die epidemiologische Relevanz des Themas sowie die evidenzbasierten Betreuungsansätze durch internationale Fachexpert*innen. Mein Auslandsaufenthalt im Rahmen eines Transfermoduls in einem interdisziplinären Team für Perinatal Mental Health am Rotunda Hospital in Dublin, Irland, hat das Studium abgerundet. In meiner Klinik in Deutschland beschäftige ich mich nun mit der Evaluierung der Versorgungssituation für perinatale psychische Gesundheit.»
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Zwischen Öko-Angst und Resignation Die Auswirkungen der Klimakrise hinterlassen nicht nur auf dem Planeten Narben, auch unsere Psyche leidet unter den Wetterextremen. Wie können Gesundheitsfachpersonen helfen, mit der Situation umzugehen?
Waldbrände, Hitzewellen, Starkregen mit Überschwemmungen: Der Klimawandel macht sich zunehmend im täglichen Leben bemerkbar. Die gesundheitlichen Folgen sind divers: Höhere Temperaturen, extreme Wetterbedingungen und Luftverschmutzung haben Auswirkungen auf Frühgeburten, akute und chronische Atemwegserkrankungen, Allergien und Asthma. Darüber hinaus führt der Klimawandel zu einer stärkeren Ausbreitung von Infektionskrankheiten und zu einer höheren Aussetzung gegenüber Karzinogenen und deren Folgen. Der Klimawandel gefährdet aber nicht nur die körperliche Gesundheit, sondern auch das psychische Wohlbefinden. Verschiedene Studien zeigen, dass die Zunahme von Extremwetterereignissen und Naturkatastrophen zu mehr stressassoziierten Folgeerkrankungen wie Angststörungen, Depressionen oder Abhängigkeitserkrankungen führen können. Nach dem Hurrikan Katrina wurde beispielsweise in New Orleans eine langfristige Zunahme von Alkohol- und Drogenmissbrauch beobachtet. Eine Metastudie zeigt, dass das Erleben einer Naturkatastrophe das Risiko einer psychischen Erkrankung im Vergleich zu Menschen ohne solche Erfahrung fast verdoppelt. Es muss aber nicht immer ein Extremereignis sein: Hitzetage mit einer Tageshöchsttemperatur von 30 Grad Celsius oder mehr stehen in Zusammenhang mit erhöhten Selbst- oder Fremdaggressionsereignissen sowie Suizidversuchen. In der Konsequenz führt dies zu einer erhöhten Hospitalisierungsrate. Eine Studie des Oeschger-Zentrums für Klimaforschung (OCCR) zeigt, dass höhere Umgebungstemperaturen mit einem erhöhten Risiko für Hospitalisierungen aufgrund psychischer Erkrankungen verbunden sind. Die Weltmeteorologiebehörde WMO warnt vor den körperlichen und psychischen Folgen schlechten Schlafs aufgrund hoher Nachttemperaturen.
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Neue Symptome durch Klimawandel
Durch den Klimawandel entstehen neue psychische Symptome: «Solastalgie» bezeichnet die mit der Zerstörung der eigenen Heimat bzw. Umwelt einhergehende Trauer angesichts des Verlusts von Orten, Aktivitäten oder Traditionen aufgrund des Klimawandels. ÖkoAngst («Eco-Anxiety») beschreibt die Angst, den Klimawandel und seine Auswirkungen direkt zu erleben. Dies kann zu umweltbewusstem Verhalten und Engagement führen, aber auch zu einer Resignation vor dem Unabwendbaren, zur Öko-Paralyse («Eco-Paralysis»). Diese Emotionen werden auch durch die kontinuierliche Medienberichterstattung über katastrophale Bedrohungen verstärkt oder erst hervorgerufen. Besonders betroffen sind Entwicklungs- und Schwellenländer. Hier kommen zu den direkten Belastungen des Klimawandels häufig auch indirekte Folgen wie Nahrungsmittelmangel, Wasserknappheit und Flucht hinzu. Der Mangel an bestimmten Nährstoffen kann sich in psychischen Symptomen wie Fatigue, Konzentrations- und Gedächtnisschwäche und Depression äussern. Erzwungene Flucht ist mit Angst und Stress verbunden. Der Klimawandel kann zudem soziale Ungleichheiten und Konflikte verschärfen. Menschen, die bereits marginalisiert oder benachteiligt sind, sind oft stärker von den Auswirkungen des Klimawandels betroffen, was wiederum zu psychischem Stress und Unwohlsein führen kann. Hier zeigt sich eine klimaverursachte psychische Abwärtsspirale.
Strategien für eine verstärkte Resilienz
Der verstärkt fühlbare Klimawandel und seine Auswirkungen auf die menschliche Psyche zeigen: Gesundheitsfachpersonen müssen sich längerfristig auf einen steigenden Bedarf an klimaassoziierten, psychischen Dienstleistungen einstellen.
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Der Klimwandel schlägt aufs Gemüt: Verschiedene Studien zeigen, dass die Zunahme von Extremwetterereignissen und Naturkatastrophen zu mehr stressassoziierten Folgeerkrankungen führen können. (Bild: Adobe Stock)
Ein Ansatz, um Menschen resilienter gegenüber neuen Phänomenen wie Öko-Angst oder Solastalgie zu machen, ist die Stärkung sozialer Bindungen, der Gruppenidentität und des Zusammenhalts. Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen mit einem Gefühl der Gruppenidentität und sozialer Unterstützung stressresistenter und widerstandsfähiger sind. Das gemeinsame Bekämpfen des Klimawandels gibt den Menschen ein Gefühl der Wirksamkeit und kann so Hilflosigkeit, Resignation und Pessimismus verhindern.
Vor der eigenen Türe kehren
Emissionen des Gesundheitsbereichs tragen massgeblich zum Klimawandel bei. Darum müssen Gesundheitsfachpersonen neben der Stärkung der Resilienz ihrer Patient*innen auch ihre eigenen klimarelevanten Emissionen reduzieren. Das heisst: klimaschonende Mobilität, Minimierung des Einsatzes von Einwegprodukten, Reduktion von Arzneimittelabfällen, konsequente Digitalisierung, vermehrte Ambulantisierung des Angebots. Im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms «Nachhaltige Wirtschaft» haben die Hochschule für Life Sciences und Facility Management der ZHAW zusammen mit dem Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML nützliche Best-PracticeBeispiele für ein umweltfreundliches und effizientes Spital zusammengestellt. Damit diese Massnahmen umgesetzt werden können, müssen die Gesundheitsfachpersonen ihr Selbstverständnis und ihr eigenes Handeln überdenken. Am
Departement Gesundheit der Berner Fachhochschule wird dieses holistische Denken bereits in der Ausbildung durch Module wie Planetary Health gefördert. Die Gesundheit aller Lebewesen, Populationen und Ökosysteme der Erde muss neben der Ausbildung auch in Praxis, Forschung und Gesundheitspolitik ein Thema sein. Denn Klimamassnahmen sind auch Massnahmen für die psychische Gesundheit. Referenzen Die Literatur zu diesem Text können Sie online einsehen.
Fabian Kraxner Oberarzt am Zentrum für Psychiatrie und Psychotherapie des Spitals Affoltern Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Fachbereich Pflege
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Roboter Charlie
zu Besuch in der Schule
Bild: BFH
Um Kinder beim Erlernen überfachlicher Kompetenzen zu unterstützen, haben Forschende der Berner Fachhochschule einen humanoiden Roboter in zwei Primarschulklassen eingesetzt. Dabei konnten sie wichtige Erkenntnisse zur Mensch-Maschine-Interaktion sammeln. Diese helfen, digitale Ansätze im Gesundheitswesen umzusetzen.
