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M. Wogrolly-Domej, W. Pieringer
from Jahrbuch 2005
by bigdetail
Monika Wogrolly-Domej, Walter Pieringer
Bio-psycho-soziale Aspekte der „Alpin- und Höhenmedizin“
Bio-psycho-social aspects of alpine medicine
SUMMARY
The aim of this article is to delineate the presence and relevance of philosophical and prophylactic questions in alpine medicine, first as theoretical background and then on the basis of the alpine medical example of an individual with fear of heights. In modern hospitals, biology comes first; there are psychological approaches but they are definitely secondary. Philosophical approaches are generally non-existent. Medicine that has an anthropological and existentialphilosophical basis sees disease not just as a manifestation that is meaningless in and of itself, but as an indicator of personal cultural development. Disease as a biopsychosocial phenomenon involves not only individual bodily systems but the entire individual. Disease is understood as a "caused disorder" of an organ system, a necessary change in relation to the environment, a pathetic creation of life exploring for new life forms. Nonetheless, a good atmosphere for discussion alone is in danger of producing only shallow day-dreams. In and for medicine, good discussion requires complementary content and challenge through the established object-oriented approach. A number of questions of urgent interest in alpine medicine involving the phenomena of vertigo, fear of heights, altitude headache and altitude cough could, in the future, more likely be answered through alternative approaches. This would, however, require a change in paradigm in modern medical sciences. This would mean giving up on the established empirical, object-oriented approach that seeks to understand the individual reductionalistically on the basis of chemical and physical values, in favor of a differentiated view that would include an anthropological-holistic approach. Keywords: Anthropology, biopsychosocial approach, object-oriented approach, alpine medicine
ZUSAMMENFASSUNG
In der vorliegenden Arbeit werden die Präsenz und Relevanz von philosophischen und gesundheitsfördernden Fragen in der Alpinmedizin zunächst vor theoretischem Hintergrund und ferner am Beispiel einer Person mit Höhenschwin-
del aufgezeigt. Während die biologischen Ansätze vorrangig in modernen Krankenanstalten verankert und die psychologischen Zugänge zwar eher zweitrangig, aber institutionell vertreten sind, fehlen gesundheitsfördernde philosophische Zugänge in der gegenwärtigen Alpinmedizin generell. Erkrankung als biopsychosoziales Phänomen betrifft nicht allein einzelne Körpersysteme, sondern den ganzen Menschen. Krankheit wird verstanden als „verursachte Störung“ an einem Organsystem, nötige Wende im Bezug zur Umwelt, pathische Kreation des Lebens im Ausloten neuer Lebensformen. Krankheit wird demnach nicht nur als sinnleere Erscheinung, sondern als Wegweiser für persönliche Kulturentwicklung begriffen. In der Medizin und für die Medizin bedarf das schöne Gespräch ohne Zweifel der inhaltlichen Ergänzung und der Herausforderung durch die gegenwärtig etablierte objektorientierte Zugangsweise. Zahlreiche offene Fragen der „Alpinmedizin“ um ungeklärte Phänomene wie Höhenschwindel, Höhenangst und Höhenkrankheit, Höhenkopfschmerz und Höhenhusten können in Zukunft über weiterführende Erkenntnismethoden viel eher gelöst werden. Dazu ist allerdings ein Paradigmenwechsel auch in der Alpinmedizin angezeigt. Das zieht die Aufgabe eines rein empirisch-objektorientierten Erkenntniszuganges nach sich, zu Gunsten einer differenzierteren Sichtweise, die sich neben empirisch-analytischen auch phänomenologische, dialektische und hermeneutische Erkenntnismethoden zu eigen macht. Schlüsselwörter: Anthropologie, biopsychosozialer Ansatz, objektorientierter Ansatz, Alpinmedizin
