Das geschenkte Herz

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Das geschenkte Herz von Hannelore Schnapp Der Duft seiner Lebkuchen erfüllte den Weihnachtsmarkt am Kastell der kleinen Stadt. Niemand konnte sagen, woran es lag, dass neben all den anderen Düften von Stollen, Bratwurst, Glühwein und gerösteten Mandeln der Duft seiner Lebkuchen über allem schwebte. Vielleicht waren es die sieben köstlichen orientalischen Zutaten, die für die Erschaffung des Lebens während der siebentägigen Schöpfung standen? Oder die Liebe, die Feinbäcker Gustav Schmolke bei der Herstellung seiner Schokoladen- und Elisenlebkuchen, seiner Lebkuchenmänner und -herzen, seiner Lebkuchenpralinen und seinem Lebkuchenkonfekt mit hineinbackte? So mancher Kollege versuchte hinter sein Geheimnis zu kommen, doch Gustav Schmolke ließ niemand in seine Backstube. Nicht nur zur Weihnachtszeit standen Lebkuchen bei ihm an oberster Stelle, nein, das ganze Jahr über backte er für Jahrmärkte und Stadtfeste, für Kindergeburtstage und Schulfeste. Gustav Schmolke war nicht nur ein Maler, der aus Zucker, Mandeln und Gewürzen die schönsten und köstlichsten Kunstwerke kreierte. Er war auch ein Dichter, der Botschaften, Sprüche und Weisheiten aus buntem, selbst gemachtem Zuckerguss auf seine Lebkuchenherzen spritzte. Sein 80 x 100 cm großes Lebkuchenherz mit den handgemachten Zuckerrosen und der silberweißen Zuckerschrift „Ich liebe dich! Willst du mich heiraten?“ war in der örtlichen Zeitung als die süßeste Form eines Heiratsantrages beschrieben worden. Lange Jahre hatte seine Frau Gerti das herrliche Backwerk ihres Mannes verkauft, bis sie vor drei BIBELLESEBUND

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