Laut einer UNICEF-Studie von 2021 ist rund ein Drittel der 14- bis 19-Jährigen in der Schweiz von psychischen Problemen betroffen, Tendenz zunehmend. Die mentale Gesundheit von Kindern ist darum ein wachsendes Thema an Schweizer Schulen. Eine Bedarfserhebung im Jahr 2022 zum Thema Wohlbefinden, Gesundheit und Digitalisierung bei Primaschulkindern hat gezeigt, dass ein deutlicher Handlungsbedarf bei der Förderung der Sozialkompetenz, des eigenen Selbstbildes und des Umgangs mit den eigenen Emotionen besteht. Auch das Potenzial der Digitalisierung zur Förderung dieser Kompetenzen und Fertigkeiten wurde erkennbar. Um Schulkinder beim Erlernen dieser überfachlichen Kompetenzen zu unterstützen, haben Forschende der BFH zusammen mit den niederländischen Projektpartnern Therapieland und Interactive Robotics ein roboterbasiertes Programm entwickelt. Dank der Zusammenarbeit mit der Hochschule für Angewandte Psychologie FHNW konnte der humanoide Roboter Nao ausgeliehen und das Programm implementiert werden.
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Charlie in der Schule
Im Mai und Juni 2023 konnten die Forschenden dieses Programm erstmalig in zwei Schweizer Primarschulklassen (4. und 5. Stufe) testen. Jedes Kind löste während sechs Wochen ein- bis zweimal pro Woche eine ihm zugewiesene Aufgabe aus den Bereichen Sozialkompetenz, Selbstbild oder Umgang mit Emotionen. Ziel war es, Machbarkeitserfahrungen für den Einsatz eines Roboters, getauft Charlie, im Schulunterricht zu sammeln. Akzeptanz und Benutzerfreundlichkeit des Programms und des Roboters standen dabei im Mittelpunkt. Die Module starteten mit einer kurzen Einführung ins Thema, gefolgt von Verständnisfragen. So wurde beispielsweise im Handlungsfeld Sozialkompetenzen dem Kind erklärt, in welchen Situationen und wie es sich entschuldigen kann. Im Anschluss wurden Verständnisfragen gestellt wie: «Es ist gut, jemanden anzuschauen, wenn man sich entschuldigt. Stimmt das?» Zur Beantwortung konnten die Kinder mit dem Roboter sprechen oder die Antworten über eine Fernbedienung
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eingeben. Je nach Modul wurden zudem Arbeitsblätter oder Hausaufgaben bearbeitet. Ein Projektteammitglied der BFH supervisierte die Kinder jeweils bei der Bearbeitung der Module mit Charlie. Dies war erforderlich, um bei immer wieder auftauchenden technischen Schwierigkeiten wie z. B. Verbindungsproblemen oder Überhitzung eingreifen zu können.
Erfahrungen in der Praxis
Trotz der technischen Herausforderungen konnten pro Schulhalbtag zwischen 10 und 15 Kinder mit dem Roboter arbeiten. Der Erstkontakt der Kinder mit Charlie löste grosses Interesse aus. Es wurden Fragen zur künstlichen Intelligenz, zur Herstellung von Charlie und zu den Funktionen des Programms gestellt. Bei den individuellen Interaktionen mit Charlie zeigte sich jedoch, dass die Robotersprache nicht immer verstanden wurde und auch die Möglichkeit zur Wiederholung fehlte. Trotzdem beantworteten die Kinder die Verständnisfragen meist richtig, da diese sehr einfach waren. Im Abschlussgespräch erzählten die Lehrerinnen, dass die Kinder die Arbeit mit Charlie zu Beginn als spannend empfanden. Jedoch seien die direkten Interaktionsmöglichkeiten sehr beschränkt gewesen und die Kinder sowie die Lehrpersonen hätten sich technisch mehr erhofft. Beispielsweise, dass der Roboter individuell auf die Antworten hätte reagieren können und nicht einem hinterlegten Skript gefolgt wäre. Bei den Kindern sei klar zu spüren gewesen, wie die initiale Begeisterung für Charlie von Woche zu Woche nachliess. Dies lag zum einen daran, dass der Roboter immer wieder «abstürzte» und zum anderen daran, dass die Kinder zeitversetzt an denselben Modulen arbeiteten und sich folglich nicht im Anschluss sofort darüber austauschen konnten. Auch seien die Module zu einfach gewesen. Viel besser hätten sie es gefunden, wenn Charlie ihnen beispielsweise die schwierigen Matheaufgaben erklärt hätte, anstatt mit ihnen zu üben, wie man sich entschuldigt. Die Zusammenarbeit der Kinder mit Charlie verlief jedoch grundsätzlich ernsthaft, auch wenn die Aufmerksamkeit und das Interesse durch die technischen Unterbrüche vermindert wurden.
Digitale Ansätze im Gesundheitswesen
Dieses Projekt zeigt deutlich, wie wichtig es ist, ein digitales Werkzeug sorgfältig im realen Alltag zu testen. Nur so können unterschiedlichste Nutzungserfahrungen gesammelt werden, die es dringend braucht, um den Mehrwert eines digitalen Werkzeugs zu identifizieren. Es fällt auf, dass bei dieser ersten Pilotierung die Funktionalität im Vordergrund stand. Es benötigt weiteren Kontext, Alltag und Zeit, um den Mehrwert dieser Mensch-Maschine-Interaktion für die Nutzenden weiter zu schärfen. Den Mehrwert klar zu kennen ist eine grundlegende Voraussetzung einer längerfristigen Nutzung. Dies gilt auch für das Gesundheitswesen.
Potenzial der Robotik in der Schule Gemäss den Lehrpersonen hätte ein Roboter im Schulzimmer grundsätzlich Potenzial. Folgende Aspekte sollten jedoch bei der Mensch-MaschineInteraktion beachtet werden: Zusätzliche Interaktion Die Interaktion mit dem Roboter sollte nicht nur verbal stattfinden, sondern auch über ein peripheres Eingabegerät wie beispielsweise ein Tablet möglich sein.
Replay-Funktion Falls der Roboter nicht verstanden wird, sollte es eine Möglichkeit geben, das Gesagte zu wiederholen.
Belohnungssystem Die Interaktionsversuche mit dem Roboter sollten belohnt werden, so dass die Motivation, mit dem Roboter zu arbeiten, langfristig aufrechterhalten werden kann. Dies könnte beispielsweise durch Tanzeinheiten oder Musikwahl umgesetzt werden.
Mehrwert Der Einsatz des Roboters sollte einen erkennbaren Mehrwert leisten und nicht eine gleichwertige Funktion ersetzen.
Individualität Der Roboter sollte individuell auf die Bedürfnisse und Anforderungen des Menschen eingehen können und nicht nur einem vorprogrammierten Skript folgen, da dies keine Flexibilität erlaubt.
Autor*innen: Selina Burch Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fachbereich Pflege Natalie Bez Wissenschaftliche Assistentin, Fachbereich Ernährung und Diätetik Prof. Dr. Kai-Uwe Schmitt Leitung Akademie-Praxis-Partnerschaft zwischen der Insel Gruppe und der BFH Prof. Dr. Friederike J.S. Thilo Leiterin Innovationsfeld Digitale Gesundheit, Fachbereich Pflege
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«Die Physiotherapie steht unter Zugzwang» Emanuel Brunner ist Physiotherapeut und klinischer Spezialist für Mental Health. Sein Ziel ist es, das Potenzial von Bewegung und Körpererfahrung zu nutzen, um das individuelle Leiden bei psychischen Problemen zu vermindern. Er fordert, dass Physiotherapeut*innen diesbezüglich mehr Verantwortung übernehmen.