EINLEITUNG
Die psychosomatische Medizin vertritt eine einheitliche, biopsychosoziale Krankheitstheorie und stellt gerade für die moderne „Alpinmedizin“ eine wachsende Herausforderung dar. Aus medizinhistorischer Sicht gilt als Gemeinsamkeit psychosomatischer Strömungen ein ganzheitliches Menschenbild, wonach der Mensch zugleich als Subjekt und Objekt erfasst wird. Historische Vertreter dieser Position sind Asklepios (geb. 1260 v. Chr.), Hippokrates (460377 v. Chr.), Hildegard von Bingen (1098-1179) und Theophrastus von Hohenheim, Paracelsus genannt, (1493-1541). Nach dem Begründer der medizinischen Anthropologie, Victor von Weizsäcker, liegt „Krankheit zwischen den Menschen und ist eine ihrer Verhältnisse und Begegnungsarten“. (1) Das Verständnis von Psychosomatik, Psychotherapie, medizinischer Anthropologie und Philosophischer Praxis (2) gründet sich heute auf den biopsychosozialen Ansatz, in dem Gesundheit, Krankheitszustand und Krankheit immer relative und multifaktorielle Ursachen haben. Von Weizsäcker verbindet in seiner Krankheitslehre naturwissenschaftliche und humanwissenschaftliche Ansätze. Das Kern-
stück seiner Wissenschaft ist „dass ich meine Krankheit nicht nur bekomme und habe, sondern auch mache und gestalte, dass ich mein Leiden nicht nur dulde und fortwünsche, sondern auch brauche und will.“ (1) Als Grunddimensionen der menschlichen Existenz gelten nach dieser Sicht • Die zeitlose menschliche EXISTENZ • Die aktuelle persönliche STRUKTUR • Die historisch bestimmte KONSTITUTION • Die zukunftsweisende FUNKTION (Tab. 1), (3) Diese primären Dimensionen eröffnen eine anthropologische bzw. biopsychosoziale Ordnung menschlicher Erkrankungen.
DIE BEIDEN HAUPTAXIOME DER MEDIZIN
Platon sagt in seinem Dialog Charmides: „Siehst du, Sokrates, eben deswegen sind die hellenischen Ärzte über so mancherlei Krankheit unmächtig, weil, wenn zu einem von ihnen gehst mit einem Augenleiden, um ein Beispiel zu geben, sie sofort beginnen zu trennen, das Auge vom Kopf, den Kopf vom Rumpf, den Rumpf von den Gliedern, die Seele vom Körper, aus welcher doch überhaupt erst Gesundheit und Krankheit dem Menschen wird. Deswegen Sokrates: Wenn du zu einem Arzt gehst, mit welcher Krankheit auch immer es sei, und er fängt sofort wieder an zu trennen, so meide einen solchen Arzt. Bleibe bei ihm einzig, wenn er dich eingeladen hat zu einem schönen Gespräch.“ (4) Damit wurde schon in der Antike die Bedeutung der beiden Hauptaxiome der Medizin betont. Man unterscheidet das naturwissenschaftliche Axiom vom humanwissenschaftlichen Axiom. Ersteres betrachtet den Menschen als Objekt und Gegenstand der Welt. Daraus entspringen die empirisch-analytischen Erkenntnismethoden, die Krankheit als Störung und Defekt erfassen und sich im gegenwärtigen klinischen Alltag weitgehend durchgesetzt haben. (5) Aus dem humanistischen Axiom gehen die phänomenologischen Methoden hervor, wonach jede Erkrankung ein Ringen nach Sinn ist. Der Mensch ist als Subjekt ein Symbol des Kosmos.
