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Nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir
Man sollte sich von der Montessori-Pädagogik nicht das pädagogische Heil versprechen, lautet die Kritik. Denn: Vor allem gute Lehrpersonen machen den Erfolg einer Schule aus, weniger die pädagogischen Methoden.
Die BAZ sprach mit Gianluigi Di Gennaro, langjähriger Italienischlehrer und Leiter des „Netzwerkes Nachhaltiger Schulen Meran“.
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„Den Kindern und Jugendlichen wird die Lust am Lernen in der Schule ausgetrieben.“ So lautet die Kritik am öffentlichen Schulsystem. Zurecht?
Gianluigi Di Gennaro: Nein. Ich glaube nicht, dass man das so allgemein sagen und vereinfachen kann. Die heutige öffentliche Schule versucht, auch dank der neuen Technologien, mit der Zeit Schritt zu halten und sich von der „alten Schule“ zu entfernen, in der der Schüler oft unkritisch gelernt hat und der frontale Unterricht im Mittelpunkt des Lernprozesses gestanden ist. Heute konzentriert sich die öffentliche Schule stark auf die Autonomie des Lernenden, die Differenzierung, die Inklusion, das Kind wird nicht nur in den Mittelpunkt des Lernprozesses gestellt, sondern auch mit der Realität außerhalb der Schule konfrontiert.
Die Schriften der Maria Montessori sind über 100 Jahre alt. In dieser Zeit hat sich ja viel verändert in unserer Welt. Wo sehen Sie den größten Reformbedarf in unserem Schulsystem?
In einer Welt, in der sich alles sehr schnell ändert und in der, was vor fünf Jahren relevant war, heute überholt ist, fällt es sehr schwer zu sagen, in welche Richtung die Schule gehen soll. Sie muss auf jeden Fall soziale Kompetenzen vermitteln, Grundwerte für das Zusammenleben. Kritisches Denken, Respekt für andere, Toleranz, Sensibilität für Nachhaltigkeit sind zweifellos Ziele, die die Schule von heute im Auge behalten muss. Deshalb habe ich mich über die Wiedereinführung des Lern- bereichs „Gesellschaftliche Bildung“ gefreut, ein Fach, das so viele Bereiche umfasst: von der Erziehung zur Legalität bis zum Umweltschutz, von der Entwicklung des europäischen Bürgers bis zur Achtung der kulturellen Unterschiede. Die Schule muss sich auch mit dem Thema „Künstliche Intelligenz“ kritisch auseinandersetzen, um zu vermeiden, dass diese falsch eingesetzt wird und um die Möglichkeiten, die sich dadurch eröffnen, für das Lernen zu nutzen. Viele meinen, dass in der heutigen Schule Lerninhalte gelehrt und gelernt werden, die später nie mehr gebraucht werden. Ich bin aber überzeugt, dass Philosophie, Geschichte, Logik, Kunst usw. für die Lösung unserer Probleme in Gegenwart und Zukunft mehr denn je gebraucht werden.
Wie denken Sie über den Verzicht auf Schulnoten, Hausaufgaben, auf Vorgaben durch die Lehrperson, wie es die Reformpädagogik handhabt?
Ich bin diesbezüglich sehr skeptisch. In der Lebensrealität außerhalb der Schule ist man mit ständigem Feedback konfrontiert, mit Vorgaben, Regeln, mit Erfolgen und Misserfolgen. Die Schule muss die Lernenden auf die Welt von da draußen vorbereiten. Eine Note muss nicht als eine Strafe oder eine Belohnung verstanden werden, sondern als Feedback für die geleistete Arbeit. Eine negative Note ist nicht eine Niederlage, sondern eine einfache Botschaft an den Schüler, dass bei der Vorbereitung etwas schiefgelaufen ist. Es ist natürlich Aufgabe der Lehrperson, negative Noten mit den Schülern zu besprechen, ohne dass sie zu einem Stigma werden. Was die Hausaufgabe anbelangt, dient diese der Festigung des Erlernten und soll sinnvoll und mäßig sein. In Zeiten von Chat GPT und Photomath muss sich die Lehrperson natürlich überlegen, welche Hausaufgaben sinnvoll sind.
Das Kind steht im Mittelpunkt, nicht mehr der Gegenstand des Unterrichts, das Kind mit seinen Bedürfnissen, seiner unendlichen Kreativität, seinen spontanen Lernbedürfnissen. Was ist daran falsch?
Ich stimme vielen Ansätzen der Montessoripädagogik zu, wie der Inklusion, dem selbstständigen Lernen, der Kreativität usw. Ich sehe jedoch eine große Kluft zwischen der Montessori-Schule und der realen Welt. Die Montessori-Schule verzichtet auf Regeln, die für die traditionelle Schule kennzeichnend sind, wie die Einhaltung der Abgabezeit einer Aufga- be, die Durchführung einer bestimmten Tätigkeit, die gezielten Leistungskontrollen. In der realen Welt hingegen wird ständig verlangt, sich dem Rhythmus der Gesellschaft anzupassen und auch Aufgaben auszuführen, die man nicht mag. Und genau da gerät die Montessori-Pädagogik in eine Sackgasse. Besonders in früheren Lebensjahren braucht das Kind Führung und soll lernen, sich in den verschiedenen Situationen zurecht zu finden; auch Aufgaben erledigen, die es nicht so mag, die aber wichtig für die Entwicklung von Fertigkeiten und Kompetenzen sind. Es ist klar, dass der Lernprozess behindert wird, wenn ein Schüler nur das übt, was er mag. Früher oder später werden die fehlenden Kompetenzen ersichtlich. Aufgabe der Schule ist es, alle Mittel zur Verfügung zu stellen, die es dem Kind ermöglichen, persönliche Schwierigkeiten zu überwinden. Ich rede von einer inklusiven Schule, welche die Bedürfnisse des Schülers erkennt und respektiert, seine Selbstständigkeit fördert, seine Stärken unterstützt, ihm Mittel gibt, die Anforderungen der heutigen Welt zu bewältigen.
Wird es in Zeiten von Google den Lehrer, die Lehrerin denn noch brauchen?
Mehr denn je! Die Aufgabe der Lehrperson ist und bleibt in erster Linie kritisches Denken bei den Schülern zu entwickeln und hierbei können Google, Chat GPT und alle anderen Formen künstlicher Intelligenz den Lehrer niemals ersetzen. Natürlich muss jede Lehrperson mit der Zeit gehen und mit den neuen Technologien vertraut sein, gerade um sie zu beherrschen und sie in den Prozess der Entwicklung des kritischen Denkens einzubeziehen.