Emanuel Brunner, Sie stehen für die Spezialisierung von Physiotherapeut*innen im Bereich Mental Health ein. Warum ist es wichtig, die psychische Gesundheit in diesem Beruf zu berücksichtigen? Unter anderem, weil sie uns tagtäglich begegnet. Menschen mit chronischen Erkrankungen wie Herz- oder Lungenkrankheiten, Diabetes oder Osteoarthritis leiden häufig an psychischen Erkrankungen. Gleichzeitig sind Menschen mit Schizophrenie oder Angststörungen oft auch von körperlichen Krankheiten betroffen. Die Alterung der Gesellschaft und die damit verbundene höhere psychische Komorbidität sowie die Zunahme psychischer Erkrankungen vor allem bei jungen Menschen sind zwei grosse Herausforderungen der Gesellschaft. … und somit auch der Physiotherapie? Ja, ganz klar. Die Physiotherapie sollte sich in ihrer Professionsentwicklung immer den gesellschaftlichen Herausforderungen stellen und versuchen, zur Verbesserung beizutragen. Interessanterweise waren es in der
Zur Person
Dr. Emanuel Brunner ist Physiotherapeut und Studiengangsleiter an der Ostschweizer Fachhochschule in St. Gallen. Seit zehn Jahren arbeitet er als Physiotherapeut am Kantonsspital Winterthur. In seiner klinischen Tätigkeit im Akutspital behandelt er ambulante und stationäre Patient*innen mit psychischen Problemen oder Störungen.
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Vergangenheit zumeist psychosomatische Probleme, an denen die Physiotherapie gewachsen ist. Nach den Weltkriegen übernahm die Physiotherapie eine wichtige Rolle in der Rehabilitation und behandelte die Soldaten, die an posttraumatischen Belastungsstörungen litten. Deshalb ist für mich auch angesichts der aktuellen Entwicklungen klar: Die Physiotherapie müsste auf allen Ebenen der psychiatrischen Versorgung vertreten sein, von der Prävention bis zur Behandlung des ganzen Spektrums. Sie sprechen im Konjunktiv … welche Rolle hat die Physiotherapie aktuell bei der Behandlung von psychisch Erkrankten? Um es offen zu sagen: Im Moment noch eine ungenügende Rolle. Wir brauchen mehr Physiotherapeut*innen, die im Umgang mit psychisch Erkrankten kompetent sind. Das darf man von uns erwarten. Und das heisst nicht, dass sich alle in jedem Setting für jede Behandlung kompetent fühlen müssen, aber alle müssen den Versorgungsbedarf erkennen und entsprechend handeln können. Hier steht die Physiotherapie unter Zugzwang. Wir haben zwar eine Rolle in der Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. Wir sind involviert, aber wir sind auf allen Ebenen noch lange nicht da, wo wir sein sollten. Woran liegt das? Zu einem grossen Teil fehlt es am Selbstverständnis des eigenen Berufsbildes: Physiotherapeut*innen registrieren noch zu wenig, dass sie eine wichtige Rolle spielen bei der Erkennung und Behandlung von psychischen Erkrankungen. Gerade in der Schweiz fehlt dieses Mindset. Zu lange hat sich die Physiotherapie hierzulande auf manualtherapeutische Behandlungen konzentriert.
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Bild: BFH
«Wir brauchen mehr Physiotherapeut*innen, die im Umgang mit psychisch Erkrankten kompetent sind. Das darf man von uns erwarten.» Dr. Emanuel Brunner
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Die psychische Gesundheit war deshalb lange Zeit schlicht nicht Teil der Aus- und Weiterbildung von Physiotherapeut*innen. Das hat sich in den vergangenen Jahren glücklicherweise geändert. An der Ostschweizer Fachhochschule ist der psychiatrische Aspekt bereits in der Grundausbildung Thema, die Berner Fachhochschule bietet entsprechende Weiterbildungen an. Wieso erst jetzt? Man kann es nicht schönreden: Die Schweiz hat es leider schlicht verschlafen, in diesem wichtigen Bereich aktiv zu werden. Wir wissen, dass es im Schnitt sieben Jahre braucht, bis ein Forschungsergebnis in der Praxis angewendet wird. Die Physiotherapie wurde zudem erst spät akademisiert, die Forschung hatte also lange keinen Einfluss auf das Berufsbild. Jetzt haben wir die klinische Forschung. Wir wissen, dass bewegungsorientierte Therapie bei psychischen Erkrankungen hilft und können das in die Aus- und Weiterbildung einfliessen lassen. Die Akademisierung der Profession war dringend nötig, denn der Zusammenhang zwischen Körper und Psyche ist hochkomplex. Was fordern Sie konkret von der Physiotherapie in Bezug auf die psychische Gesundheit? Das Bewusstsein für Körper und Bewegung im Zusammenhang mit der Psyche wächst auch in anderen Berufsgruppen. So gibt es körperorientierte Psychotherapien, Sporttherapien mit Fokus auf psychische Erkrankungen und weitere Komplementär- und Alternativtherapien, die das Potenzial von Bewegung bei psychischen Erkrankungen erkannt haben: Die Liste ist lang und es braucht alle Gesundheitsberufe, um den Stellenwert von Bewegung und Training in der psychischen Versorgung zu stärken. Aus meiner Sicht müssen es aber die Physiotherapeut*innen sein, die den Lead bei der bewegungsorientierten Behandlung von psychischen Erkrankungen übernehmen. Wir sind dafür ausgebildet, Menschen mit Gesundheitsproblemen zu behandeln. Das unterscheidet uns von einer Sporttherapeutin oder einem Fitness-Instruktor, die in den allermeisten Fällen mit gesunden Menschen arbeiten. Es gibt zum Beispiel immer mehr Psychiatrien, die daran interes-
Was Fachkurs-Teilnehmende denken Erfahren Sie im Video auf unserer Website, wie die Teilnehmer*innen den Fachkurs Physiotherapie und Mental Health erleben, wovon sie profitieren und welche Perspektiven sich für sie durch die Teilnahme eröffnen. Mehr Informationen zum Fachkurs bfh.ch/physio-mh
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siert wären, die Physiotherapie in ihrer Klinik auszubauen. Wir brauchen mehr ausreichend qualifizierte Physiotherapeut*innen, die bereit sind, ein solches Angebot vor Ort zugänglich zu machen. Die psychiatrische Gesundheitsversorgung steht unter Druck. Wie kann die Physiotherapie hier entlasten? Entlastung ist ein unpassender Begriff, denn Physiotherapie ersetzt weder Psychotherapie noch Pharmakotherapie. Die Physiotherapie kann einen Beitrag zur Stärkung des Systems leisten und helfen, den Patient*innen besser gerecht zu werden. Wir sollten uns dafür einsetzen, dass psychisch kranke Menschen in jedem Fall zusätzlich körperorientierte Therapien erhalten. Im Umkehrschluss können wir durch eine physiotherapeutische Anamnese, die auch die psychische Gesundheit beinhaltet, rasch erkennen, wenn eine Person weitere Therapien benötigt und entsprechend handeln, um patientengerechte Versorgungsnetzwerke für sie aufzubauen. Wo sehen Sie Chancen für die Zukunft? Wenn man das Bewegungsverhalten zielgerichtet analysiert, lassen sich Rückschlüsse auf die psychische Gesundheit ziehen oder sogar ein Risiko für die Entwicklung einer Demenz erkennen. Dieser Zusammenhang zwischen Motorik und Kognition ist sehr vielversprechend und die Physiotherapie wäre in der richtigen Position, dies festzustellen und Massnahmen für die weitere Behandlung einzuleiten – in der Psychiatrie, aber auch in der Geriatrie. Können Sie ein Beispiel nennen? Kognitive Einschränkungen bei einer beginnenden Demenz zeigen sich unter anderem durch ein verändertes Gangmuster. Gangtempo und Gangrhythmus sind verändert, und dies fällt besonders dann auf, wenn eine Dual-Task-Fähigkeit gefordert ist, also wenn jemand gehen und gleichzeitig eine kognitive Aufgabe ausführen muss. Wenn wir mit den Patient*innen sowieso ein Lauftraining ausführen, können wir solche Untersuchungen gleich mit durchführen. Im besten Fall erkennen wir eine beginnende Demenz frühzeitig und können Therapien anordnen, die ein längeres selbständiges Leben ermöglichen. Was ist Ihr Appell an Ihre Arbeitskolleg*innen? Ich hoffe, dass wir unsere Kolleg*innen und Studierenden motivieren können, um die Menschen ganzheitlich wahrzunehmen. Wir müssen uns nicht alle auf psychische Erkrankungen spezialisieren. Aber wir sollten diese genauso berücksichtigen wie die Medikation oder andere Erkrankungen wie Diabetes oder kardiologische Risikofaktoren. Interview: Nicole Schaffner, Kommunikation Departement Gesundheit
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Angehörige stärken und unterstützen Betreuende Angehörige leisten eine wichtige, aber oft auch belastende Arbeit. Um sie dabei zu unterstützen, werden zunehmend Angebote geschaffen. Eine Befragung zeigt, was sich bei der Angehörigenarbeit in Zukunft noch ändern sollte.