BIOPSYCHOSOZIALE ERKENNTNISMETHODEN
Hahns Methodenkreis (Abb. 1), (6) gilt in der Medizinischen Anthropologie als einschlägiges Modell der möglichen Erkenntnismethoden im Arzt-PatientenAngehörigen-Verhältnis. In der modernen Klinikmedizin, aber auch in der überwiegend extramuralen „Alpinmedizin“ beansprucht der empirisch-analytische Erkenntniszugang die alleinige Domäne von Wissenschaftlichkeit und Objektivität. Die empirisch-analytische Erkenntnismethode, die sich auf die Faktoren „Untersuchung – Experiment – Datenauswertung“ stützt, gilt auch dem medi-
zinischen Laien gegenwärtig als die objektive und seriöse Medizin, wenngleich von Patientenseite das mangelnde Vorkommnis einer persönlich-intentionalen Bezogenheit des Arztes und mangelnde Transparenz physikalisch-chemischer Daten sowie des medizinwissenschaftlichen Fachjargons beklagt werden. Über den empirisch-analytischen Erkenntnisweg nähert sich der Arzt dem Patienten und dessen Krankheit über das „Defekt-Reparaturmodell“. (7) Krankheit wird als möglichst rasch und effizient zu beseitigender Schaden begriffen. Die phänomenologische Methode beruht auf einer unvoreingenommenen Wesensschau. Phänomenologische Erkenntnis („Diagnose“) eröffnet ein Gesamtbild des „homo patiens“ als Person. Erkrankungen sind aus dieser Sicht pathische Auslotungen der persönlichen Existenz und kritische Fragen nach dem individuellen Lebenssinn. Die humanistische Idee von Beck „Krankheit ist Selbstheilung“ sei in diesem Zusammenhang exemplarisch für den phänomenologischen Erkenntniszugang genannt. (8) Die dialektische Methode, von Heraklit von Ephesos (550-480 v. Chr.) und dem Arzt Empedokles (483-423) in die Philosophie und Medizin eingeführt und von Kant und Hegel kritisch differenziert, hat den Modus der wertenden und prüfenden Auseinandersetzung. Sie beruht auf der zwischenmenschlichen Bezogenheit des Subjektes Arzt auf das Subjekt Patient und findet in der heutigen Medizin kaum Beachtung, wiewohl sie dauernd angewendet wird. (9) Bei dieser Methode bewegen sich Arzt und Patient in best case auf einer gleichwertigen Ich-und-Du-Ebene. (10) Der hermeneutische Erkenntniszugang konzentriert sich schließlich auf das Interpretieren und Verstehen zuvor gesammelter Daten.
MODELLFALL HÖHENSCHWINDEL
Im Folgenden seien die unterschiedlichen Erkenntnismethoden am Fallbeispiel einer an Höhenschwindel leidenden weiblichen Versuchsperson praktisch aufgezeigt. Frau A, weiblich, deutsche Staatsbürgerin, 37 Jahre alt, ausgebildete Psychotherapeutin, seit 2 Jahren mit einem Alpinsportler verheiratet, seit ihrer Jugend in unterschiedlichem Ausprägungsgrad an Höhenschwindel leidend. Frau A sucht im Mai 2003 zum ersten Mal eine Philosophische Praxis auf. Sie klagt über Episoden von Höhenschwindel, die sie an weiteren Fortschritten beim mit ihrem Mann gemeinsam betriebenen Alpinsport (Bergsteigen, Mountainbiken) hindern würden. Es sei schon so weit gekommen, dass sie, die seit Beginn ihrer Ehe gern mit ihrem Mann in die Berge gegangen sei, Touren auf halber Strecke abgebrochen habe, was ihr immer sehr Leid getan habe. Ihr Mann sei ihr anfangs noch entgegen gekommen, habe jedoch zusehends weniger Verständnis gezeigt. Er habe ihre „Panikattacken“ am Berg mit einer Motivations-
schwäche begründet, was Frau A heftig dementiert. Im Gespräch erzählt Frau A, dass der durch ihren Mann entstandene Druck und seine Erwartungshaltung nach in den ersten Monaten erfolgreich absolvierten Bergtouren massiv angestiegen seien und sie diesem Druck nicht standgehalten habe. Trotzdem sie selbst psychotherapeutisch gebildet sei, könne sie sich in dieser Situation nicht helfen. Die Angst vor wiederkehrendem Kontrollverlust auf ausgesetzten Steigen und bei Auftreten von Höhenschwindel habe bereits zu einer Angst vor der Angst und sie in den „Teufelskreis der Angst“ geführt. (Abb. 2) Sie sei in ein Vermeidungsverhalten verfallen, wie bei Angstpatienten häufig, und begleite ihren Mann seit geraumer Zeit nicht mehr in die Berge. Sie fügt hinzu, dass sie sich wünsche, eines Tages autonom in die Berge zu gelangen. Frau A eindimensional über ihre in der Höhe und unter Stressfaktoren („ausgesetzter Steig“, „schnell voran schreitender Begleiter“, „Schlechtwetter“, „Müdigkeit“, „Nervosität“) veränderten physiologischen Parameter wie Blutdruck- und Herzfrequenzanstieg, Mundtrockenheit, Kopfschmerz und psychische Phänomene wie subjektives Globusgefühl, Kontrollverlustgefühl, Hyperventilation zu begegnen, ist nach Auffassung von Vertretern der empirisch-analytischen Erkenntnismethode die einzig wissenschaftstheoretisch fundierte Erkenntnismethode. Nachdem bereits medizinisch abgeklärt wurde, dass Frau A organisch nichts fehlt und sie den Strapazen einer Bergbesteigung durchaus gewachsen ist, nähert sich die Philosophin Frau A phänomenologisch, dialektisch und hermeneutisch im prozesshaften Diskurs. Dabei zeigt sich, dass Frau A’s Beziehung zu ihrem im Alpinsport weitaus überlegenen Mann ein möglicher Kausalfaktor der physiologischen Symptome des Höhenschwindels sein mögen. Zu prüfen ist diese Hypothese auf dem fortgesetzten dialektischen Erkenntnisweg. Schließlich werden die gewonnenen empirischen, dialektischen und phänomenologischen Daten einem anschließenden hermeneutischen Interpretations- und Verstehensprozess unterzogen. Ganzheitlich über die beschriebenen vier Erkenntnismethoden kann Frau A’s Höhenangstsymptomatik und ihrem Höhenschwindel hinreichend begegnet und eine Lösung angestrebt werden.
