Die ganz kurze Weihnachtspredigt

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Die ganz kurze Weihnachtspredigt von Alfred Otto Schwede Es muss vor etwa siebzig Jahren gewesen sein, in meinem Heimatdorf, als ich noch zu meinem Vater in die Schule ging. Weihnachten kam und es war ein böses Weihnachten für mich. Mein Vater hatte in der Schule erklärt: „Wolfgang erhält dieses Jahr zur Strafe nichts zu Weihnachten!“ Zur Strafe? Was ich verbrochen hatte? Pech hatte ich gehabt, ein wertvolles Kirchenfenster mit der Gummischleuder beschädigt – ich, der Sohn des Lehrers und Organisten! Vater hatte wohl schwer zahlen müssen. Wahrscheinlich hat er noch etwas draufgelegt, um die Schande los zu werden. Er hatte mich furchtbar verdroschen, aber ich war ihm deswegen nicht böse. War nur froh, dass der erste Schrecken überstanden war. Weihnachten ohne Geschenke würde ich auch noch überstehen. Aber das ist für einen Knirps gar nicht so leicht. Ich merkte es bald. Die anderen erzählten mit hochroten Köpfen, wie sie zu Hause heimlich nachgeguckt hätten und was da alles für sie in den Kleiderschränken bereitläge. Im Eifer hatte ich mittun wollen – wenn es auch nur ein heißer Wunsch war, den ich aussprach: ein Paar Schlittschuhe mit geschliffener Gleitschiene. „Du kriegst doch diesmal nichts“, sagten die anderen höhnisch. So kam der Heilige Abend. Überall geheimnisvolles Tun. Hinter verschlossenen Türen wurde der Gabentisch für die kleinen Geschwister zurechtgemacht. Vater schmückte selbst den Baum. Den würde ich mir natürlich ansehen können. Aber seien wir BIBELLESEBUND

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