In der Schweiz wissen wir: Knapp 8 Prozent der Bevölkerung betreuen eine nahestehende Person mit einem Gesundheitsproblem. Sie sind sogenannte betreuende Angehörige und unterstützen in administrativen und koordinativen Belangen, leisten Hilfe im Alltag und bieten emotionale und soziale Unterstützung. Rund ein Fünftel der betreuenden Angehörigen unterstützt eine nahestehende Person mit einer psychischen Erkrankung (Otto et al., 2019). Sie leisten massgebliche und wichtige Care-Arbeit, die mitunter zum Genesungsprozess der Betroffenen beiträgt.
Professionalisierung der Angehörigenarbeit
Nicht selten sind psychische Erkrankungen für die Angehörigen emotional sehr belastend. Die Angehörigenberatung bietet ihnen Hilfestellung, um mit schwierigen Situationen besser umzugehen. Das Netzwerk Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP) setzt sich seit 2006 für die Vernetzung von Fachleuten und die Professionalisierung der Angehörigenarbeit in der psychiatrischen Versorgung ein. Zwischen 2020 und 2021 führte das NAP eine Zufriedenheitsbefragung bei Personen durch, die eine Angehörigenberatung durch eine Fachperson erhalten haben. Dabei wurden quantitative und qualitative Daten erhoben. Die Berner Fachhochschule (BFH) hat die Analyse der qualitativen Ergebnisse durchgeführt und den Schlussbericht mitverfasst.
Die Herausforderungen der Angehörigen
Die befragten Angehörigen beschreiben sich selbst als «mitbetroffen» in der Betreuung und Behandlung von Menschen mit psychischen Erkrankungen. In ihrem Alltag stellen sie sich folgende Fragen: Wie kann ich bestmöglich unterstützen und mit der Situation umgehen? An wen kann ich mich bei Fragen und in überfordernden Momenten wenden? Die Angehörigen geraten in Situationen, in denen sie nicht mehr weiterwissen und keine Lösungsperspektive mehr sehen. Dies löst negative Gefühle wie Hilflosigkeit und Überforderung aus und sie fühlen sich nicht gesehen und gehört. Zudem führen intrinsische und extrinsische Erwartungen zu einem Rollenkonflikt. Die bisherige Zusammenarbeit mit Fachpersonen wurde zum Teil als nicht hilfreich empfunden, es fehlten u. a. ausreichende Gespräche und Angebote für sie als Angehörige. Auch die Möglichkeit der (kostenlosen) Angehörigenberatung war ihnen teilweise nicht bekannt. Finanzielle Hürden hielten manche davon ab, Unterstützung für ihre Fragen und Informationsbedürfnisse in Anspruch zu nehmen. Es fehlte an Hilfeleistungen, sei es in Form von Hilfsangeboten und Gesprächen mit Fachleuten oder der Finanzierung von Angeboten durch die Krankenkassen. Die Angehörigen wünschen sich generell mehr Informationen, insbesondere über ihre Rechte, den Umgang mit den Betroffenen und der Erkrankung sowie Aufklärung über ihre Rolle im Geschehen.
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Wie können Fachpersonen Angehörige begleiten?
Das zentrale Problem der Angehörigen ist der Mangel an Information und Kommunikation zwischen Fachpersonen und Angehörigen (Manike & Kraft, 2020). Deshalb ist es wichtig, die Angehörigen als «Mitbetroffene» von Anfang an in das Geschehen rund um die Betroffenen einzubeziehen. Angehörige sollten von Fachpersonen und Behandlungsteams «gesehen» und mit ihren Sorgen und Fragen ernst genommen werden. Auch der Hinweis auf spezialisierte Angebote wie die Angehörigenberatung kann Angehörigen helfen, ihre Gefühle wahrzunehmen und zu akzeptieren. Angehörige berichten, dass sie nach den Beratungen wieder Mut, Zuversicht und Hoffnung schöpften und Selbstzweifel und Schuldgefühle abnahmen. Die Angehörigenbefragung hat eine grosse Not und einen ungedeckten Bedarf an Hilfsangeboten für Angehörige psychisch kranker Menschen aufgezeigt. Das Bewusstsein für deren Bedürfnisse muss weiter geschärft werden, damit Angehörigenarbeit Teil einer modernen (psychiatrischen) Behandlung wird. Denn gut informierte und unterstützte Angehörige sind kompetente Partner*innen im Genesungsprozess der Betroffenen. Referenzen – Manike, K. & Kraft, E. (2020). Bedürfnisse von Angehörigen mit psychisch erkrankten suizidalen Personen in ihrem Umfeld. Empfehlungen zur Unterstützung der Angehörigen für Kliniken und Fachpersonen im Bereich der stationären Psychiatrie. – Otto, U., Leu, A., Bischofberger, I., Gerlich, R., Riguzzi, M., Jans, C. & Golder, L. (2019). Bedürfnisse und Bedarf von betreuenden Angehörigen nach Unterstützung und Entlastung – eine Bevölkerungsbefragung. Schlussbericht des Forschungsprojekts G01a des Förderprogramms Entlastungsangebote für betreuende Angehörige 2017–2020. Im Auftrag des Bundesamts für Gesundheit (BAG), Bern. Zürich.
Autorinnen: Dr. Anna Hegedüs Tenure Track Position Stiftung Lindenhof Fachbereich Pflege anna.hegedues@bfh.ch Melina Hasler Wissenschaftliche Assistentin Fachbereich Pflege melina.hasler@bfh.ch
Mehr Informationen
Die ausführlichen Ergebnisse der Umfrage sind online zugänglich.