EINSICHT
Auf Grund der während mehrerer Gesprächsphasen gewonnenen phänomenologischen, dialektischen, empirisch-analytischen und hermeneutischen Erkenntnisdaten wird Frau A empfohlen, in einer im Leistungsniveau gleichwertigen Gruppe auf autonomer Basis („freiwillig“, „eigenmotiviert“) Alpinsport zu betreiben. Dadurch werden Erwartungsdruck und Leistungsdruck abgebaut, und Frau A kann jeder Zeit die Tour abbrechen und umkehren, ohne sich dadurch (einem von ihrer Leistung enttäuschten Begleiter gegenüber) morali-
sche Schuld aufzuladen. Frau A befolgt den Rat und kehrt nach drei Wochen gestärkt und ermutigt in die Philosophische Praxis zurück. Sie absolviert regelmäßig Wanderungen in der Gruppe und nimmt nur noch bei Schlechtwettereinbruch oder starker Ermüdung Symptome wie bei ihren vormaligen Höhenschwindelattacken an sich wahr. Sie gibt an, diese Episoden in der Gruppe besser zu überstehen, da sie sich hier akzeptiert und nicht moralisch abgewertet fühlt. Es bedarf noch weiterer Sitzungen, um Frau A so weit zu stärken, dass sie mit ihrem Mann über ihre Erkenntnisse spricht und einer gemeinsamen Bergtour der Weg geebnet werden kann. Dieses Beispiel zeigt die Wichtigkeit eines ganzheitlichen Erkenntniszuganges gerade im extramuralen alpinmedizinischen Bereich, wo neben physikalischen auch psychologische, situative und zwischenmenschlich-intentionale Faktoren in besonderer Weise zum Tragen kommen.
Primäre Erkenntnismethoden Pathische Dimensionen Themen der Kultur Phänomenologische EM Existenz Ästhetik Dialektische EM Struktur Ethik Empirisch-analytische EM Konstitution Ökonomie Hermeneutische EM Funktion Erotik
Tab. 1 Gegenüberstellung der vier Erkenntnismethoden (EM) und basalen Themen des Lebens (6)
Abb. 1 Methodenkreis von P. Hahn (1988), (4)
Abb. 2 „Teufelskreis der Angst“ (aus Margraf, Panik Springer-Verlag, 2. Auflage)
LITERATUR
(1) Weizsäcker, Victor. Der Gestaltkreis. Thieme (1940), in: Gesammelte
Schriften, Bd. 4 (1986-88) (2) Achenbach. Gert. Philosophische Praxis. Verlag für Philosophie. Schriftenreihe zur Philosophischen Praxis, Bd. 1 (1984) (3) Pieringer, Walter. Eine anthropologische Krankheitsordnung. Ärztliche
Praxis und Psychotherapie 10: 5 (1988) (4) Platon. Charmenides. Reclam (1980) (5) Weizsäcker, Victor. Gesammelte Schriften. 9 Bde. Suhrkamp (1986-88) (6) Hahn, Peter. Ärztliche Propädeutik. Springer (1988) (7) Bräutigam, W.; Christian, P. Psychosomatische Medizin. Thieme (1975) (8) Beck, D. Krankheit als Selbstheilung. Insel (1981) (9) Dörner, Klaus. Der gute Arzt. Lehrbuch der ärztlichen Grundhaltung.
Schattauer (2001) (10) Buber, Martin. Ich und du. Schneider (1983)