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«Angehörigen ist auch
Tobias Furrer ist Leiter Fachstelle Angehörigenberatung an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (PUK) und bietet Angehörigen von psychisch erkrankten Menschen Hilfe in Form von Beratungsgesprächen. Seine Arbeit soll dazu beitragen, dass Angehörige nicht selbst zu Betroffenen werden.
Tobias Furrer, für wen gibt es die Angehörigenberatung? Unser Angebot richtet sich nicht nur an Familienangehörige, sondern an alle Menschen, die in irgendeiner Form emotional mit der erkrankten Person verbunden sind. Dies können Personen aus dem Freundeskreis, Nachbar*innen oder Arbeitgebende sein. Wichtig ist: Unser Angebot ist kostenlos und steht allen Angehörigen offen, unabhängig davon, ob die erkrankte Person bei uns hospitalisiert ist. So handhaben es alle Mitglieder des Netzwerks Angehörigenarbeit Psychiatrie (NAP). Wer nutzt Ihr Angebot? Die Ratsuchenden sind sehr verschieden. Darunter befinden sich auch Kinder ab Kindergartenalter in Begleitung ihrer Bezugsperson oder Menschen, die in New York leben und in der Schweiz für erkrankte Angehörige sorgen. Die Mehrheit sind Angehörige von chronisch Erkrankten, wie Menschen mit Schizophrenien oder Depressionen. Aktuell nutzen mehr Frauen als Männer unser Angebot. Ich vermute, dass dies kulturelle Gründe hat. Man weiss, dass es Frauen leichter fällt, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
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nberatung
Präventionsarbeit» Was erwartet die Angehörigen bei einem Beratungsgespräch? Die Beratung findet abgekoppelt von der psychisch erkrankten Person statt, teilweise sogar anonym. Als Berater kenne ich die betroffene Person nicht und lese auch keine Krankenakten, so braucht es kein Einverständnis der Betroffenen. Am Anfang lassen wir die Angehörigen ihre Geschichte erzählen. Viele erleben bei uns zum ersten Mal, dass ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen. Das Beratungsangebot bietet den Angehörigen einen sicheren Raum, in dem sie ihre Sichtweise schildern und Gedanken laut aussprechen können, ohne Rücksicht auf die Bedürfnisse oder Gefühle des psychisch erkrankten Menschen. Wie meinen Sie das? In Familiengesprächen – ein wichtiger Teil der Angehörigenarbeit – ist die betroffene Person dabei und der Fokus liegt auf dem Genesungsprozess. Hier können Angehörige keine heiklen Fragen stellen wie «Sollte ich mich für mein psychisches Wohl von meiner Partnerin distanzieren?». Bei mir kann der Angehörige diesen Gedanken aussprechen und sachlich Pro und Kontra abwägen. Wichtig: Die Angehörigenberatung ist eine Ergänzung zur Angehörigenarbeit, die auf der Station stattfindet. Das eine ersetzt das andere nicht. Was brauchen die Angehörigen in einem zweiten Schritt von Ihnen? Die einen haben vor allem administrative Fragen, andere möchten lernen, wie sie mit der Erkrankung umgehen und Lebensqualität zurückgewinnen können. Wir erarbeiten Schritte, wie die Angehörigen den Belastungen begegnen können. Diese sind nicht nur psychischer Natur, sondern äussern sich auch somatisch z. B. durch Schlaflosigkeit oder Verdauungsbeschwerden. Dann gibt es ökonomische Faktoren wie die Übernahme von Kosten oder die Notwendigkeit, für die Betreuung das eigene Pensum zu reduzieren. Nicht zu unterschätzen sind auch soziale Belastungen wie Stigmatisierung in der Gesellschaft oder Schuldzuweisungen. Angehörige lernen mit uns, den Konflikt zwischen Fürsorge und Selbstfürsorge zu bewältigen.
Tobias Furrer berät Angehörige von psychisch erkrankten Menschen und stellt ihre Bedürfnisse in den Mittelpunkt. (Bild: BFH)
Warum ist Angehörigenberatung und Angehörigenarbeit in der Psychiatrie so wichtig? Angehörige haben durch ihre Belastung ein deutlich erhöhtes Risiko, selbst psychisch zu erkranken. Wir möchten sie so begleiten, dass sie nicht zu Patient*innen werden. Insofern ist Angehörigenberatung auch Präventionsarbeit. Auch helfen wir den Angehörigen, die eigene Rolle im Umgang mit der erkrankten Person bewusst zu gestalten, damit sie den Genesungsprozess als wichtige Netzwerkpartner unterstützen und den Therapieerfolg im Alltag verlängern können. Wie können Gesundheitsfachperson auf der Station die Angehörigen begleiten? Indem sie eine Willkommenskultur für die Angehörigen schaffen, die bereits beim Klinikeintritt beginnt. Bis dahin waren die Angehörigen oft schon wochenoder monatelang stark belastet, der Eintritt ist für sie eine Entlastung, aber auch verbunden mit Angst, Selbstvorwürfen und Unsicherheit. Eine Fachperson kann diesen Gefühlen begegnen, indem sie signalisiert: «Es ist okay, wir übernehmen jetzt». Wegen der Schweigepflicht dürfen Gesundheitsfachpersonen ohne Vollmacht nicht viel sagen, aber sie dürfen zuhören. Und Gehörtwerden ist ein zentrales Bedürfnis der Angehörigen. Auch allgemeine Auskünfte helfen bereits: Wie funktioniert die Therapie, was bedeuten die Fremdwörter, welche Bücher kann ich lesen? Ich wünsche mir, dass man bei der Austrittsplanung an die Angehörigen denkt und sie miteinbezieht. Davon profitieren auch die Betroffenen. Interview: Nicole Schaffner, Kommunikation Departement Gesundheit
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Im Schatten des Gesundheitssystems:
Obdachlose und Sans-Papiers Psychische Belastungen sind bei schwer erreichbaren Gruppen wie Obdachlosen und Sans-Papiers verbreitet. Forscherinnen der Berner Fachhochschule haben untersucht, wie die Betroffenen psychische Belastungen erleben, wie sie damit umgehen und wie sie den Zugang zur Gesundheitsversorgung wahrnehmen.
Das niederschwellige Angebot einer Essenausgabe ist allen Personen unabhängig von ihrem Aufenthaltsstatus zugänglich. (Bild: Adobe Stock)
In der Schweiz leben rund 2200 obdachlose Menschen und schätzungsweise 80 000 bis 300 000 Personen ohne Aufenthaltsberechtigung, sogenannte Sans-Papiers. Sie leben oft in prekären Verhältnissen mitten in den Städten. Trotzdem stehen sie selten im Fokus der Forschung. Das SNF-Projekt «ReachOut» wollte dies ändern: Forscherinnen der Berner Fachhochschule untersuchten die Bedürfnisse und die Gesundheitskompetenzen von Obdachlosen und Sans-Papiers in Zu-
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sammenhang mit psychischer Gesundheit sowie ihre Erfahrungen mit der Gesundheitsversorgung. Basis war ein sechsmonatiger Feldaufenthalt in einem Treffpunkt für Obdachlose und Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen sowie in einer Lebensmittelausgabe für Armutsbetroffene in Zürich. Zusätzliche Einblicke in den Lebenskontext der Zielgruppe gewannen die Forscherinnen beispielsweise auf Patrouillen mit aufsuchenden Sozialarbeiter*innen.
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Prekäre Lebensbedingungen und ständige Angst
Die Untersuchungen haben gezeigt, dass unterschiedliche Wege in die Obdachlosigkeit führen: Einige Betroffene suchten eine Art «Freiraum», indem sie sich bewusst aus der Gesellschaft und den Versorgungssystemen zurückzogen – oft aufgrund negativer Erfahrungen, die sie dort gemacht hatten. Andere wiederum wurden beispielsweise durch Wohnungsverlust obdachlos. Die meisten Befragten schilderten prekäre Lebensbedingungen: Sie sind der Witterung ausgesetzt, leben in ausgeprägter Armut, sind mit Gewalt oder Diebstahl konfrontiert und müssen täglich nach Möglichkeiten suchen, ihre Grundbedürfnisse zu decken. Dies begünstigt eine sogenannte Frühalterung. Der «Ausstieg» aus dieser Lebenssituation wird durch verschiedene strukturelle Hürden erschwert oder verunmöglicht. Der zuvor gesuchte «Freiraum» kann so zum «Zwangsraum» werden. Sans-Papiers bezeichnen sich selbst als «die Unsichtbaren mittendrin», denn obwohl sie oft einer Arbeit nachgehen und zentral leben, führen sie ein Leben im Verborgenen. Ihr Alltag ist geprägt von der ständigen Angst vor Personenkontrollen und der drohenden Ausschaffung. Dies beeinflusst, wie und wo sie sich im öffentlichen Raum bewegen, eine gesellschaftliche Teilhabe bleibt ihnen häufig verwehrt. Auch Sans-Papiers beschreiben ihre Handlungsmöglichkeiten in Bezug auf Arbeit, Wohnen oder genereller Perspektivenentwicklung als stark limitiert. Sie bewegen sich weitgehend in Gemeinschaften, die z. B. auf gemeinsamen Sprachen, Herkunfts- und aktuellen Lebenskontexten basieren.
Psychische Gesundheit und Gesundheitskompetenz
Teilnehmende Beobachtung und Gespräche mit obdachlosen Menschen zeigten, dass psychische Belastungen wie psychotisches Erleben, Angstsymptome, Agitation / Nervosität oder kognitive Beeinträchtigungen weit verbreitet sind. Der subjektive Leidensdruck kam in Gesprächen, im Verhalten und in der Interaktion mit anderen deutlich zum Ausdruck. Die Betroffenen schätzen ihre psychische Gesundheit häufig anders ein als die Fachpersonen. Psychiatrische Diagnosen werden als «Stempel» erlebt, die Betroffenen fühlen sich in ihrem subjektiven Erleben und ihren Erklärungsmodellen nicht ernst genommen. Dies begünstigt ein generelles Misstrauen und Rückzugsverhalten. Gleichzeitig bedeuten die soziale Abgrenzung und andere kreative und unkonventionelle Aktivitäten förderliche Gesundheitsstrategien. Die eigene Unabhängigkeit zu bewahren, ist für sie dabei stets zentral. Sans-Papiers beschreiben omnipräsente psychische Belastungen wie Ängste, ein generell fehlendes Sicherheitsempfinden, Depressionen oder Einsamkeit – oft in Kombination. Darüber hinaus berichten sie von erlebten Traumatisierungen, deren Symptomatik durch er-
schwerte strukturelle Bedingungen wie fehlende Aufenthaltsbewilligung oder eingeschränkte Rechte verstärkt wird. All diese Faktoren führen zu einem chronischen Stresserleben, das sich auch in körperlichen Symptomen manifestiert. Aufgrund der stetigen Angst, entdeckt zu werden oder infolge mangelnder Informationen vermeiden sie Kontakte ausserhalb bekannter Netzwerke, suchen Rat im persönlichen Umfeld oder behandeln sich mit eigenen Hausapotheken. Religion, Spiritualität und Glaube erweisen sich als wichtige Stütze im Umgang mit bestehenden psychischen Belastungen.
Niederschwellige Angebote erwünscht
Durch die Untersuchung wurde deutlich, dass beide Gruppen Zugangshürden zur Gesundheitsversorgung erleben und sie selbst zielgruppenspezifische Angebote häufig nicht, oder erst wenn es unvermeidbar wird, beanspruchen. Dabei werden hohe Gesundheitsrisiken eingegangen. «Professionelle» Unterstützung suchen beide Zielgruppen meist ausserhalb der Gesundheitsversorgung. Einige wünschen sich jedoch niederschwellig zugängliche, kontinuierliche und alltagsnahe Gespräche mit Gesundheitsfachpersonen. Die Ergebnisse von «ReachOut» wurden in Workshops u. a. mit psychiatrischen Pflegefachpersonen und Sozialarbeiter*innen diskutiert. Diese zeigen ein Interesse an verbesserten Versorgungszugängen und Angebotsentwicklungen, z. B. für eine gezieltere aufsuchende Begleitung von Betroffenen. Während des Projekts zeigte sich, dass die Situation älterer Personen in prekären Wohnsituationen die Unterstützungsangebote zunehmend vor Herausforderungen stellt. Eine Anschubfinanzierung der BFH im Rahmen des Themenfelds «Caring Society» ermöglicht nun die Ausarbeitung des Folgeprojekts «CONNECT». In diesem Projekt sollen die Bedürfnisse der älteren Zielgruppe hinsichtlich psychischer Gesundheit und Wohnen exploriert und später partizipativ Lösungsansätze ausgearbeitet werden.
Sabrina Gröble Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachbereich Pflege
Sabrina Laimbacher Wissenschaftliche Mitarbeiterin Fachbereich Pflege
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Wie Gesundheitsfachpersonen
psychisch gesund bleiben
Um mit der Not ihrer Patient*innen und Angehörigen umzugehen, ohne selbst negative psychische Folgen zu erleiden, brauchen die Gesundheitsfachpersonen Resilienz. Warum sie wichtig ist und wie sie diese entwickeln können, erklärt Karin McEvoy im Interview.
Karin McEvoy, warum brauchen Gesundheitsfachpersonen Resilienz? Resilienz ist die Fähigkeit, widerstandsfähig gegenüber Belastungen zu sein und gestärkt aus schwierigen Situationen hervorzugehen. Resiliente Gesundheitsfachpersonen sind somit in der Lage, sich an Veränderungen anzupassen, Stress zu bewältigen und ihre psychische Gesundheit aufrechtzuerhalten. Wenn ich mir meiner psychischen Disposition bewusst bin, kann ich aktiv damit arbeiten, um resilient zu bleiben. Viele Fachpersonen sind sensibel und reagieren feinfühlig auf die Emotionen anderer Menschen, was eine wichtige Kompetenz der Genesungsbegleitung ist. Wenn die Fachperson aufgrund fehlender Resilienz bereits den Grossteil ihrer mentalen Ressourcen für die eigene Emotionsregulation einsetzt, bleibt am Ende wenig für die Genesungsbegleitung der Patient*innen übrig.
und Mitarbeitenden zu sein. Die Unterdrückung der Emotionen erschwert auch die berufliche Rollenentwicklung, die Qualität der Arbeit leidet.
Sie empfehlen den Gesundheitsfachpersonen Kurse für die Persönlichkeitsentwicklung, um Resilienz zu entwickeln. Warum? Mit bewusster Wahrnehmung und geeigneten Techniken kann das genannte Szenario verhindert und die Stärke der Empfindsamkeit ausgeschöpft werden. Wenn die Gesundheitsfachperson selbst Traumata erlebt hat, ohne sich dessen bewusst zu sein, wendet sie viel Energie dafür auf, die traumatischen Erlebnisse zu verdrängen. So ist es schwierig, in Verbindung mit den Patient*innen
Die BFH bietet Weiterbildungen für die Persönlichkeitsentwicklung an. Wie fallen die Reaktionen der Teilnehmenden aus? Wir erhalten viele positive Rückmeldungen. Eine Studentin, die den Fachkurs «Mindfulness – Achtsamkeit als Selbstmanagementstrategie» besucht hat, konnte in ihrer Funktion als Pflegeexpertin in der Anästhesie stark vom Thema Co-Regulation profitieren. Viele Teilnehmende berichten, dass sie durch den Besuch der Weiterbildung empathischer auf ihre Patient*innen und Mitarbeitenden eingehen, die Beziehungsqualität optimieren und eine bessere Pflege anbieten können.
Zur Person
Karin McEvoy ist Studienleiterin in der Weiterbildung am Departement Gesundheit und begeistert sich für individuelle Entwicklungsprozesse von Einzelpersonen, Teams und Organisationen.
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Warum sollten sich insbesondere Pflegefachpersonen der Psychiatrie mit ihrer eigenen psychischen Disposition befassen? Die psychiatrische Pflege ist in hohem Masse von Beziehungsarbeit geprägt. Auch im somatischen Bereich machen die «technischen» Arbeiten nicht den grössten Teil aus. Es geht vielmehr um die wiederholte Einschätzung des Gesundheitszustandes und der Bedürfnisse der Patient*innen. Tritt die Fachperson mit den Patient*innen in eine Beziehung, nimmt sie diese besser wahr. Noch besser gelingt ihr das, wenn sie selbst in einem entspannten Zustand und in Verbindung mit den eigenen Bedürfnissen ist.
Wird die Persönlichkeitsentwicklung auch auf Führungsebene als Erfolgsfaktor wahrgenommen? Gesundheitsfachpersonen erwerben in ihrem Studium viel Fachwissen. Sie stellen auch fest, dass als Führungsperson zusätzliche Fähigkeiten gefordert sind, die nur im Ansatz in ihrer Ausbildung thematisiert oder zu diesem Zeitpunkt verstanden worden sind. Hier schlies-
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Weiterbildungsempfehlungen zur Persönlichkeitsentwicklung CAS Akut- und Notfallsituationen «Hier lernen Sie, Patient*innen nach traumatischen Unfallsituationen zu begleiten und eine Anamnese in hektischen Situationen durchzuführen. Sie entwickeln praktische Techniken im Umgang mit Stress und Krisen.» Karin McEvoy ist spezialisiert auf Entwicklungsprozesse im Gesundheitswesen. (Bild: look-at-me.ch Fotografie)
sen wir mit unseren Managementweiterbildungen in Persönlichkeitsentwicklung und Leadership, teilweise in Kooperation mit H+ und dem Departement Soziale Arbeit, eine Lücke. Gerade Führungspersonen sind aufgrund des Fachkräftemangels daran interessiert, ihre Mitarbeitenden langfristig im Job zu halten. Das ist einfacher, wenn die Mitarbeitenden psychisch gesund und belastbar bleiben. Es gibt Führungspersonen, die ihren Mitarbeitenden deshalb Weiterbildungen ermöglichen, um deren Resilienz zu erhöhen, was sich wiederum positiv auf das Team auswirken kann. Als Führungsperson ist es ebenso wichtig, an der eigenen Resilienz zu arbeiten, sich selbst besser kennenzulernen, um bewusster auf Umweltfaktoren zu reagieren und kompetent als Leaderin aufzutreten. Wir bieten ebenfalls individualisierte Team- oder Institutionsweiterbildungen vor Ort an und reagieren damit auf den Bedarf nach konzentriertem Ressourceneinsatz ohne lange Reisezeiten oder fachliche Redundanzen, welche im Betrieb bereits etabliert sind. Interview: Isabelle Stupnicki, Kommunikation Departement Gesundheit
Fachkurs Leadership bei Aggression und Gewalt «Führungspersonen lernen, wie sie Aggression und Gewalt in ihrem Alltag begegnen können und üben, kompetent zu kommunizieren.» Fachkurs Mindfulness – Achtsamkeit als Selbstmanagementstrategie «Die Studierenden erlernen Strategien, um in anspruchsvollen Situationen ihre mentale Souveränität beizubehalten. Weiter können sie nach dem Kurs Drittpersonen zur Achtsamkeit anleiten.» Fachkurs Führen und geführt werden – erlebt und gelebt «In diesem praktischen Leadershiptraining steht die unmittelbare und haptische Erfahrung des Führens und Geführtwerdens im Mittelpunkt. Die Teilnehmenden erleben mehrdimensional Führung mit Selbsterfahrung anhand von Pferdekontakt und Chorsingen und verbinden dies mit der persönlichen Erfahrungswelt.» Weiterbildungen Führung und Management im Gesundheitswesen «Wir bieten ein vielfältiges und praxisorientiertes Angebot an bis hin zum MAS Integrative Führung im Gesundheits- und Sozialwesen.»
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News
Schwerpunkt Interprofessionalität: Neues Kompetenzzentrum Am 1. Februar 2023 gründete die Berner Fachhochschule das Kompetenzzentrum Interprofessionalität. Ziel des interdisziplinären Teams ist es, die interprofessionelle Praxis im Gesundheitswesen durch wissenschaftlich fundierte Lehre und Forschung weiterzuentwickeln. Leiterin Prof. Dr. Mirjam Körner will in der Forschung den Fokus auf die organisationsbezogene Versorgung legen und damit schweizweit einen neuen Forschungszweig schaffen. «Die Interprofessionalität ist ein Kernelement der Gesundheitsversorgung und notwendig für ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem», sagt sie im Interview. bfh.ch/gesundheit/interview-koerner
Prof. Dr. Mirjam Körner
BFH zieht in Campus Bildung Gesundheit in Basel ein Am 8. September 2023 war es so weit: Der Campus Bildung Gesundheit im Spengler Park in Münchenstein (BL) wurde offiziell eröffnet. Die BFH ist eine der vier Nutzerinnen des neuen Bildungszentrums und bietet die beiden Bachelor-Studiengänge Physiotherapie und Pflege an. Der Campus Bildung Gesundheit ist ein Vorzeigeprojekt: Er vereint die berufliche Grundbildung, die höhere Berufsbildung und die Fachhochschulbildung im Gesundheitswesen unter einem Dach.
Patricia Frei (links) und Lynn Huber.
Geburtsvorbereitungskurse für Migrantinnen
Zahlreiche Mitglieder der vier Organisationen und weitere Gäste trafen sich zur Eröffnung des Campus Bildung Gesundheit.
Vor zwei Jahren haben Patricia Frei und Lynn Huber ein E-Learning-Tool für Hebammen entwickelt. Das «Midwife Refugee Kit» hilft Hebammen bei der Betreuung von asylsuchenden Frauen. Nun arbeiten die beiden Hebammen an einem neuen Tool: Das «Migrant Birth Kit» wird ein App-basierter Geburtsvorbereitungskurs für asylsuchende sowie migrantische Familien in der Schweiz. Ziel ist es, den Familien den Zugang zum Schweizer Gesundheitswesen zu erleichtern und sie mit vielseitigem Wissen rund um Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett zu versorgen. bfh.ch/gesundheit/migrant-birth-kit
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News
Spontaner Austausch an der Living Library: Wie fühlt sich Care-Arbeit an?
Living Library: Care-Arbeit sichtbar machen Care-Arbeit ist allgegenwärtig und essenziell, gleichzeitig aber oft unsichtbar und unbezahlt. Um auf das Thema aufmerksam zu machen, hat ein interdisziplinäres Team der Berner Fachhochschule betroffene Menschen gefragt: Wie fühlt es sich an, wenn man auf Care-Arbeit angewiesen ist? An einer «Living Library» anlässlich des Feministischen Streiks 2023 in Bern berichteten Menschen über ihre Erfahrungen mit Care-Arbeit. Die Gespräche der «Living Library» wurden aufgezeichnet und sind für Interessierte online zugänglich.
Fachbuch über Personzentrierung in der Pflege Wie können die Patient*innen wieder in den Mittelpunkt der gesundheitlichen Versorgung gestellt werden? Dieser Frage widmet sich das neu erschienene Fachbuch «Personzentrierte Pflegepraxis – Grundlagen für Praxisentwicklung, Forschung und Lehre». Prof. Dr. Christoph von Dach, Dozent im Master-Studiengang Pflege der Berner Fachhochschule, hat das Werk zusammen mit Hanna Meyer und mehreren Co-Autor*innen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich verfasst. Sie zeigen auf, wie das Konzept der Personzentrierung entwickelt, vermittelt und beforscht werden kann.
bfh.ch/gesundheit/living-library
Vier erfolgreiche Promotionen
Erfolgreich promoviert (im Uhrzeigersinn): Karin Ritschard Ugi, Kathrin Thormann, Julia Eisenblätter und Angela Blasimann.
In den vergangenen Monaten haben vier Mitarbeitende des Departements Gesundheit der Berner Fachhochschule promoviert. Karin Ritschard Ugi und Kathrin Thormann vom Fachbereich Pflege haben ihr Doktorat in Nursing Practice (DNP) an der School of Nursing der University of North Carolina (USA) abgeschlossen. Kathrin Thormann evaluierte in ihrer Doktorarbeit den Effekt von Behandlungsplänen für erwachsene Patient*innen mit atopischer Dermatitis. Karin Ritschard Ugi untersuchte die Rahmenbedingungen und Inhalte der klinischen Ausbildung in der Vertiefung «Nurse Practitioner» im Masterstudiengang Pflege. Julia Eisenblätter vom Fachbereich Ernährung und Diätetik hat ihr PhD an der University of Plymouth (GB) abgeschlossen. Ihr Forschungsschwerpunkt war die Ernährungsberatung von Kindern mit Nahrungsmittelallergien. Physiotherapeutin Angela Blasimann hat an der University of Antwerp (BEL) doktoriert. Für ihre Dissertation forschte sie über die neuromuskuläre Kontrolle nach Rupturen des vorderen Kreuzbandes. Herzlichen Glückwunsch an die vier erfolgreichen Kolleginnen.
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News
Sturz- und Dekubitusraten: Ergebnisse lassen aufhorchen Seit 2011 analysiert die BFH im Auftrag des Nationalen Vereins für Qualitätsentwicklung in Spitälern und Kliniken (ANQ) die Sturz- und Dekubitusraten in den Schweizer Spitälern. Nach einer coronabedingten Pause von zwei Jahren fand die Messung 2022 erneut statt. Die Resultate zeigen deutliches Verbesserungspotenzial: Noch nie seit Messbeginn waren die Raten für Stürze und Dekubitus Schweregrad ≥ 2 höher. bfh.ch/gesundheit/anq-news
Fachbuch «Menschenrechte in der Psychiatrie» Das neu erschienene Fachbuch «Menschenrechte in der Psychiatrie: Prinzipien und Perspektiven einer Unterstützung ohne Zwang» aus der Feder von Prof. Dr. Dirk Richter, Leiter des Innovationsfelds Psychische Gesundheit und Psychiatrische Versorgung der BFH, begründet unter anderem, weshalb psychiatrische Zwangsmassnahmen nicht mehr zu legitimieren sind. Der Verzicht auf Zwang in der Psychiatrie ist jedoch mit grossen Hürden und Dilemmas verbunden: Auch diese werden in Richters Fachbuch diskutiert.
Tarifkürzung: Wie geht es weiter mit der Physiotherapie? Seit September macht es die Runde: Der Bundesrat will die Tarife für physiotherapeutische Leistungen per 1. Januar 2025 senken. Ein Vorhaben, das auf Widerstand stösst: Im November 2023 haben die Physiotherapeut*innen und Physioswiss eine Petition eingereicht. Sie befürchten, dass die Massnahme den Fachkräftemangel verschärft und sich negativ auf das gesamte Gesundheitssystem auswirkt. Physiotherapeutin und BFH-Dozentin Nicole Lutz sagt: «Chirurgische Eingriffe minimieren, unnötige Therapien vermeiden, Kosten sparen: Das ist ein wichtiges Ziel der Physiotherapie.» Ein Ziel, das unter den verschärften Bedingungen leiden würde. Weitere Einschätzungen von BFH-Dozent und Gesundheitsökonom Tobias Müller sowie BFH-Studierenden finden Sie unter dem Link. bfh.ch/gesundheit/physio-tarif
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News
Ozempic: Eine neue Diabetestherapie gibt zu reden In den sozialen Medien wird das Medikament Ozempic® als «Abnehmspritze» gehypt. Welche Bedeutung das Medikament für Menschen mit Diabetes und Adipositas und deren Therapie hat, geht in der Diskussion unter. BFH-Dozentin und Ernährungsfachperson Lucia Winzap sagt im Interview: «Die dringende und komplexe Behandlung der chronischen Erkrankung Adipositas im medizinischen Sinne wird verzerrt. Gesundheitsfachleute müssen oft korrigierend eingreifen, indem sie die Berichterstattung gemeinsam prüfen und auf Alternativen hinweisen.» bfh.ch/gesundheit/semaglutid
Neuer MSc-Studiengang in Healthcare Leadership Stress am Arbeitsplatz und schlechte Rahmenbedingungen sind Ursachen für den Fachkräftemangel im Gesundheitswesen, die im Zusammenhang mit der Pflegeinitiative breit diskutiert werden. Eine Studie der BFH hat bereits 2021 gezeigt, dass Führungskräfte eine zentrale Rolle spielen, wenn es darum geht, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Gesundheitsfachpersonen verbleiben wollen. Nun lanciert die BFH den Master-Studiengang Healthcare Leadership mit Start im Herbst 2024. bfh.ch/msc-healthcare-leadership
Studium an der BFH: Infoveranstaltungen Master of Science in Ernährung und Diätetik 18. Januar 2024, 20. Februar 2024, 21. März 2024, 23. Mai 2024 18 bis 19 Uhr Online bfh.ch/msc-ernaehrung
Master of Science Hebamme
10. Januar 2024, 21. Februar 2024, 20. März 2024, 25. April 2024 17.30 bis 18.30 Uhr Online bfh.ch/msc-hebamme
Master of Science in Pflege
18. Januar 2024 (Online), 7. März 2024 (Online), 4. April 2024 (vor Ort), 9. Mai 2024 (Online) 17.15 bis 18.15 Uhr Online oder vor Ort bfh.ch/msc-pflege
Master of Science in Physiotherapie (Bild: Adobe Stock)
18. Dezember 2023, 29. Januar 2024, 7. März 2024, 15. April 2024 19 bis 20 Uhr Online bfh.ch/msc-physiotherapie
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